24. Oktober 2020
Unbekannte Gesichter wecken unser Interesse und unsere Neugierde. Weltoffene Christen freuen sich über Menschen, die sie noch nie in der Pfarrgemeinde oder im Gottesdienst gesehen haben. Manchmal begegnen wir Fremden auch mit Vorbehalten, ja mit Vorurteilen. Vielleicht stellen wir auch die Pilatus-Frage: "Woher bist du?" (Joh 19,9)
Warum bewegt uns eine solche Frage? Im Johannes-Evangelium möchte der Statthalter – so sagt Benedikt XVI. in seiner Jesus-Trilogie – einfach mehr über diesen Jesus von Nazareth wissen, der als Angeklagter vor ihm steht: "Der römische Richter fragt nach Jesu Woher, um zu verstehen, wer er eigentlich ist und was er will." Die Frage gelte seiner "inneren Herkunft" und seinem "wahren Wesen" (Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Prolog: Die Kindheitsgeschichten, Freiburg im Breisgau 2012, 13). Eigentlich ist das eine ganz alltägliche Frage. Wenn wir einander kennenlernen, wenn wir einander aufgeschlossen und mit Sympathie begegnen, so möchten wir wissen: Was bewegt dich? Wer bist du? Woher bist du?
Die Frage gilt vielleicht zunächst der Herkunft. Einige interessiert zuerst, welchen Beruf ein anderer Mensch ausübt, aus welcher Stadt, aus welchem Land er stammt. Manche von uns können sehr bunte Lebensgeschichten erzählen. Manche möchten auch gern darüber schweigen. Sagt das alles aber etwas über die Herzmitte unserer Identität aus? Dieser Jesus von Nazareth, der vor Pilatus steht, entspricht nicht dem Bild, das von ihm gezeichnet wird. Auf dem Ort Nazareth lag keine Verheißung. War Jesus nicht ein einfacher Arbeiter aus der Provinz, der als Wanderprediger durch die Lande zog? Ein Unruhestifter? Ein Revolutionär? Jesus ist anders, als Pilatus dies offenbar vermutet hatte.
Die Evangelien, so Benedikt, wollen die Fragen, wer Jesus ist und woher er kommt, beantworten. Besonders der Evangelist Johannes schenkt der "Frage nach dem Woher Jesu" immer wieder Aufmerksamkeit. Benedikt betont: "Zugleich hat er diese Antwort auf die Frage nach dem Woher Jesu zu einer Definition der christlichen Existenz ausgeweitet, ausgehend vom Woher Jesu die Identität der Seinigen aufgezeigt." (ebd., 21) Wir alle suchen, scheint mir, nach einem Obdach, nach einem Zuhause, nach Gemeinschaft, nach einer Familie. Manche verwechseln dieses Bedürfnis mit weltlichen Heilslehren und geraten in eine ideologische Starrheit. Auch in der Kirche bilden sich mitunter Fraktionen, Parteiungen, die – oft von gutem Willen beseelt – verkennen, dass sie ihren Privatideen folgen, aber nicht der Einheit der Kirche dienen. Wir denken in Deutschland an den von den besten Absichten erfüllten Martin Luther und sein aufrichtiges, authentisches Ringen um den gnädigen Gott – und doch wissen wir, wohin sein Weg führte. Traurig ist, dass heute unter vielen Katholiken das Gebet um die Einheit der Christen schwach geworden zu sein und mit einem diffusen, allgemein christlichen Ökumenismus verwechselt zu werden scheint.
Wer sich zu Christus bekennt, dem ist das "Bekenntnis zur Geburt aus der Jungfrau Maria unleugbar gegenwärtig", so Benedikt XVI. Er schreibt weiter: "Wer an Jesus glaubt, tritt durch den Glauben in Jesu eigenen und neuen Ursprung hinein, empfängt diesen Ursprung als den seinigen." (ebd., 22 f.) Der Glaube schenke allen Glaubenden eine "neue Geburt": "Sie treten in die Herkunft Jesu Christi ein, die nun ihre eigene Herkunft wird. Von Christus her, durch den Glauben an ihn, sind sie nun aus Gott geboren." Der Glaube an Jesus Christus schenke uns eine "neue Herkunft".
Wenn wir über den Glauben nachdenken, sehen wir, was uns verbindet, sozusagen in der Tiefe und in der Höhe. Der Glaube der Kirche ist ein einigendes Band, eine tiefe, wirklich tragfähige Verbindung, in, mit und durch Christus – und nur so auch untereinander.
Wenn wir uns gegenseitig fragen: "Woher bist du?" –, so erfahren wir voneinander vieles über die Lebens- und Glaubenswege. Zugleich erkennen wir einander vielleicht als Verwandte, als Schwestern und Brüder im Glauben. Die Kirche, die alle Zeiten und Orte umspannt, ist eine große Familiengemeinschaft, die in der Welt ist, aber von innen her nicht der Welt angehört. Wir verfügen also sozusagen über einen gemeinsamen Stammbaum – der "Glaube an Jesus …, der uns »aus Gott« gebiert" (ebd., 23) –, ebenso über eine gemeinsame Sendung: frohe, von Dankbarkeit erfüllte Zeugen des gekreuzigten und auferstandenen Herrn Jesus Christus zu sein. Auf die Frage "Woher bist du?" können wir vielleicht auch ganz einfach lächelnd und freudig antworten: Ich gehöre zu Jesus Christus und Seiner Kirche, im Leben und im Sterben.
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