27. September 2020
CNA Deutsch dokumentiert den Wortlaut der Predigt zum Abschluss der Tagung der Ratzinger-Schülerkreise in Rom am 27. September 2020.
Wir haben uns zur Feier der Heiligen Messe versammelt, mit der wir das Treffen der Schülerkreise Joseph Ratzinger - Papst Benedikt XVI. und das gestrige öffentliche Symposion, das der Frage nach Gott in den gegenwärtigen Herausforderungen gewidmet gewesen ist, beschliessen. Wenn wir jetzt zum Gottesdienst zusammenkommen, bringen wir unsere Glaubensüberzeugung zum Ausdruck, dass noch viel wichtiger als das Reden über Gott das Reden zu Gott, wichtiger als die Theologie die Doxologie, der Lobpreis Gottes ist. Wie menschliche Beziehungen und Freundschaften nur lebendig sind und am Leben bleiben, wenn Menschen nicht nur übereinander, sondern auch und primär miteinander reden, so wird auch das theologische Reden von Gott mündig – im Doppelsinn dieses Wortes – erst im Reden zu Gott, indem wir uns ihm zuwenden und ihn persönlich ansprechen. Und wenn wir zu Gott rufen und ihn bei seinem Namen – "Vater" – nennen, dann sind wir überzeugt, dass Gott für uns erreichbar ist. Denn einen Namen zu haben bedeutet anrufbar sein, hören und antworten können. Dies ist schlechthin entscheidend für unseren Glauben. Denn ein Gott, der nicht handeln und in unserem Leben nicht wirken kann, verdient den Ehrennamen "Gott" nicht. Im Johannes-Evangelium spricht Jesus sogar von einem arbeitenden Gott: "Mein Vater ist noch immer am Werk, und auch ich bin am Werk" (Joh 5, 17).
Not-wendige Konzentration auf die Frage nach Gott
Angesichts dieser schönen Botschaft von einem gegenwärtigen und wirkenden Gott wird uns freilich auch schmerzlich bewusst, wo heute die tiefsten Glaubensprobleme liegen. Der innerste Kern der heutigen Glaubenskrise besteht im weitgehenden Verblassen des biblischen Bildes Gottes als eines in der Geschichte gegenwärtigen und im Leben von uns Menschen handelnden Gottes. Die heutige Zeit zeichnet sich nicht durch eine intensive Gottsuche aus, sondern eher durch Gottvergessenheit und Taubheit gegenüber Gott. Dieser Feststellung scheint zwar die Tatsache zu widersprechen, dass in der heutigen Gesellschaft eine neue Zuwendung zu Religion und Mystik festzustellen ist. In dieser neuen Religiosität kann man sich aber einen Gott kaum mehr vorstellen, der in der Welt handelt und sich um den einzelnen Menschen kümmert. Damit ist nicht gesagt, dass die Menschen heute nicht mehr an Gott glauben würden; aber es scheint sich weithin um einen Gott zu handeln, der in der Geschichte von uns Menschen nicht mehr als gegenwärtig wahrgenommen werden kann.
Die eigentliche Glaubenskrise, die wir in der heutigen Zeit bis in die Kirche hinein erleben, kann man wohl am besten in der Kurzformel festmachen: "Religion ja – ein persönlicher Gott nein". Damit kommt an den Tag, dass sich der seit der europäischen Aufklärung aufgekommene Deismus faktisch im allgemeinen Bewusstsein festgesetzt hat, wie ihn Joseph Ratzinger mit eindringlichen Worten beschrieben hat: "Gott mag den Urknall angestossen haben, wenn es ihn schon geben sollte, aber mehr bleibt ihm in der aufgeklärten Welt nicht. Es scheint fast lächerlich sich vorzustellen, dass ihn unsere Taten und Untaten interessieren, so klein sind wir angesichts der Grösse des Universums. Es erscheint mythologisch, ihm Aktionen in der Welt zuzuschreiben."[1]
Ein so deistisch verstandener Gott ist aber weder zum Fürchten noch zum Lieben. Es fehlt die Leidenschaft an Gott; und darin liegt die tiefste Glaubensnot in der heutigen Zeit. Sie bringt es an den Tag, was heute in der Kirche wirklich nottut, nämlich die entschiedene Konzentration allen theologischen und pastoralen Bemühens auf die Frage nach Gott. Denn der christliche Glaube ist, wie das Apostolische Credo zeigt, Glaube an Gott oder er ist nicht. Der christliche Glaube ist Bekenntnis zum lebendigen Gott und Leben in seiner Gegenwart; alles Andere folgt daraus. Die Kirche hat deshalb heute keine wichtigere Aufgabe als die, in den weithin säkularisierten Gesellschaften die Gegenwart des lebendigen Gottes zu bezeugen.
Eintreten für die Würde des Menschen von Gott her
Nur in solcher Konzentration auf die Frage nach Gott kann die Kirche auch Antwort geben auf die tiefsten Fragen, die auch der heutige Mensch stellt und die er letztlich selbst ist. Denn im Menschen lebt, wenn er ehrlich zu sich selbst ist, ein nicht anders stillbarer Durst nach dem Unendlichen und damit nach Gott, wie ihn der heilige Augustinus in seinen "Bekenntnissen" unüberbietbar ausgesprochen hat: "Geschaffen hast du uns auf dich hin, o Herr, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir." Wenn wir wirklich glauben, dass Gott den Menschen auf sich hin geschaffen hat und der Mensch die Gemeinschaft mit Gott braucht wie im Alltag die Luft zum Atmen, dann können wir den Menschen theologisch verstehen und ihm in der Pastoral nahe sein nur, wenn wir ihn von Gott her betrachten, wie der katholische Theologe Romano Guardini sehr tief gesagt hat: "Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen." Wenn wir den Menschen heute Gott vorenthalten, dann geben wir ihnen nicht genug, selbst wenn wir ihnen sehr Vieles geben. Der Glaube an den lebendigen Gott muss deshalb ganz konkret werden im Eintreten für den Menschen und seine unantastbare Würde, die ihm von seiner Empfängnis bis zu seinem natürlichen Tod zukommt, und zwar von Gott, und die ihm deshalb niemand nehmen kann.
Die Kehrseite dieser tiefen Wahrheit besteht freilich darin, dass derjenige, der Gott nicht kennt, auch den Menschen nicht kennen kann. Der tiefen Krise des Gottesbewusstseins, die in unserer Gesellschaften anzutreffen ist, folgt deshalb eine ebenso gefährliche Krise des Menschenbildes, und zwar mit einer präzisen Logik. Wenn gemäss christlicher Überzeugung der Mensch das Ebenbild Gottes ist, das Gott hütet wie seinen Augapfel, dann nagt das Verdunsten des Gottesbewusstseins in einer gefährlichen Weise auch an der Würde des menschlichen Lebens: Wo Gott in der heutigen Gesellschaft auf die Ersatzbank gesetzt oder aus dem gesellschaftlichen Leben verabschiedet oder mit überstrapazierter so genannter "Toleranz" hinauskomplimentiert wird, besteht höchste Gefahr, dass auch die Würde des Menschen mit Füssen getreten wird, worauf der katholische Theologe Johann B. Metz seinen warnenden Finger legt: "War es nicht dieses späte Europa, in dem erstmals in der Welt der öffentlich verkündet wurde? Und ist es nicht dieses Europa, in dem wir seit geraumer Zeit auf den, so wie wir ihn aus unserer bisherigen Geschichte kennen, vorbereitet werden?"[2]
Gott in seinem treuen Sohn wahrnehmen
In unserer Zeit muss der christliche Glaube praktisch werden im Eintreten für den Menschen, den Gott als sein Ebenbild gewollt und geschaffen hat. Dies ist aber nur möglich, wenn die Kirche ihre Glaubensüberzeugung vertieft, dass Gott ein im Leben der Menschen gegenwärtiger und handelnder Gott ist. Im Gleichnis von den zwei Söhnen im heutigen Evangelium dürfte Jesus Gott, seinen Vater gewiss nicht im zweiten Sohn sehen. Denn Gott macht nicht Versprechungen und handelt dann doch nicht. Gott steht vielmehr zu seinem Wort und setzt sein gegebenes Wort in sein Handeln um. Dies hat er unüberbietbar in seinem Sohn Jesus Christus gezeigt, der wie der erste Sohn im Gleichnis den Willen seines Vaters ausführt. Christus ist der treue Sohn, der so sehr mit seinem Vater verbunden ist, dass er sich dessen Willen ganz zu Eigen gemacht hat. In Jesus Christus ist Gott in unserer Welt ganz konkret geworden. Zum christlichen Zeugnis für den lebendigen Gott gehört deshalb zentral das Zeugnis für Jesus Christus, wahren Gott und wahren Menschen.
Damit öffnet sich freilich nochmals ein Blick in die Abgründe der heutigen Glaubenskrise, die zutiefst eine Krise des Christusglaubens ist. Denn viele Menschen und selbst Christen lassen sich auch heute zwar durchaus berühren von allen menschlichen und geschichtlichen Dimensionen an Jesus von Nazareth; ihnen bereitet aber das Bekenntnis, dass dieser Jesus der eingeborene Sohn Gottes ist, der als der Auferweckte unter uns lebt und gegenwärtig ist, und damit der kirchliche Christusglaube weithin Mühe. Selbst in der Kirche will es heute oft nicht mehr gelingen, im Menschen Jesus das Antlitz des Sohnes Gottes selbst wahrzunehmen und nicht einfach einen – wenn auch hervorragenden und besonders guten – Menschen zu sehen. Wäre Jesus aber nur ein Mensch gewesen, dann wäre er unwiderruflich in die Vergangenheit zurückgetreten, und nur unser eigenes und fernes Erinnern könnte ihn dann mehr oder weniger in unsere Gegenwart hinein bringen. Nur wenn unser Glaube wahr ist, dass Gott selbst in Jesus von Nazareth Mensch geworden ist und Jesus Christus wahrer Mensch und wahrer Gott ist und so Anteil hat an der Gegenwart Gottes, die alle Zeiten umgreift, kann Jesus Christus nicht bloss gestern, sondern auch heute unser wirklicher Zeitgenosse und das erhellende und aufklärende Licht unseres Lebens sein.
Eine Erneuerung des Christusglaubens muss von daher in einer heutigen Kirchenreform den Primat haben. Und auch sie kommt ganz dem Menschen zugute. Dies haben uns die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils ins Stammbuch geschrieben, indem sie in der Pastoralkonstitution "Gaudium et Spes" uns in Christus die Offenbarung des Menschseins vor Augen geführt haben: "Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf." Denn Christus ist der "neue Adam", der "in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe" dem Menschen "den Menschen selbst voll kund" macht und ihm "seine höchste Berufung" erschliesst[3]. Und diese "höchste Berufung" erblicken die Väter des Konzils in der Berufung zur Liebe, weil der Mensch "sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden kann"[4].
Wie Jesus Christus gesinnt sein
Mit diesen tiefen Worten haben die Väter des Konzils in Erinnerung gerufen, was Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Philippi damals und damit auch uns Christen heute ans Herz legt. Mit geradezu zärtlichen Worten wiederholt Paulus in der heutigen zweiten Lesung immer wieder, dass wir "einmütig", "einträchtig" und "eines Sinnes" sein sollen. Paulus will uns damit helfen, dass wir immer bessere Christen werden und immer glaubwürdiger Gott durch unser Leben in Gemeinschaft verkünden. Denn Paulus ist überzeugt, dass zum christlichen Leben das Miteinander-Sein im gemeinsamen Wir der Gläubigen gehört. Paulus ist aber ebenso überzeugt, dass wir nur miteinander in der gleichen Gesinnung leben können, wenn es einen Sinn gibt, der allen gemeinsam ist, wenn also Christus selbst dieser gemeinsame Sinn ist. Denn er ist der "Sinn, der jedem zugemessen ist. Der Gedanke, in dem jeder von uns gedacht ist. Und daher ist er der Grund unserer Einheit."[5] Beim vierten Mal spitzt Paulus deshalb seine Zumutung zu und präzisiert sie: "Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht" (Phil 2, 5).
Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch, ist wie ein Sklave und uns Menschen gleich. geworden. In dieser Weise hat er uns gezeigt, wer Gott ist und wie Gott ist. Paulus lädt uns ein, uns in dieses Gottesgeheimnis zu vertiefen, mit diesem Gott in Gemeinschaft zu leben, ihn mit unserem Leben zu bezeugen und seinen Willen zu tun, der das Leben des Menschen in seiner Fülle will, das irdische Leben jetzt und dann das ewige Leben. Nur wenn wir "so gesinnt" sind, "wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht", werden auch wir uns als der erste Sohn im heutigen Evangelium erweisen, der den Willen seines Vaters erfüllt. Und diesen Willen zu erfüllen ist die beste Verkündigung des lebendigen Gottes in der heutigen Welt.
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Deshalb noch ein letzter Gedanke: Wenn wir präzis wissen wollen, worin dieser Wille Gottes besteht, sind wir gut beraten, die heutige Lesung bis zum Ende zu betrachten, wo es heisst: "Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der grösser ist alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr zur Ehre Gottes, des Vaters" (Phil 2, 9-11). Wir erfüllen dann den Willen Gottes, wenn wir Christus, seinen Sohn verehren, der seinerseits kein anderes Ziel hat als die Ehre Gottes seines Vaters. Wir können über Gott nicht besser reden als dadurch, dass wir ihn loben und anbeten, dass wir ihm in der Eucharistie zurückschenken, was er uns gegeben hat, dass wir ihn, mit einem Wort, eucharistieren. Bitten wir den Heiligen Geist, dass in seiner Kraft solche Anbetung des lebendigen Gottes in der Feier der Eucharistie geschehen möge.
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[1] J. Kardinal Ratzinger, Christus und Kirche. Aktuelle Probleme der Theologie - Konsequenzen für die Katechese, in: Ders., Ein neues Lied für den Herrn. Christusglaube und Liturgie in der Gegenwart (Freiburg i. Br. 1995) 47-55, zit. 50.
[2] F.-X. Kaufmann / J. B. Metz, Zukunftsfähigkeit. Suchbewegungen im Christentum (Freiburg i. Br. 1987) 130.
[3] Gaudium et spes, Nr. 22.
[4] Gaudium et spes, Nr. 24.
[5] J. Ratzinger, Die Kirche ist Versammlung, Glaube und Anbetung, in: Ders., Predigten. Homilien – Ansprachen – Meditationen. Zweiter Teilband = Gesammelte Schriften. Band 14/2 (Freiburg i. Br. 2019) 956-962, zit. 959.