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Ältere Menschen töten? Japanischer Film erschüttert Cannes-Festspiele

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Der Film der japanischen Filmemacherin und Autorin Chie Hayakawa erntete bei der Eröffnung der Cannes-Filmfestspiele minutenlange Standing Ovations – wobei die dystopische Vision ihres Landes bedrohlich näher rückt. „Plan 75“ (2022) ist ein erschütterndes Drama über eine Gesellschaft, die ältere Menschen „einschläfert“, um damit die Herausforderung einer schnell alternden Bevölkerung zu lösen.

Der Film basiert auf einem realen Problem: Japan ist die am schnellsten alternde Industriegesellschaft, ein Trend, der enorme wirtschaftliche und politische Probleme verursacht. Wenige (junge) Menschen arbeiten, um den wachsenden Anteil von Älteren zu erhalten. Laut einem Bericht der Japan Times sind nahezu 30 Prozent der japanischen Bevölkerung über 65 Jahre alt, die Mehrheit sind Frauen. Der Anteil wird in den kommenden Jahrzehnten weiter steigen.

In „Plan 75“ wird jeder über 75 ermutigt, einen Deal mit der Regierung abzuschließen, bei dem er eine Geldsumme als Gegenleistung für die Zustimmung zur Euthanasie erhält. Eine kollektive Beerdigung wird kostenlos angeboten. Geschickte Werbekampagnen und Anrufe von Menschen mit beruhigenden Stimmen sind Teil der Bemühungen, die Menschen dazu zu bringen, sich anzumelden. Hübsche Berater listen die kleinen Freuden auf, die sich die vorzeitigen Todes-Kandidaten mit der Prämie leisten könnten. „Du kannst ins Restaurant gehen", sagt einer.

„Auf den ersten Blick ist der Plan 75 der Regierung voller Wohlwollen, Freundlichkeit und Pragmatismus, aber in Wahrheit ist er sowohl sehr grausam als auch beschämend“, sagte Hayakawa in einem Interview mit der AFP. Auf die Frage, wie nah ihr Szenario an der heutigen japanischen Realität ist, antwortete Hayakawa mit „es ist 8 vor 10“. „Wenn ein solcher Plan heute auf dem Tisch läge, würden ihn meiner Meinung nach viele Menschen akzeptieren, ihn sogar als gangbare Lösung begrüßen.“ Das sei „gruselig.“ Ihr Film sei keine Antwort auf die Bevölkerungskrise. „Aber eine ehrliche Einschätzung, wo wir heute stehen, wäre schon ein wichtiger Schritt“, so die 45-jährige Filmemacherin.

Im Rahmen ihrer Recherchen für den Film hat sie ältere Menschen interviewt. Viele würden die Idee für verdienstvoll halten, sich finanzielle Sicherheit zu erkaufen durch die Bereitschaft, ihr Leben vorzeitig zu beenden. Das würde den Stress verringern, sich fragen zu müssen, wie sie überleben können, wenn sie alt und allein sind. Gleichzeit würden sich viele junge Menschen schon jetzt Sorgen über ihr Lebensende machen und ob sie es sich überhaupt leisten könnten, zu altern. Die Schuld an der Misere geben die Jungen den Alten. „Sie sind frustriert und wütend, weil sie hart arbeiten, um ältere Menschen zu erhalten, aber sie denken, dass es vielleicht niemanden gibt, der sie unterstützt, wenn sie an der Reihe sind“, so Hayakawa.

 „Plan 75“ besticht durch ein subtiles Drehbuch und minimale Kamerabewegung. „Ich wollte, dass die Bilder ästhetisch und schön sowie kalt und grausam sind, genau wie der Plan selbst“,  sagte Hayaka. Obwohl es ein düsteres Porträt darüber ist, wie eine ältere Generationen kalkuliert entsorg werden soll, ist Hayakawas Film im Kern eine Feier des Lebens – das Leben in all seiner Alltäglichkeit, Einsamkeit, Trauer und natürlich seiner Schönheit. 

Die Dystopie für Japan hat in den Niederlanden schon konkrete reale Formen angenommen. Dort wird seit mehreren Jahren ein Gesetz zur Euthanasie am Ende eines erfüllten Lebens diskutiert. Alle Personen ab 75 Jahren sollten demnach ein Recht auf Euthanasie haben – unabhängig von Krankheit. Der Staatsrat hat zwar nun schärfere Maßnahmen gegen Missbrauch gefordert. So dürfe der Todeswunsch nicht verknüpft sein mit finanziellen Problemen. Andererseits hinterfragt das höchste Beratungsgremium der Regierung die Altersgrenze von 75 Jahren. Warum nicht jünger? Studien sollten eine bessere Begründung liefern, warum gerade dieses Alter als Begründung gewählt wurde.

Kanada hat auf seine Weise bereits Studien geliefert, wie Euthanasie Kosten einspart: Eine Ausweitung auf Menschen mit psychischen Erkrankungen verringert die Ausgaben im Gesundheitssystem pro Jahr um 149 Millionen Kanadische Dollar. Die Dystopie ist angekommen.

Zuerst veröffentlicht in "Bioethik Aktuell", einer Publikation des Instituts für Medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE) mit Sitz in Wien. Publiziert mit freundlicher Genehmigung.

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