Die Kirchglocken läuten. Am Sonntag versammeln sich katholische Christen überall auf der Welt – so auch in Deutschland – zur Feier der heiligen Messe. Statistiken geben Aufschluss über regionale Unterschiede. Unheilspropheten sprechen in diesen Tagen von Krisen und Auflösungserscheinungen. Der Missbrauchsskandal und die Vertuschungspraxis in vielen Bistümern erregten die Gemüter und die Medien. Professoren fordern eine neue Theologie und eine neue Kirche. Andere Wissenschaftler assistieren mit bewährten Methoden aus der empirischen Sozialforschung.

Trotzdem, jeden Sonntag und an vielen Werktagen rufen noch immer die Glocken zum Gottesdienst. Vor den Portalen vieler Kirchen warten Bettler und Obdachlose auf eine kleine Spende. Manche hoffen auf ein freundliches Lächeln, einen herzlichen Gruß und ein paar Worte im Vorübergehen. Gläubige und auch Suchende begeben sich zum Gottesdienst. Einige wissen nicht mehr weiter, schon lange nicht. Manche hadern. Aber sie kommen wieder. So viele Menschen wagen sehnsüchtig einen Blick nach oben. Sie möchten nicht 95 neue Thesen ans Portal schlagen. Aber dem lebendigen Gott begegnen, das möchten sie schon. Vor oder neben dem Tabernakel brennt das ewige Licht. Einige beten den Rosenkranz. Vor der Figur der Gottesmutter zünden Gläubige ihre Lichter an. Sie verharren im Gebet. Die meisten sitzen auf vertrauten Plätzen. Sie warten darauf, dass die Feier der heiligen Messe beginnt, Sonntag für Sonntag.

Am ersten Fastensonntag hatte das Sturmtief "Eberhard" den Westen Deutschlands heimgesucht. Die deutschen Bischöfe versammelten sich tags drauf in Lingen, im Emsland gelegen. Der Osnabrücker Bischof Dr. Franz-Josef Bode begrüßte seine Mitbrüder in der Provinz. Alle Medien berichteten darüber. Parallel zum Eröffnungsgottesdienst fanden Mahnwachen statt. Aufgemacht hatten sich etwa 300 Frauen und Männer mit Protestbannern und Regenschirmen. Taschenlampen brannten. Die Kampagne dieser Gruppe von Engagierten lautete "#MachtLichtan", initiiert von der "kfD", der "Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands". Die Forderungen dieser und anderer Verbände sind seit Jahrzehnten bekannt. Die Tagung begann – wie immer. Kardinal Reinhard Marx wird vier Tage später auf der Pressekonferenz den Bericht über die Tagung vorstellen. An jedem Morgen feierten die Bischöfe die heilige Messe. Über strittige Themen tauschten sich die Geistlichen aus. Einen Studientag gab es. Professorale Stimmen fanden Gehör. Die Erfurter Theologin Julia Knop trat auf und sprach über den "ekklesialen Code". Der weithin bekannte Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff benannte "Problemfelder" der katholischen Sexualmoral. Er forderte energisch eine umfassende Revision der kirchlichen Morallehre. Wertneutral könnten Beobachter von Impulsreferaten sprechen. Der Salzburger Theologe Gregor Maria Hoff dachte über eine Verflüssigung der "sakralisierten Macht" nach. Die Teilhabe an der Macht durch das Volk Gottes sei erforderlich. Hoff sprach von einer "Verselbständigung einer unheiligen Macht". In unserer Zeit scheint die Stunde für offenbar überfällige Reformen gekommen zu sein: "Der sexuelle Missbrauch der Macht in der katholischen Kirche bildet dafür das Momentum – im Systemkollaps eines Vertrauens, das auch der Papst zu verspielen droht."

Manche wünschten sich vielleicht eine zweite Würzburger Synode – und andere hoffen noch immer auf ein Drittes Vatikanisches Konzil. Aber Lingen ist Lingen – nicht Wittenberg und auch nicht Würzburg. Stattdessen werden von den deutschen Bischöfen sogenannte synodale Wege eingeschlagen. Die bewährte institutionelle Praxis sieht die Bildung von themenorientierten Arbeitsgruppen vor, Kommissionen, Gruppen, Untergruppen und Ausschüsse. Kardinal Marx formulierte das im offiziellen Pressebericht wie folgt: "Das Forum »Macht, Partizipation, Gewaltenteilung« wird von Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann (Speyer) verantwortet, das Forum »Sexualmoral« von Bischof Dr. Franz-Josef Bode (Osnabrück) und das Forum »Priesterliche Lebensform« von Bischof Dr. Felix Genn (Münster)."

Wer wird auf diesen "Foren" sprechen? Wem wird zugehört? Welche Erwartungen werden nun geschürt? Wird von Gott die Rede sein? Für eine neue Offenheit warb Bischof Bode bereits in seiner Lingener Predigt vom 13. März 2019. Die Bischöfe – und mit ihnen die römisch-katholische Kirche in Deutschland – müssten über die "Wertschätzung verantwortungsvoller und bindungsbereiter Beziehungen zwischen Menschen, die dem obersten Maßstab der Liebe gerecht werden", nachdenken. Denkt der Osnabrücker Bischof hier an die gegengeschlechtliche Partnerschaft, an die sakramental unauflösliche Verbindung von Mann und Frau in der Ehe? Professor Dr. Thomas Sternberg, der Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, begrüßte grundsätzlich und dankbar den "Willen zu wirklicher Veränderung". Die Frühjahrsvollversammlung der Bischofskonferenz war vorüber, die Debatten gehen weiter. Ob das gläubige Volk Gottes gehört werden wird? Ob es überhaupt zuhören möchte?    

Der zweite Fastensonntag unterschied sich nicht allzu sehr von dem ersten Fastensonntag. Ja, zwischendurch hatte die Frühjahrskonferenz der deutschen Bischöfe stattgefunden. Auf manche Katholiken wirken mittlerweile solche Zusammenkünfte wie ein Gewerkschaftstreffen oder ein Parteitag.

Warum gehen einfach gläubige Christen, Sie und ich, sonntags zur heiligen Messe? Der Regensburger Bischof Dr. Rudolf Voderholzer sagte in der Predigt zum Wolfgangsfest 2018 in St. Emmeram: "Wenn wir die Kirche im Credo die »heilige« nennen, dann ist damit nicht behauptet, dass die Kirche aus lauter perfekten und in jeder Hinsicht untadeligen Menschen besteht. Es ist nicht die Heiligkeit menschlicher Personen gemeint, sondern diese Aussagen verweisen auf die göttliche Gabe, die Heiligkeit schenkt inmitten der menschlichen Unheiligkeit. Die Kirche ist es, die uns durch die Vermittlung schwacher Menschen das Wort Gottes schenkt, die uns das Brot des Lebens und den Kelch des Heiles reicht; die uns in der Feier der Sakramente die Begegnung mit dem Herrn schenkt, nicht aus Eigenem, sondern weil der Herr sich uns schenkt durch die Kirche."

Nur die wenigsten von uns dürsten nach einer neuen Theologie, nach einer neuen Kirche oder nach einer zweiten Reformation. Was mich betrifft, so kann ich sagen: Mein Hunger nach dem Brot des Lebens ist ungebrochen. Vielleicht ergeht es Ihnen ebenso? Möglicherweise gehören auch wir alle einer katholischen Parallelgesellschaft an, wenn wir Sonntag für Sonntag unruhigen Herzens und sehnsüchtig nach Gott – durch alle Nebel hindurch – nach Oben schauen möchten. Wir knien nieder und falten die Hände zum Gebet. Uns leiten Glaube, Hoffnung und Liebe. Wir bedürfen der Reinigung und der Bekehrung, immer wieder.

Mancherorts wird zum Offertorium ein Lied aus der Schubertmesse gesungen: "Du gabst, o Herr, mir Sein und Leben und Deiner Lehre himmlisch Licht. Was kann dafür ich Staub Dir geben? Nur danken kann ich, mehr doch nicht, nur danken kann ich, mehr doch nicht." Zugegeben, das klingt ein wenig feierlich, pathetisch und erhaben. Auch vom Geist der Romantik erzählt dieses fromme Opferungslied. Aber nicht nur: Wir sind auch dankbar – sogar mitten in der "Deutschen Messe" von Franz Schubert –, dass wir nicht deutschkatholisch werden müssen, sondern römisch-katholisch sind und bleiben dürfen.

Die Parallelgesellschaft – parallel zu säkularen Organisationen jeglicher Art –, der wir angehören, ist die Kirche aller Zeiten und Orte, die Kirche, die Himmel und Erde verbindet, gestern, heute und morgen. Die Kirche ist auf Christus erbaut, sie ist Sein Haus und nicht unser Eigentum. Denken wir darum an Psalm 127, Vers 1: "Wenn nicht der HERR das Haus baut, mühen sich umsonst, die daran bauen." Ein Gottesdienstbesuch schenkt auch Gelassenheit und  Freude. Warum? Ganz einfach, am vergangenen Sonntag war es so – und am nächsten Sonntag wird es nicht anders sein. In der Kirche unseres Herrn Jesus Christus begegnen wir betenden Menschen. Wir sind Schwestern und Brüder im Glauben. Uns alle verbindet ein Grundentscheid. Papst Benedikt XVI. fand in der Enzyklika "Deus caritas est" am 25. Dezember 2005 dafür ganz einfache Worte: "Wir haben der Liebe geglaubt." 

Dr. Thorsten Paprotny lehrte von 1998 bis 2010 am Philosophischen Seminar und von 2010 bis 2017 am Institut für Theologie und Religionswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover. Er publizierte zahlreiche Bücher im Verlag Herder. Gegenwärtig arbeitet er an einer Studie zum Verhältnis von Systematischer Theologie und Exegese im Werk von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. Er publiziert regelmäßig in den "Mitteilungen des Instituts Papst Benedikt XVI.".  

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