Eine Stärke der phänomenologischen Methode liegt in der Rettung der Phänomene. Diese werden nicht vorschnell in etwas anderes uminterpretiert. Vielmehr bemüht sich der Phänemonologe, sie möglichst genau in ihrem eigenen Gegebensein zu erfassen. Er macht sie nicht durch eine Vereinnahmung ins eigene philosophische System unschädlich, sondern respektiert sie in ihrer Eigenart, lässt sie gewissermaßen sprechen und sich von ihnen belehren. Von daher war die phänomenologische Methode die ideale Voraussetzung für die Entwicklung einer Wertethik. Zu ihren wichtigsten Charakterzügen gehört die unbedingte intellektuelle Redlichkeit, "alle Dinge", wie Edith Stein sagt, "vorurteilslos ins Auge [zu] fassen, alle ‘Scheuklappen’" abzuwerfen. Den Wert im Hildebrandschen Sinne ohne Scheuklappen ins Auge zu fassen bedeutet auch, ihn vor einer ihn verfremdenden Systematisierung zu schützen. Das in sich Wertvolle kann weder auf ein Objekt aristotelischen Strebens oder neuthomistischer Seinsneigung reduziert werden, noch auf eine Projektion eigener Gefühle und Wertungen. Letzteres ist eine Theorie, die sehr weit verbreitet ist. Der Soziologe Theodor Geiger (1891-1952) zum Beispiel hielt Werturteile für illusionäre Objektivierungen subjektiver Empfindungen.

Genau eine solche Theorie nahm C. S. Lewis als Aufhänger für seine Reflexionen in seinem wohl philosophischsten Werk, der "Abschaffung des Menschen": Lewis greift auf die Erzählung in einem Schullehrbuch zurück, in der zwei Touristen vor einem Wasserfall stehen. Einer der beiden bezeichnet ihn als erhaben. Dazu schreiben die Schulbuchautoren: "Als der Mann sagte Das ist erhaben, machte er scheinbar eine Feststellung über den Wasserfall. In Wirklichkeit aber äußerte er sich nicht über den Wasserfall, sondern über seine eigene Empfindung. Im Grunde sagte er Ich fühle etwas, das ich im Geiste mit dem Wort ‘erhaben’ verbinde, kurz: Ich empfinde erhabene Gefühle." 

Lewis zeigt im Anschluss, wie durch eine solche Auffassung die Dinge auf den Kopf gestellt werden. Die Erhabenheit ist dann nicht mehr eine Qualität des Wasserfalls, sondern ein Gefühl, nicht mehr ein Wert, sondern Ausdruck einer Wertung. Werturteile beschreiben folglich nicht mehr die Wirklichkeit, sondern den eigenen Gemütszustand. Die Wirklichkeit wird entwertet, Werturteile ihrer Wahrheitsfähigkeit beraubt. "Erhabenheit" ist ein ästhetischer Wert. Gefährlich wird die Theorie, wenn sie auf moralische Werte angewandt wird. Dann wird aus einem Verbrechen, das abscheulich ist, ein neutrales Geschehen, auf das wir bloß mit Abscheu reagieren, weil wir von der Evolution oder der Gesellschaft so konditioniert worden sind. 

Die Idee, die Werte das sein zu lassen, was sie sind, stand der Sache nach auch hinter einem epochemachenden Werk, das G. E. Moore (1873-1958) 1903 veröffentlichte: "Principia Ethica". Ihm stellte Moore als Motto das Wort Bischof Butlers voran: "Jedes Ding ist, was es ist, und nicht ein anderes Ding." Diesen Grundsatz wandte er mit aller Konsequenz auf das an, was wir als "gut" bezeichnen. "Gut" ist für ihn eine originäre Eigenschaft wie etwa die Farbe "gelb". Sie ist undefinierbar. Denn jede Definition, die auf etwas Empirisches zurückgreift, würde sie mit dieser empirischen Eigenschaft identifizieren. De facto liefe diese Identifizierung darauf hinaus, sie durch jene Eigenschaft zu ersetzen. Und damit wäre das Gute selber zum Verschwinden gebracht. Es wäre naturalisiert. Moore nannte dies den "naturalistischen Fehlschluss". Nachdem lange Zeit Moores Warnung vor dem naturalistischen Fehlschluss fast unangefochten anerkannt war, gibt es seit einiger Zeit vermehrt Versuche, ihn zu rehabilitieren und hinter Moores Einsicht zurückzufallen. Meistens liegt diesem Rehabilitierungsversuch die Verwechslung dessen, wovon das Gutsein prädiziert wird, mit der Bedeutung des Wortes "gut" zugrunde. Der

Wert wird mit seinem Träger verwechselt. Natürlich ist es z.B. immer gut, dem Gemeinwohl zu dienen. Aber der Wert des Gutseins besteht nicht in diesem Dienst, denn es wird nicht nur von Handlungen im Dienste des Gemeinwohls, sondern auch von anderen Handlungen, ja sogar von bloßen Willensakten und inneren Gesinnungen ausgesagt. Handlungen sind aufgrund bestimmter Eigenschaften Träger des Gutseins, aber das Gutsein selber ist von diesen Handlungen und ihren Eigenschaften verschieden. Gutsein ist ein eigenes, irreduzibles Phänomen. Das hatte Moore klar erkannt, und diese Erkenntnis hat er mit der Phänomenologie gemeinsam, die sozusagen darauf spezialisiert ist, solche Phänomene zu erkennen, sie in ihrer Eigenart gelten zu lassen und zu beschreiben. 

Der entscheidende Fehler, den Moore begangen hat, lag in seiner Unterlassung, das moralisch Gute vom außermoralisch Guten zu unterscheiden. In der Aussage, der Pudding sei gut, hat "gut" eine andere Bedeutung als in der Aussage, Handlungen der Nächstenliebe seien gut. Im ersten Fall bedeutet "gut": Der Pudding schmeckt mir. Es handelt sich um eine Eigenschaft des Puddings, die nicht unabhängig von ihrer Relation auf meine Wahrnehmung besteht. Die Tat der Nächstenliebe dagegen hat ihren moralischen Wert in sich, unabhängig davon, ob sie mir gefällt oder nicht. Wenn sie mir nicht gefällt, liegt das Problem bei mir. Für den Geschmack des Puddings trifft die Bemerkung David Humes zu "Schönheit ist keine Eigenschaft, die den Dingen an ihnen selbst zukommt; sie existiert lediglich im Geiste dessen, der die Dinge betrachtet", verdichtet in dem Sprichwort "Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters". Für die Schönheit einer guten Tat gilt das Gegenteil: Sie liegt ganz in ihr selbst. Und wenn ich als Betrachter diese Schönheit nicht zu erkennen und zu würdigen weiß, weist dies auf eine Abstumpfung meines moralischen Empfindens hin, auf das, was Ethiker Wertblindheit nennen. Der moralische Wert existiert nicht nur im Auge des Betrachters.

Die Serie "Um eine Philosophie des Guten" erscheint alle 14 Tage am Dienstag um 9 Uhr bei CNA Deutsch. 

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