Kann der Glaube helfen, mit dem Trauma des Krieges umzugehen? Kann der Glaube sogar heilen? Darüber, über den blühenden Menschenhandel im Ukraine-Krieg sowie über andere Auswirkungen des Krieges auf die Menschen in der Ukraine sprachen wir mit Msgr. Robert J. Vitillo, dem Chef der Internationalen Katholischen Migrationskommission (ICMC).

ICMC ist eine internationale Organisation in der römisch-katholischen Kirche. Sie wurde vor 73 Jahren, also 1951, gegründet und vom Heiligen Stuhl als eine internationale katholische Vereinigung von Gläubigen anerkannt. Sie hat den offiziellen Status einer Nichtregierungsorganisation und als solche einen beratenden Sitz im Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen, der UNESCO, der Internationalen Organisation für Arbeit, dem Europäischen Rat und beim Hochkommissar der Vereinten Nationen für die Flüchtlinge. Innerhalb der Kurie arbeitet ICMC mit dem Päpstlichen Rat der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs sowie mit dem Päpstlichen Rat für die Laien eng und interdisziplinär zusammen.

Für Ihre Organisation sind Sie sehr oft vor Ort in der Ukraine unterwegs. Was sind Ihrer Meinung nach die Herausforderungen für Flüchtlinge aus der Ukraine?

Nun, für diejenigen, die Zuflucht in nahegelegenen und einigen weit entfernten Ländern gesucht haben, ist es natürlich sehr schwierig, denn viele der Flüchtlinge sind Frauen und Kinder. Die Männer in der Ukraine, die zwischen 18 und 50 Jahre alt sind, müssen im Lande bleiben, um für die Einberufung bereit zu sein. Und so haben viele Mütter, Kinder und ältere Menschen das Land verlassen. Fast sechs Millionen Menschen sind aus dem Land gegangen und in der Nähe aufgenommen worden, aber einige sind auch in die Vereinigten Staaten und in andere Länder gegangen. Für sie bedeutet es, sich an eine neue Kultur anzupassen.

Sie machen sich Sorgen um die Zurückgebliebenen, um ihre Ehemänner, die vielleicht an der Kriegsfront sind, auch um die älteren Eltern, die zurückbleiben. Es ist sehr, sehr schwierig. Sie müssen eine neue Sprache lernen und leben in einer neuen Kultur. Und dann ist diese Ungewissheit, wie lange alles dauern wird. Der Krieg dauert nun schon anderthalb Jahre an, und es gibt keine Gewissheit, wann dies alles zu Ende sein wird.

Und insbesondere diejenigen, die noch in der Ukraine geblieben sind, Binnenvertriebene, auch sie machen sich Sorgen um diejenigen, die sie in ihren Heimatdörfern zurückgelassen haben. Manchmal versuchen sie zurückzukehren, wenn die Bombardierung eine Weile aufgehört hat, aber dann laufen sie wieder davon, wenn der Luftangriff wieder beginnt, vor allem in den östlichen Gebieten, wo die Bombardierung sehr, sehr häufig ist und es viel Zerstörung gegeben hat, und viele von ihnen haben gesehen, wie ihre Familienmitglieder getötet wurden, und sie haben auch gesehen, wie ihre Häuser zerstört wurden.

Obwohl sie von der Kirche und von anderen Menschen in anderen Teilen der Ukraine, vor allem im Westen, aufgenommen wurden, machen sie sich große Sorgen, wie lange sie bleiben können. Werden die Kirchen ihre Gebäude für den Schulunterricht oder für andere Zwecke wieder benötigen? Und dann wissen sie auch, dass dies kein dauerhafter Zustand ist. Die Ungewissheit über die Zukunft beunruhigt sie also sehr.

Monsignore, Sie erzählten mir, dass ICMC ein Programm zur Bekämpfung des Menschenhandels während der Reise und bei der Ankunft in den Zielländern entwickelt hat.

Kurz nach der Wiederaufnahme des Krieges in der Ukraine im Februar 2022 – der Krieg dauert natürlich schon seit 2014 an, aber seit der erneuten Einnahme von Gebieten durch die Russen – hat der Vatikan alle großen katholischen humanitären Organisationen zu einem Treffen einberufen, das etwa zwei Wochen nach diesem Ereignis stattfand, und wollte, dass wir uns untereinander darüber austauschen, was wir in der Ukraine tun oder was wir dort zu tun planen. Daraufhin bildeten wir eine katholische Arbeitsgruppe für die Ukraine. Die Mitglieder baten ICMC, diese Arbeitsgruppe einzuberufen, und wir haben sehr hart mit den Mitgliedern zusammengearbeitet, um sicherzustellen, dass wir all die verschiedenen Richtlinien und Informationen über das Risiko des Menschenhandels zusammenstellen. Wir übersetzten sie in die Sprachen der Länder, die in der Nähe lagen und Flüchtlinge aufnahmen, und sorgten dafür, dass die Informationen für die Vertriebenen auch auf Ukrainisch verfügbar waren.

Ich war in einigen der Züge mit den Flüchtlingen, die das Land in Richtung Polen verließen, und auch in Zügen innerhalb der Ukraine mit Flüchtlingen, den Binnenvertriebenen. Ich weiß also, weil ich sehe wenn sie ankommen, das sie sich manchmal nicht sicher sind, was sie tun sollen. Deshalb haben wir dafür gesorgt, dass wir diese Informationen zusammen mit der Caritas und anderen katholischen Organisationen zur Verfügung stellen, die direkt an den Bahnhöfen Stationen haben, um die Menschen zu empfangen und ihnen gute Informationen zu geben, auch über das Risiko des Menschenschmuggels. Es ist in vielerlei Hinsicht eine Realität, das die Menschenhändler schon da sind, bevor wir, die Ersthelfer, überhaupt da sind.

Wir müssen also immer wachsam sein und die Menschen warnen. Ich war in einigen Hospizen in der Ukraine, die von Diözesen betrieben werden, und habe dort Menschen getroffen, die Opfer von Menschenhandel geworden sind und aufgrund dessen missbraucht und vergewaltigt wurden. Wir sind uns des Menschenhandels also immer sehr bewusst und versuchen, ihn in all unseren Beratungen und Informationen zu berücksichtigen.

Wie ist Ihr persönlicher Eindruck von den Menschen, denen Sie begegnen? Spielen der Glauben und kirchliche Programme eine Rolle? Wie nehmen Sie das wahr?

Natürlich habe ich auch die verschiedenen kirchlichen Programme in der Ukraine besucht, und sie nehmen jeden auf. Es gibt keine Glaubensvoraussetzungen für diejenigen, die eine Unterkunft oder andere Hilfe von der Kirche suchen. Ich habe vielmehr festgestellt, dass etliche Ukrainer mich in meinem Glauben bestärken. Wenn man von den Zerstörungen hört und sie sieht, wenn Menschen mir ihre zerstörten Häuser zeigen oder mir von ihren im Krieg getöteten Verwandten erzählen, ist das manchmal überwältigend, und man fragt sich: Wie kann das passieren? Es ist die typische Frage: Warum passieren guten Menschen so schlimme Dinge?

Aber die Ukrainer sind ein Volk der Hoffnung. Ihr Land wurde schon oft von anderen Ländern besetzt. Sie sind entschlossen, ihre Sprache, ihre Kultur und ihren Glauben zu bewahren. Viele Mitglieder der katholischen Kirche, sowohl der griechisch-katholischen als auch der lateinisch-katholischen Kirche, sind traditionelle Katholiken. Sie sind sehr gläubig, trotz des Schmerzes und des Leids, das sie durchmachen.

Und wenn ich dann mit einigen der Menschen spreche, die entweder aus anderen Kirchen kommen, wie zum Beispiel Orthodoxe, die zur katholischen Kirche kommen, um Hilfe zu erhalten, oder diejenigen, die keinen Glauben haben – Sie erzählen mir, wie beeindruckt und inspiriert sie von der katholischen Kirche sind, die ihnen die Hand reicht und ihnen zuhört.

Viele von ihnen haben mir gesagt, dass wir jemanden brauchen, der sich unseren Schmerz anhört, damit wir weitergehen und in die Zukunft blicken können. Eine Frau in einem katholischen Priesterseminar in Iwano-Frankiwsk erzählte mir, wie gut sie aufgenommen wurden, dass sie gutes Essen und einen warmen Platz hatten. Sie hatten einen bequemen Platz zum Bleiben, sagte sie – wir müssen uns um unseren Körper kümmern, aber auch um unseren Verstand, unser Herz und unsere Seele.

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Und hier hört man mir zu, lässt mich reden und lässt mich sowohl psychologisch als auch spirituell heilen. Sie hat mir nicht gesagt, welchem Glauben sie angehört, aber sie hat sicherlich gesehen, wie unser Glaube in die Tat umgesetzt wird, und das gibt den Menschen Hoffnung und spornt sie für die Zukunft an.

ICMC arbeitet in der Ukraine auch mit lokalen Kirchen zusammen?

Ja, das ist richtig. Als der Krieg wieder ausbrach, hatte ICMC noch keine eigenen Programme in der Ukraine. Und so beschlossen wir, dass wir uns um Unterstützung für die Kirchen vor Ort bemühen würden. Ich habe mich sehr schnell mit dem päpstlichen Nuntius in der Ukraine beraten, und er riet mir, mit den kleineren Diözesen zusammenzuarbeiten, die keine Unterstützung erhalten oder nicht wissen, wie sie an die Unterstützung der größeren katholischen Geldgeber wie Caritas Internationalis, des Malteserordens und anderer herankommen. Und genau das haben wir getan.

Wir konzentrieren uns mehr auf die kleinen Diözesen und haben ihnen vor allem dabei geholfen, die psychische Gesundheit und die psychosoziale Behandlung von Menschen mit Traumata, Schock, Depressionen und Angstzuständen zu unterstützen. Anfangs dachte ich, dass wir ausländische Experten, Experten für psychische Gesundheit, in die Ukraine schicken müssten. Aber ich habe schnell verstanden, dass es dort hervorragende Psychologen gibt. Sie sind gut ausgebildet, und da ich selbst auch aus diesem Bereich komme, konnte ich in Gesprächen mit ihnen feststellen, dass auch sie sehr gut wussten, was sie taten. Aber die Diözesen hatten nicht das Geld, um ihre Gehälter zu zahlen.

ICMC arbeitet daher mit den Diözesen zusammen, um die Gehälter dieser professionellen Psychologen zu bezahlen und ihnen zu helfen, eine zusätzliche Ausbildung zu erhalten, insbesondere im Bereich der Traumabehandlung, und um den sozialen Einrichtungen in diesen Diözesen dabei zu helfen, die psychische Gesundheit und die psychosoziale Unterstützung in ihre Programme für Unterkünfte, humanitäre Hilfe, Nahrungsmittel und alle anderen materiellen Bedürfnisse der Vertriebenen zu integrieren. Und wir haben dabei enorme Erfolge erzielt.

Es gibt eine Studie, die von einem Zentrum für psychische Gesundheit in Lemberg – Lviv auf Ukrainisch – in der Westukraine durchgeführt wurde, hauptsächlich von Absolventen der Katholischen Universität der Ukraine, um die Auswirkungen dieser Behandlung zu messen, die sie in der Gegend von Lviv anbieten, und sie fanden heraus, dass die Menschen wirklich berichteten, dass die Depressionen und Ängste viel weniger wurden, weil sie diese Behandlung erhielten. ICMC sammelt also weiterhin Spenden für diesen Zweck.

Wir sind auch eine Partnerschaft mit den „Knights of Columbus“ in der Ukraine eingegangen. Das ist eine amerikanische Agentur oder Organisation, eine brüderliche Organisation, aber sie haben ein Chapter in Polen mit 6.000 Mitgliedern und ein Chapter in der Ukraine mit 3.000 Mitgliedern. Wir haben also sowohl in Polen als auch in der Ukraine sehr eng mit den Rittern zusammengearbeitet, um Medikamente und medizinische Ausrüstung dorthin zu transportieren. Aber sie haben auch intensive Wochenendbehandlungen für zurückkehrende Soldaten und ihre Familien gesponsert. Oftmals kommen die Soldaten zurück und können nicht mehr mit ihren Familien kommunizieren. Sie können sich nicht wirklich auf den normalen Rhythmus des Familienlebens einlassen, weil sie so viel Grauen gesehen haben und manchmal auch Menschen getötet haben.

Deshalb wurden diese Wochenenden mit professionellen Trauma-Therapeuten und Priestern organisiert, und sie haben den Soldaten wirklich geholfen, zurückzukommen und sich wieder in ihr Familienleben zu integrieren.

ICMC ist eine katholische humanitäre Hilfsorganisation. Sie sind katholischer Priester. Zelebrieren Sie während Ihres Aufenthaltes in der Ukraine die Heilige Messe oder hören Beichte? Sind Sie dort, neben Ihrer Arbeit für ICMC, auch tatsächlich als katholischer Priester im Einsatz?

Wenn ich in der Ukraine bin, gehe ich normalerweise in eine örtliche Kirche, um die Messe zu konzelebrieren. Ich spreche kein Ukrainisch, aber als ich vor kurzem dort war, ging ich in Lemberg in die lateinische Kirche, wo die Messe in Latein abgehalten wurde, so dass ich die lateinische Sprache verstehen und sprechen, aber auch die Leute begrüßen konnte.

Wenn ich in der Ukraine bin, verrichte ich normalerweise keine direkten seelsorgerischen Dienste, aber Priester zu sein ist ein Teil von mir. Es ist ein Teil meines Wesens. Und so versuche ich, meine pastorale Sorge und meine pastorale Präsenz durch meine Arbeit zu reflektieren, sogar als Generalsekretär vom ICMC, auch in der Ukraine.

ICMC hat allen katholischen Seminaren in der Ukraine, den sechs griechisch-katholischen und zwei lateinisch-katholischen, geholfen, die Ausbildung in psychischer Gesundheit und psychosozialer Unterstützung für die Seminaristen zu fördern. Die Ukrainer sind im Großen und Ganzen ein traditionelles Volk. Deshalb suchen sie oft keine psychologische Hilfe von außen, sondern gehen zu ihrem örtlichen Priester, wenn sie glauben, dass sie geistliche Probleme haben. Manchmal haben sie das auch. Wir wollten, dass die Seminaristen wissen, wie sie auf die spirituellen Bedürfnisse reagieren können, aber auch, wie sie ernstere psychische Probleme erkennen und sie dazu ermutigen können, die psychische Unterstützung in Anspruch zu nehmen, die jetzt sogar durch die Diözesen mit Hilfe von ICMC verfügbar ist.

Und so nahm ich an der ersten Sitzung dieser Schulung im Priesterseminar in Lemberg teil. Glücklicherweise sprach der Rektor des Priesterseminars Italienisch, so dass er mir mit der Übersetzung helfen konnte. Die Seminaristen fragten mich, wie ich mit psychischen Problemen umgehe, wie ich mit dem Leiden der Menschen umgehen kann und mich nicht völlig davon überwältigen lasse. Und so konnte ich ihnen meine eigene spirituelle Ausbildung sowie meine Ausbildung als Psychotherapeut vor vielen Jahren erklären und ihnen helfen zu verstehen, dass man beides tun kann. Man muss sein Priestersein nicht davon trennen, dass man auch für einige psychologische Aspekte sensibel ist.

Original-Interview aufgenommen in Genf von Laetitia Rodrigues und Alex Mur | Textbearbeitung: Mario Galgano | Redaktion, Moderation und Schnitt: Christian Peschken für Pax Press Agency im Auftrag von EWTN, EWTN News und CNA Deutsch.

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