Vor wenigen Wochen regte der Hildesheimer Bischof Dr. Heiner Wilmer in einem philosophisch tiefgründigen Beitrag für "Die Zeit" dazu an, über die Notwendigkeit einer "spirituellen Revolution" nachzudenken: "Ich möchte die institutionelle Gestalt der Kirche keineswegs abschaffen, aber ich glaube, sie allein ist nicht so übermäßig bedeutsam. … Manchmal ist unsere kirchliche Professionalität wie ein Gefängnis, das uns abhält vom eigentlichen Weg, den wir uns vorgenommen haben."

Ich dachte zunächst an einen bekannten Vortrag von Karl Rahner, der kurz vor Beginn der ersten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils ein Wort des Apostels Paulus aus dem Brief an die Thessalonicher aufgriff und appellierte: "Löscht den Geist nicht aus!"

Rahner warnte seinerzeit vor der bleiernen kirchlichen Routine, der je eigenen, zumeist unbemerkten Trägheit des Herzens und auch der persönlichen Feigheit von Klerikern wie Weltchristen, vor der Wirkmacht des Heiligen Geistes engherzig zurückzuschrecken. Was könnte eine "spirituelle Revolution" heute bedeuten? Es gilt natürlich, nicht jede traditionalistisch oder modernistisch kolorierte kirchenpolitische Gestaltungsfantasie und nicht jede esoterische Privatidee mit einem geistbewegten Aufbruch zu identifizieren oder aus luftigen Betrachtungen plötzlich Imperative für den "Synodalen Weg" in Deutschland abzuleiten. Das Entscheidende ist die Besinnung auf das Wesentliche, also auf den Wesentlichen, auf Christus, der Weg, Wahrheit und Leben ist. Wenn darin das Ziel einer "spirituellen Revolution" liegt, dann wäre dies genau die Neuevangelisierung, für die Papst Franziskus vor einem Jahr mit seinem Brief an die deutschen Katholiken leidenschaftlich geworben hat. Von einer solchen "spirituellen Revolution" träumte auch Sören Kierkegaard, der dänische Philosoph und Theologe, in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Er hat kurz vor seinem Tod niedergelegt, dass seine Aufgabe als Schriftsteller nicht darin bestehe, "mehr Titularchristen zu schaffen" oder "dazu beizutragen, die Millionen darin zu bestärken, dass sie Christen seien". Er klagte über "Mittelmäßigkeit", über "Kirchenfürsten" und "Pastoren", die nur sich selber weiden. Das "Kennzeichen der Christlichkeit" sei das Gegenteil dessen, was "Kennzeichen der Weltlichkeit" sei. Man müsse das Christentum unterscheiden von solchen "Bataillonen von Christen": "Freilich hatte Christus Jünger, und, um etwas Menschliches zu nehmen, auch Sokrates hatte Jünger; aber weder Christus noch Sokrates hatten in dem Sinne Jünger, daß der Satz unwahr würde, den ich aufgestellt habe: ethisch, ethisch-religiös ist Menge Unwahrheit, ist es Unwahrheit, wirken zu wollen mit Menge, mit dem Numerischen, das Numerische zur Instanz dafür machen zu wollen, was Wahrheit ist." (Sören Kierkegaard: Die Schriften über sich selbst (1855), Düsseldorf – Köln 1964, 120)

Zugleich ist es naheliegend, Bischof Wilmers wertvolle Gedanken und Anregungen über eine "spirituelle Revolution" im Licht der Rede zu bedenken, die Papst Benedikt XVI. am 25. September 2011 im Freiburger Konzerthaus vorgetragen hat:

"Die Kirche hat nichts aus Eigenem gegenüber dem, der sie gestiftet hat, so daß sie sagen könnte: Dies haben wir großartig gemacht! Ihr Sinn besteht darin, Werkzeug der Erlösung zu sein, sich von Gott her mit seinem Wort durchdringen zu lassen und die Welt in die Einheit der Liebe mit Gott hineinzutragen. Die Kirche taucht ein in die Hinwendung des Erlösers zu den Menschen. Sie ist, wo sie wahrhaft sie selber ist, immer in Bewegung, muß sich fortwährend in den Dienst der Sendung stellen, die sie vom Herrn empfangen hat. Und deshalb muß sie sich immer neu den Sorgen der Welt öffnen, zu der sie ja selber gehört, sich ihnen ausliefern, um den heiligen Tausch, der mit der Menschwerdung begonnen hat, weiterzuführen und gegenwärtig zu machen. In der geschichtlichen Ausformung der Kirche zeigt sich jedoch auch eine gegenläufige Tendenz, daß die Kirche zufrieden wird mit sich selbst, sich in dieser Welt einrichtet, selbstgenügsam ist und sich den Maßstäben der Welt angleicht. Sie gibt nicht selten Organisation und Institutionalisierung größeres Gewicht als ihrer Berufung zu der Offenheit auf Gott hin, zur Öffnung der Welt auf den Anderen hin. … Es geht hier nicht darum, eine neue Taktik zu finden, um der Kirche wieder Geltung zu verschaffen. Vielmehr gilt es, jede bloße Taktik abzulegen und nach der totalen Redlichkeit zu suchen, die nichts von der Wahrheit unseres Heute ausklammert oder verdrängt, sondern ganz im Heute den Glauben vollzieht, eben dadurch daß sie ihn ganz in der Nüchternheit des Heute lebt, ihn ganz zu sich selbst bringt, indem sie das von ihm abstreift, was nur scheinbar Glaube, in Wahrheit aber Konvention und Gewohnheit ist."

Von einer "spirituellen Revolution" hat Benedikt XVI. seinerzeit nicht gesprochen, sondern von der "Entweltlichung der Kirche". Diese Anregung, damals kaum beachtet, ist aktueller denn je, wie auch Bischof Wilmers Beitrag uns nun neu bewusst macht. Wer muss an diese geistliche Erneuerung und Besinnung auf den Herrn heute zuerst denken? Unsere Bischöfe? Die engagierten Weltchristen in den Gremien, Verbänden und auf dem "Synodalen Weg"? Der Pfarrer vor Ort? Die Theologen an den Fakultäten?

Sie alle sind davon sicherlich nicht ausgenommen – und es steht in ihrer je eigenen Verantwortung, wie sie dazu beitragen. Bevor wir aber an das denken, was andere tun könnten oder sollten, müssten wir uns auf die hl. Mutter Teresa besinnen, die bekanntlich auf die Frage, was sich als Erstes an der Kirche ändern solle, antwortete: "Sie und ich!"

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