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Um eine Philosophie des Guten: 14. Der naturalistische Fehlschluss

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Die Frage “Was ist gut?” ist zweideutig. Sie kann erstens den Sinn haben: “Welche Dinge sind es, denen wir die Eigenschaft ‘gut’ zuschreiben?” Sie kann zweitens den Sinn haben: “Um was für eine Eigenschaft handelt es sich dabei?”

Die Frage “Was ist gut?” kann also einerseits verstanden werden als die Frage nach dem Träger des Guten, andererseits als die Frage nach der Bedeutung des Wortes “gut”.

Der naturalistische Fehlschluss, den Moore meint, betrifft allein die zweite Frage. Er gibt darauf eine falsche Antwort. Wenn ich z.B. sage: “Freude ist gut”, dann ist diese Aussage als Antwort auf die erste Frage richtig, als Antwort auf die zweite Frage falsch. Sie ist richtig, denn wer wollte bestreiten, dass Freude etwas Gutes ist? Als Antwort auf die zweite Frage ist sie falsch, denn ich will mit “Freude ist gut” ja sicherlich mehr aussagen als: “Freude ist Freude.” Aber was will ich eigentlich von ihr aussagen, wenn ich von ihr das Gute prädiziere? Wie lautet die Antwort auf die zweite Frage? Da wird nun die Auskunft Moores erbärmlich spärlich: “Wenn  ich  gefragt  werde ‘Was  ist  gut?’,  so  lautet  meine  Antwort,  dass  gut  gut  ist,  und  damit  ist  die  Sache  erledigt.  Oder  wenn  man  mich  fragt, ‘Wie  ist  gut  zu  definieren?’,  so  ist  meine  Antwort,  dass  es  nicht  definiert  werden  kann,  und  mehr  ist  nicht  darüber  zu  sagen” (Principia Ethica, Stuttgart 1984, S. 36).

Wie ich schon in Folge 12 geschrieben habe, liegt der entscheidende Fehler Moores in der fehlenden Unterscheidung zwischen dem moralisch Guten und dem außermoralisch Guten. Unter dem moralisch Guten verstehe ich jene Gutheit des Willens (und in abgeleiteter Form auch, wie in Folge 10 beschrieben, der Handlung), die Kant in seinem berühmten Anfangssatz der “Grundlegung zur Metaphysik der Sitten” meinte: “Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.” Auf diese Gutheit treffen die Aussagen Moores zu: Sie kann nicht definiert werden und darf nicht mit einer natürlichen Eigenschaft identifiziert werden. Schauen wir uns das näher an.

Peter Schaber meint Moore der Vieldeutigkeit überführen zu können (Naturalistischer Fehlschluss, in: Düwell/Hübenthal/Werner, Handbuch Ethik, Stuttgart 2011, S. 454-456). Unter dem naturalistischen Fehlschluss verstehe Moore drei “unterschiedliche Dinge”: Demgemäß begehe man einen naturalistischen Fehlschluss, “wenn man a) das Wort gut definiert; b) wenn man gut mit einer bestimmten Eigenschaft, auf die wir mit einem anderen Ausdruck auch Bezug nehmen können, gleichsetzt und c) wenn man die Meinung vertritt, gut sei eine natürliche oder eine bestimmte übernatürliche Eigenschaft.”

In Wirklichkeit ist der Begriff des naturalistischen Fehlschlusses bei Moore eindeutig. Es ist ein und derselbe Fehler, der mit diesen drei Aspekten zusammenhängt. Lediglich der Aspekt c), die Nichtnatürlichkeit der Eigenschaft “gut”, ist nach Meinung Moores für die Bestimmung des naturalistischen Fehlschlusses unerheblich: Selbst wenn gut “ein natürlicher Gegenstand wäre, so würde dadurch weder die Eigenart des Fehlschlusses geändert, noch seine Bedeutung im geringsten geschmälert. Alles, was ich über ihn gesagt habe, behielte seine Gültigkeit; nur seine Bezeichnung wäre nicht so angemessen” (S. 44 f). W. K. Frankena, das sei am Rande bemerkt, zieht in seiner berühmten Gegenargumentation gegen Moore daraus die Konsequenz, von einem Definitions-Fehlschluss zu sprechen. Dennoch spielt die Nichtnatürlichkeit der Eigenschaft “gut” im Gedankengang Moores eine große Rolle, weil sie die Differenz zu den anderen Eigenschaften vertieft, das Identifikationsverbot verstärkt und die Verbindung zum Humeschen Gesetz herstellt. Denn die Differenz zwischen Moores Natürlichkeit und Nichtnatürlichkeit ist letztlich die zwischen Sein und Sollen. Das aber gilt, was Moore nicht hinreichend erkennt, nur für den moralisch relevanten Begriff des Guten.

“Gut” ist, so meint Moore, eine originäre, einfache, nicht zusammengesetzte Eigenschaft wie z.B. die Farbe gelb. Deshalb kann “gut” nicht definiert werden durch das Aufzählen von Teilen, aus denen es sich zusammensetzen würde. “Gut” gehört zu den Begriffen “jener einfachen Art, aus denen sich Definitionen zusammensetzen und bei denen die Möglichkeit weiteren Definierens endet” (S. 37). Moore bringt als Gegenbeispiel eine Chimäre. Einen solchen komplexen Gegenstand kann ich durch Angabe seiner Teile und deren Anordnung beschreiben und ihn auf diese Weise jemandem, der nicht weiß, was eine Chimäre ist, näherbringen. Einem Blinden dagegen, der nie “gelb” gesehen hat, kann ich die Farbe nicht auf diese Weise näherbringen. Entweder man sieht “gelb” und weiß deshalb, was “gelb” ist, oder man sieht es nicht. So verhält es sich auch mit dem Wort “gut”. Das wäre also Aspekt a).

Wenn ich über Dinge, z.B. über die Lust, urteile, sie seien gut, dann sind solche Urteile, wie Moore richtig sieht, immer gemeint als synthetische Urteile, nicht als analytische. Das heißt: Ich erhebe den Anspruch, etwas über sie auszusagen, was über die bloße Tautologie “Lust ist Lust” oder “Lust ist lustvoll” hinausgeht. Das bedeutet aber umgekehrt: Ich kann “gut” nicht durch die Lust definieren. Wenn ich es könnte, hätte “gut” gegenüber “Lust” keinen Bedeutungsüberschuss, der das Urteil “Lust ist gut” vor einem tautologischen Charakter bewahren würde. Darin sieht Moore das ganze Entlarvungspotenzial seiner Entdeckung: “Wenn ich recht habe, dann kann uns niemand unter dem Vorwand der ‘eigentlichen Bedeutung des Wortes’ Axiome weismachen wie ‘Die Lust ist das einzig Gute’.” (S. 36). Diese Erkenntnis verbietet uns Aspekt b), nämlich die Identifizierung der Eigenschaft “gut” mit ihrem Träger. Ebenso verbietet sie die Identifizierung mit einer anderen Eigenschaft desselben Trägers. Moore spricht von natürlichen Eigenschaften. Einige Interpreten hängen sich an diesem Ausdruck auf, und tatsächlich sind die Erklärungsversuche Moores bisweilen holprig und ungenau, etwa wenn er meint, natürlich sei das, was in der Zeit existiert (S. 78). Der Sache nach kann man sagen, dass dieses Identifikationsverbot in Bezug auf jede empirische Eigenschaft gilt, die einer Beschreibung unter Umgehung des Wortes “gut” zugänglich ist. Mit anderen Worten: Da “gut” eine originäre, nicht-natürliche Eigenschaft ist, kann sie nicht identisch sein mit einer Eigenschaft, die sich darin erschöpft, Gegenstand einer Deskription zu sein. Das ist es, was Moore meint, wenn er der Eigenschaft “gut” die Natürlichkeit abspricht: Es handelt sich nicht um einen Teil der empirischen Wirklichkeit, die dem Zugriff einer wissenschaftlichen Analyse und Beschreibung offensteht. Hier zeigt sich übrigens die Verwandtschaft mit dem Humeschen Gesetz, das die Unmöglichkeit der Ableitung einer normativen Aussage aus bloß deskriptiven Aussagen behauptet. Die natürliche Eigenschaft, die Gegenstand einer Deskription ist, ist eben ipso facto dadurch eine andere Eigenschaft als jene, die die Bedeutung des Wortes “gut” ausmacht. Selbst wenn beide Eigenschaften immer zusammen auftreten würden, d.h. wenn ihre Begriffe die gleiche Extension hätten, dürften sie nicht miteinander identifiziert werden. Das heißt: Selbst der Erweis der gleichen Extension zweier Begriffe überführt sie nicht der Bedeutungsgleichheit. Wenn es z.B. eine bestimmte Art von Lebewesen gäbe, die saphirblau und dreiköpfig wären, und wenn es außer diesen Lebewesen keine anderen Dinge gäbe, die saphirblau oder dreiköpfig wären, dann hätten die Begriff “saphirblau” und “dreiköpfig” dieselbe Extension. Sie bezögen sich exakt auf ein und dieselbe Referentenmenge. Trotzdem bliebe die Eigenschaft “saphirblau” eine völlig andere Eigenschaft als die Dreiköpfigkeit, und zwar auch dann, wenn diese beiden Eigenschaften einander bedingen würden, z.B. in dem Sinne, dass die Dreiköpfigkeit die Ursache der Saphirbläue wäre. Jeder, der über dreiköpfige Wesen spricht, würde über dasselbe sprechen wie jener, der über saphirblaue Wesen spricht. Trotzdem würde das den Unterschied der beiden Eigenschaften nicht aufheben, und man könnte keine der beiden Eigenschaften im Wittgensteinschen Sinne herauskürzen. Dass dreiköpfige Wesen saphirblau sind, wäre kein analytisches Urteil, sondern ein synthetisches Urteil a posteriori.

Natürlich hinkt dieser Vergleich. Der Vergleichspunkt ist, dass die Identität der Referentenmenge keinen Schluss auf die Identität der auf sie sich beziehenden Begriffe erlaubt. In diesem Punkt erfüllt der Vergleich seinen Zweck. Er hinkt allerdings bezüglich der Art des Unterschieds der Eigenschaften. In meinem Beispiel handelt es sich um zwei natürliche Eigenschaften. Der Unterschied zwischen “gut” und den von Moore sogenannten natürlichen Eigenschaften ist dagegen der zwischen apriori und aposteriori im Sinne Kants. Das gilt allerdings nur für den moralischen Begriff des Guten, was Moore seinerseits nicht gesehen hat. Dass die Achtung vor dem Sittengesetz einen guten Willen konstituiert, ist ein synthetisches Urteil a priori.

Weil also jedes Ding das ist, was es ist, und nicht ein anderes Ding, und weil das mit dem Wort “gut” bezeichnete Ding eine einfache, originäre Eigenschaft ist, kann diese Eigenschaft nicht definiert werden und darf sie nicht mit ihrem Träger oder einer natürlichen Eigenschaft identifiziert werden. Es handelt sich beim naturalistischen Fehlschluss also nicht um drei “unterschiedliche Dinge”. Schaber beruft sich dabei übrigens auf Thomas Baldwin (G. E. Moore, London/New York 1990). Der spricht allerdings nur von drei “accounts of the naturalistic fallacy” (S. 70).

Oft, aber nicht immer ist es der naturalistische Fehlschluss, der hinter einem Verstoß gegen das Humesche Gesetz steht. Moore selber versucht z.B. nachzuweisen, dass das bei der evolutionistischen Ethik Herbert Spencers (1820-1903) der Fall sei. Die Verletzung des Humeschen Gesetzes besteht in der Annahme, “dass der Verlauf der ‘Evolution’, insofern er uns die Richtung angibt, in der wir uns tatsächlich entwickeln, eben dadurch und deshalb auch die Richtung angibt, in der wir uns entwickeln sollen” (Principia Ethica, Stuttgart 1984, S. 84 f). Und die Ursache dieses Fehlers sieht er in Spencers naturalistischem Fehlschluss, wenn “Spencer das Erreichen ethischer Rechtfertigung mit der Tatsache des Mehr-entwickelt-Seins identifiziert” (S. 89).

Es gibt aber auch Verstöße gegen das Humesche Gesetz, die nicht im naturalistischen Fehlschluss ihre Ursache haben. Das gilt z.B. für die in der letzten Folge erwähnte Meinung Epiktets über den natürlichen Bartwuchs des Mannes, die Schockenhoff als angebliches Beispiel für den naturalistischen Fehlschlusses anführt. Das Brückenprinzip, aufgrund dessen Epiktet vom Sein des Bartwuchses auf sein Sollen schließt, ist der Gedanke der Gottgewolltheit. Erst wenn Epiktet aus der Naturwüchsigkeit eine Ideologie machen würde dergestalt, dass sie zum Definiens des Begriffs des Guten avancieren würde, könnte man im strengen Sinn von einem naturalistischen Fehlschluss sprechen. Tatsächlich liegt der Fehler aber woanders, nämlich in der Unhaltbarkeit des vorausgesetzten Brückenprinzips.

Oft steckt hinter der Verletzung des Humeschen Gesetzes einfach nur der unreflektierte Gebrauch eines Brückenprinzips, über dessen Legitimität man sich keine Gedanken macht. Man lässt sich von einem interessenbasierten Bauchgefühl leiten, z.B. wenn argumentiert wird, auch im Tierreich käme Homosexualität vor. Würde solche Argumentation verfangen, wäre es von überlebenswichtigem Interesse der Männer, radikale Feministinnen vor der Kenntnis der Schwarzen Witwe zu bewahren: Bei dieser Spinnenart ist es Sitte, dass das Weibchen nach der Paarung seinen männlichen Partner frisst.

Die Serie "Um eine Philosophie des Guten" erscheint alle 14 Tage am Dienstag um 9 Uhr bei CNA Deutsch. 

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