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"Papst Pius XII. hat zur Schoah keineswegs geschwiegen"

Papst Pius XII. im Jahr 1939
Dr. Michael Hesemann

Nicht nur Forscher blicken mit Spannung auf diesen Termin: Am 2. März 2020 öffnet der Vatikan seine Archive für die Jahre 1939 bis 1958. Der deutsche Kirchenhistoriker Hubert Wolf hat aus diesem Anlass in einem Interview mit der "Stuttgarter Zeitung" am 8. Oktober den Vorwurf gegen den damaligen Papst Pius XII. wiederholt, dass dieser "geschwiegen" habe über den Völkermord der Nazis an den Juden.  Im Gespräch mit CNA Deutsch widerspricht der Historiker und Autor Michael Hesemann dieser Einschätzung deutlich – und verrät, was er sich von der Öffnung der Archive erhofft.

Herr Dr. Hesemann, hat der Papst einfach nur über den Holocaust geschwiegen?

MICHAEL HESEMANN: Papst Pius XII. hat zur Schoah keineswegs geschwiegen. Er hat sie in drei öffentlichen Ansprachen, nämlich am 1. August 1941, am 24.  Dezember 1942 und am 2. Juni 1943, angesprochen. In der ersten Ansprache, die der Vatikan-Archivar Dr. Johan Ickx erst vor anderthalb Jahren veröffentlichte, nannte der Papst "die Behandlung, die die Juden erleiden" einen "großen Skandal", gegen den er ausdrücklich protestierte: "In Deutschland werden die Juden ermordet und auf brutale Weise misshandelt … Wie kann ein Christ solche Taten hinnehmen." In seiner zweiten Ansprache zu Weihnachten 1942 bestätigte Pius XII. die Erklärung der Alliierten von der Vorwoche, dass "Hunderttausende, ohne eigene Schuld, manchmal nur wegen ihrer Volkszugehörigkeit und Rasse, dem Tod geweiht … sind." Das wiederholte er am 2. Juni 1943, als er von "denjenigen" sprach, "die wegen ihrer Nationalität oder wegen ihrer Rasse von größerem Unheil und schwereren Schmerzen gequält und die manchmal sogar, ohne eigenes Verschulden, zur Ausrottung bestimmt sind." Mit diesen drei Erklärungen äußerte sich der Papst dreimal häufiger zur "Endlösung", als die Alliierten es taten, die es bei ihrer Erklärung vom 17. Dezember 1942 beließen, auch nachdem ihre Flieger im Sommer 1944 sogar Luftaufnahmen der Todesfabrik Auschwitz samt rauchender Krematorien schossen und damit die Berichte von entflohenen KZ-Insassen bestätigt sahen. Geschwiegen hat der Papst lediglich zwischen September 1943 und Juni 1944, als Rom von den Deutschen besetzt war und Hitler Befehl erteilt hatte, beim nächsten öffentlichen Protest den Vatikan zu stürmen und den Papst entweder zu verschleppen oder zu ermorden. Dabei ging es ihm nicht darum, sein Leben zu schützen. Aber wer hätte sich dann für die verfolgten Juden einsetzen können? Allein in Rom überlebten Dank der Initiative Pius XII. 6500 von 8000 Juden – fast 5000 waren in Klöstern und im Vatikan versteckt. Sie wären den Nazis im Fall eines Protestes ausgeliefert gewesen. Hinzu kommt: Proteste nutzten nichts, denn sie provozierten Hitler, den Wahnsinnigen, nur zu einer Verschärfung der befohlenen Maßnahmen. Die einzige Möglichkeit, Juden zu retten, waren diplomatische Interventionen hinter den Kulissen, speziell bei Hitlers Vasallenstaaten, etwa Ungarn, Rumänien, Bulgarien, der Slowakei. Dort wurden immer wieder Deportationen abgesagt oder zumindest aufgeschoben, wenn der Heilige Stuhl sich für die Juden engagierte. Insgesamt, so weise ich in meinem Buch "Der Papst und der Holocaust" nach, verdankten rund 970.000 Juden ihr Überleben den diversen Initiativen Pius XII. und der katholischen Kirche!

Hubert Wolf erhebt einen weiteren Vorwurf – Zitat: "Warum hat er [Pius XII.] von 1945 bis 1958 geschwiegen, als es vollkommen gefahrlos gewesen wäre, sich zu äußern? Warum hat er keinen einzigen Satz dazu gesagt?" – Ihre Einschätzung?

Es ist erschreckend, wie schlecht informiert ein Professor für Kirchengeschichte sein kann. Pius XII. hat direkt nach dem Krieg mehrfach den Holocaust thematisiert, aber nur 1945. So sprach er am 2. Juni 1945 vom "satanischen Gespenst des Nationalsozialismus", der sich "sogar die raffiniertesten wissenschaftlichen Methoden nutzbar gemacht hat, um zahllose unschuldige Menschen zu quälen und auszumerzen." Am 29. November 1945 empfing er eine Delegation von 79 jüdischen KZ-Überlebenden, die ihm für seinen Einsatz danken wollten. Dort sprach er vom "Abgrund der Zwietracht, des Hasses und des Wahnsinnes dieser Verfolgung, die zurückgeht auf den Einfluss einer falschen und intoleranten Doktrin … die so viele Angehörige ihres Volkes und ihrer Familien verschlang und unzählige unschuldige Opfer … forderte." Das waren doch ganz klare Worte! Dann aber war das Thema für ihn auch abgeschlossen. Es galt, nach vorne zu schauen, das Nachkriegseuropa zu formen, in dem auch ein demokratisches Deutschland seinen Platz haben sollte. Das entsprach dem Zeitgeist: In der gesamten öffentlichen Diskussion spielte der "Holocaust" (der Begriff wurde erst in den 1970er Jahren landläufig) in den 1950er Jahren praktisch keine Rolle, er wurde verschämt verschwiegen. Erst die Ulmer Einsatztruppen-Prozesse ab 1958, dem Todesjahr des Papstes, und dann natürlich der Eichmann-Prozess in Jerusalem brachen das Eis. 1961 erschien Raul Hilbergs epochales Werk "The Destruction of the European Jews". Das war der Beginn der Holocaust-Forschung. Bis dahin galt, wie der  Historiker Hans Mommsen vermerkte: "Zu Beginn der 50er Jahre neigten fast alle Überlebenden, auch die jüdischen Verbände in den USA, sowie die internationale historische Forschung dazu, die Erinnerung an den Holocaust herunterzuspielen, ja zu verdrängen." Das galt auch für den Papst, der alles vermied, um Salz in noch offene Wunden zu streuen.

Im Interview wird auch eine weitere Frage über Papst Pius XII. gestellt: "Warum hat er sich gegen die Gründung des Staates Israel 1948 in drei Enzykliken ausgesprochen?"

Auch das ist eine glatte Verleumdung. Im Gegenteil: Den jüdischen KZ-Überlebenden hatte er schon 1945 verheißen: "Bald habt ihr einen jüdischen Staat!". Zwei Jahre später signalisierte er den katholischen Staaten, dass sie der Gründung des Staates Israel durch die Vereinten Nationen getrost zustimmen könnten. Allerdings plädierte er für eine Friedensordnung, die allen Konfliktparteien eine Sicherheit der Existenz und Lebensumstände für materiellen und kulturellen Wohlstand ermöglicht. Der von der UNO mehrheitlich forcierte Teilungsplan für Palästina von 1947 in einen arabischen und einen jüdischen Teil fand seine Zustimmung insofern, als Jerusalem dabei herausgenommen und unter internationale Verwaltung gestellt werden sollte. Darum ging es in den besagten drei Enzykliken. Mit keinem Wort lehnte er die Gründung des Staates Israel ab! Das wäre ja auch widersinnig, denn seit 1917 unterhielt er freundschaftliche Beziehungen zu prominenten Zionisten und unterstützte Nahum Sokolov und andere in ihren Bestrebungen zur Errichtung eines jüdischen Staates. Dass er dabei durchaus auch auf Widerstand in der eigenen Kurie stieß, können wir einem Dokument aus dem Jahre 1944 entnehmen, das wir im Vatikanarchiv fanden. Als Msgr. Tardini vom vatikanischen Staatssekretariat damals vor den Konsequenzen der Gründung eines jüdischen Staates in Palästina warnte, notierte Pius XII. handschriftlich auf dem Memorandum: "Die Juden brauchen ein eigenes Land!" Von diesem Standpunkt ist er zeitlebens nie abgewichen!

Klärend könnte der Blick in die Vatikanischen Archive sein – deren weitere Öffnung steht nun an. Was versprechen Sie sich davon?

Ja, am 2. März 2020 ist es endlich so weit und natürlich werde ich vor Ort sein. Sicher werden wir auf die eine oder andere kleine Sensation stoßen, die das Gesamtbild noch verdichtet, dass Pius XII. unermüdlich alles versuchte, um den verfolgten Juden zu helfen. Er wollte ja schon 1939 praktisch alle deutschen Juden evakuieren und bat in einem Rundschreiben die Erzbischöfe darum, bei ihren Regierungen Visa zu besorgen – leider ohne größeren Erfolg. In groben Zügen kennen wir seine Aktivitäten, wissen wir um sein unermüdliches Engagement hinter den Kulissen, den mindestens 40 diplomatischen Interventionen bei Hitlers Vasallenstaaten, von denen viele sogar erfolgreich waren. Immerhin wurden bereits im Auftrag Pauls VI. 5500 Dokumente in elf dicken Bänden veröffentlicht. Sicher wird das Herrn Wolf nicht davon abhalten, auch weiterhin das Andenken dieses großen, heiligen Papstes zu beschmutzen, so unter dem Motto: "Was kümmern mich Fakten, ich habe mir meine Meinung bereits gebildet." Andere werden dem Vatikan sicher unterstellen, etwas zu vertuschen, Verschwörungstheorien sterben bekanntlich nie aus. Doch zumindest kann die längst angebrachte Rehabilitation dieses großen, heiligmäßigen Papstes nicht mehr mit der Ausrede "Warten wir erst einmal ab, bis die Archive geöffnet sind" aufgeschoben werden. Vielleicht wird ihn Papst Franziskus noch seligsprechen und zum Schutzheiligen der Flüchtlinge und Fluchthelfer ernennen – was er in der damaligen Situation tatsächlich war. Die Tage der "schwarzen Legende" sind jedenfalls gezählt, wenn wir bereit sind, die Tatsache zu akzeptieren, dass Pius XII. eben nicht versagt, sondern den Verfolgten beigestanden und dem Dämon Hitler mutig getrotzt hat.

Michael Hesemann, Jg. 1964, studierte Geschichte in Göttingen. Als deutscher Repräsentant der "Pave the Way Foundation" setzt er sich für die Versöhnung von Katholiken und Juden ein. Seit 2008 forscht er im Vatikanischen Geheimarchiv. Für seine Entdeckung von 3.000 Dokumenten zum Völkermord von 1915 zeichnete ihn die Nationale Akademie der Wissenschaften der Republik Armenien 2016 mit der Ehrendoktorwürde aus. 2018 erschien Hesemanns jüngster Bestseller "Der Papst und der Holocaust", in dem er erstmals neuentdeckte Dokumente aus den Vatikanarchiven veröffentlichte.

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