Der Brand der Kathedrale Unserer Lieben Frau von Paris war das dritte planetarische Ereignis dieses Jahrtausends - nach dem Terrorangriff auf die Twin Towers am 11. September 2001 und dem Sterben Johannes Paul II. am 2. April 2005. Nun war es dieses Höllenfeuer.

Kaum aber haben sich die Rauchwolken aus dem Himmel über Paris verzogen, muss Frankreich im Schock und Staunen erkennen, dass es auch eine Gnade war, als reinigendes Gnadenfeuer. Es gab weder Tote noch Verletzte. Über den Einsatz der Feuerwehrleute durfte "La France" sich wieder als Heldennation erleben – mit Abbé Jean-Marc Fourier als Helden der Helden. Der traditionelle Priester ist Seelsorger der Feuerwehr, der mit Todesverachtung Frankreichs alten Kronschatz für die radikal laizistische Nation aus dem Inferno rettete.

Das ist die Dornenkrone Christi, die bis zu dem Brand aus dem kollektiven Bewusstsein Frankreichs so gut wie verschwunden war und an die in der Kathedrale selbst bis zum 16. April 2019 nur noch eine Art Panoptikum-Behälter aus neonschimmernden Plastikblutrot erinnerte.

Während die Flammen noch über dem Dachstuhl loderten, war abzusehen, dass Frankreich alles daransetzen wird, seine wichtigste Kathedrale in einem nationalen Prestige-Unternehmen wiederaufzubauen. Die Chancen dafür stehen gut, egal in welchem Zeitraum.

Ähnliches ist auch mit Sankt Paul vor den Mauern in Rom nach dem verheerenden Brand von 1823 geschehen, an dessen Wiederaufbau sich alle Nationen Europas und sogar der König von Ägypten beteiligten. Nun haben auch die Außenmauern von Notre-Dame dem Brand standgehalten und die Glockentürme und – fast als Wunder! -  die großen Rosenfenster mit ihren Bleiverglasungen aus dem 13. Jahrhundert.

Und nun wird Frankreich in diesem Prozess des Wiederaufbaus Unserer Lieben Frau seine alten Identität wieder begegnen und seiner vollständigen Geschichte und dabei  herausfinden, dass es eine schlimmere Katastrophe für das Land war, als am 10. November 1793  eine gewisse Mademoiselle Maillard, Soubrette der Pariser Oper,  als "Göttin der Vernunft" inmitten eines entfesselten Mobs in einem "Fest der Freiheit" um den  gotischen Altar von Notre-Dame tanzte, die damals von Jakobinern in einen "Tempel der Vernunft und der Freiheit" umbenannt worden war.  Es war diese Dame der Halbwelt, die danach anstelle der Mutter Gottes zum Vorbild der "Marianne" wurde, Frankreichs neuer Symbolgestalt. Der Furor wurde Vorbild für jede revolutionäre Raserei der Neuzeit - bis hin zur "Großen Proletarischen Kulturrevolution" Mao Tse Tungs gegen sein eigenes Volk mit rund 400.000 Todesopfern und Millionen Folteropfern.

Der Brand der Notre-Dame beleuchtet deshalb jetzt auch noch einmal neu die Massaker in der Vendée im gleichen Jahr 1793, als Revolutionstruppen in einem Völkermord an der eigenen Nation die Gegend südlich von Nantes in einen Friedhof verwandelten, mit rund 300.000 Todesopfern.

Die Flammen werden Frankreich auch daran erinnern, dass es jene oft verklärte Zeit totalitären Grauens war, als in einem Bildersturm ohnegleichen den Christus- und Heiligenfiguren seiner Kirchen die Köpfe abgeschlagen wurden. Es sind offene Wunden, auch in Paris, die seitdem nie wirklich ausheilten, wo im Schnitt nun jede Woche in Frankreich drei Kirchen angezündet werden, ohne großen Aufschrei. Auch darauf wird der Brand von Notre-Dame den Blick lenken.

Und darauf, dass Frankreich doch einmal als "älteste Tochter" der Mutter Kirche galt, mit "heiligen Herrschern", wie König Ludwig IX. (1214 – 1270) der im Jahr 1248 in Konstantinopel die Dornenkrone Christi für die aberwitzig hohe Summe von  135.000 Pfund Gold abkaufte. Zum Vergleich: das Weltwunder der Sainte Chapelle auf der Île de la Cité, das "Ludwig der Heilige" als Schrein für diese Kronreliquie errichten ließ, kostete ihn nur noch 40.000 Goldpfund!

Pilger nach Paris hefteten  danach Abbildungen der Krone Christi an ihre Pelerinen, wie sich Santiago-Pilger mit einer Muschel vom Ufer der Atlantikküste schmückten oder Rompilger mit einem Abbild des Schweißtuchs Christi aus dem Vatikan. Im Grundriss des Abendlandes machte die Dornenkrone Paris von da an zu einem Knotenpunkt in jenem Wegenetz der Pilger, auf dem Europa entstand, wie Goethe noch bewusst war. Nun hat der Brand eben dieses Diadem des Leidens einer einzigen Feuer-Nacht wieder ins Bewusstsein zurück katapultiert. 

Es ist ein antikes Strohgeflecht aus Dornenzweigen (des  Sidar-Gestrüpps, das heute noch in Palästina wuchert) zu einer Art Haube. Es ist diese "Krone", die römische Soldaten am ersten Karfreitag der Geschichte Jesus von Nazareth in Jerusalem im Palast des Pilatus unter Gelächter aufs Haupt prügelten, um ihn in einen Spottkönig zu verwandeln, wie Matthäus es in seinem Evangelium lakonisch schildert: "Da nahmen die Soldaten des Statthalters Jesus, führten ihn in das Prätorium und versammelten die ganze Kohorte um ihn. Sie zogen ihn aus und legten ihm einen purpurroten Mantel um. Dann flochten sie einen Kranz aus Dornen. Den setzten sie ihm auf‘s Haupt und gaben ihm einen Stock in die rechte Hand. Sie fielen vor ihm auf die Knie und verhöhnten ihn, indem sie riefen: Sei gegrüßt, König der Juden! Und sie spuckten ihn an, nahmen ihm den Stock wieder weg und schlugen damit auf seinen Kopf."

Dass dieses Marterinstrument nun zum Beginn der Karwoche 2019 durch den Feuerschein aller Flammen hindurch wieder ins Licht trat, beunruhigt eigentlich mehr als alle Verschwörungstheorien zusammen. Es ist ein endzeitliches Menetekel, das kaum weniger erschüttert als das Höllenfeuer selbst.  Sollten Brandstifter es gelegt haben, müsste zuvor das Feuer des Heiligen Geistes auf sie gefallen sein.

So hat Karl V. nach seiner Abdankung als Kaiser des größten Weltreichs der Erde am 25. Oktober 1555 die letzten drei Jahre seines Lebens in der Klosterkirche im spanischen San Jeronimo de Yuste in Betrachtung eines bewegenden Porträts eben dieses von Dornen durchbohrten Spottkönigs verbracht, der sich in souveränem Schweigen seinen Henkern ergeben hatte. Und dieser einzigen Krone, die niemals wackelt. Wahrscheinlich kann kein Hinblick besser ergründen, was das Geheimnis des schönsten Kontinents der Erde in seiner Tiefe ausmacht.

Neben dieser Reliquie  hat die Ruine von Notre-Dame jetzt aber auch noch die drei Rosenfenster wieder freigegeben, die es nun neu zu entdecken gilt, mit ihrem spektakulären Narrativ der christlichen Heilsgeschichte, die nur darauf warten, noch einmal ebenso leuchtend und neu in unsere Zeit übersetzt zu werden

Es sind fast kosmische Speicherchips der Erinnerung, die im Herzen Europas bis gestern fast so unlesbar und unverständlich geworden waren wie die Reliefs in den Ruinen von Angkor Wat im Dschungel Kambodschas.

Es ist eine ungeheure Herausforderung, die die Flammen im Dachstuhl Unserer Lieben Frau von Paris freigelegt haben, zur Reinigung der Erinnerung. Aus diesem Feuer wird Frankreich als ein anderes Land hervorgehen.

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