Köln - Mittwoch, 24. Januar 2024, 12:35 Uhr.
Panzerkardinal, Großinquisitor und Konzilsverräter – Joseph Ratzinger bildete seit jeher einen Stein des Anstoßes, an dem sich die Geister schieden. Jetzt zogen Wissenschaftler Bilanz, ob er auch Wesentliches zur Weiterentwicklung der Katholischen Soziallehre beigetragen hat.
Mit dabei: Peter Seewald, der ihn 30 Jahre als Journalist begleitete und vier Interview-Bücher mit ihm veröffentlichte. Seewald bezeichnete Papst Benedikt XVI. als – neben Karol Wojtyla – den am meisten bekämpften Religionsführer weltweit.
Sind von einem Fundamentaltheologen und Dogmatiker wie Ratzinger ernsthafte Beiträge zur Fortentwicklung der Katholischen Soziallehre zu erwarten? „Das sozialethische Erbe von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.“ war das Thema einer Veranstaltung an der Kölner Hochschule für Katholische Theologie (KHKT), die gemeinsam mit den Kooperationspartnern – dem Institut für ökonomische Bildung der Universität Münster sowie der Joseph Höffner Gesellschaft für christliche Soziallehre – vom 22. bis zum 23. Januar durchgeführt wurde.
Namhafte Wissenschaftler zogen Bilanz, darunter KHKT-Rektor Christoph Ohly, Prorektor Elmar Nass, Peter Schallenberg (Paderborn), Paul van Geest (Rotterdam), Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Erlangen, Heiligenkreuz), Jörg Althammer (Ingolstadt), Manfred Spieker (Osnabrück), Theresia Theuke (Limburg), Martin Üffing SVD (St. Augustin) und Manuel Schlögl (Köln).
Sehr unterschiedlich sind die Vorstellungen über Joseph Ratzinger, der als Fundamentaltheologe und Dogmatiker an den Hochschulen und Universitäten von Freising, Bonn, Münster, Tübingen und Regensburg lehrte, über den Konzilsberater, Erzbischof von München und Freising, Präfekten der Glaubenskongregation und schließlich Papst Benedikt XVI.
Peter Seewald berichtete: „Ratzinger war seit jeher ein Stein des Anstoßes, jemand, an dem sich die Geister schieden. Während ihn die einen als eine Ikone der Rechtgläubigkeit, den Leuchtturm der Cattolica feierten, sahen ihn die anderen als den personifizierten Rückschritt, den es auch mit unlauteren Mitteln zu bekämpfen galt.“
Andere sahen in ihm den größten Theologen, der jemals auf dem Stuhl Petri saß, oder zählten ihn unter die „Genies der Deutschen“ und setzten ihn auf eine Stufe mit Beethoven, Bach und Hölderlin. Peter Seewald hat das Auf und Ab jahrzehntelang miterlebt. Als er den damaligen Präfekten der Glaubenskongregation kennenlernte, hatte Seewald zwar seine Phase als marxistischer Aktivist hinter sich gelassen, als politischer Redakteur beim „Spiegel“ und beim „Stern“ war er aber mit größtmöglicher Skepsis vorprogrammiert. Heute nennt er es „ein Privileg und eine Gnade“, dem umstrittenen Theologen begegnet zu sein. Für eine Story im Magazin der Süddeutschen Zeitung reiste er im Jahr 1993 nach Rom. Bereits die erste Begegnung mit dem bescheidenen und verletzlich wirkenden Mann in Rom, der große Mitmenschlichkeit ausstrahlte, brachte die vorgefasste Meinung des kritischen Journalisten ins Wanken.
Der in Rom arbeitende Theologe, der bereits im Alter von 31 Jahren seine erste Professur antrat und dem Seewald heute die „Bescheidenheit eines Mönches“ attestiert, ließ ihn fortan nicht mehr los. Er, der mit 18 Jahren aus der Kirche ausgetreten war, interessierte sich plötzlich für Glaubensfragen. Jetzt berichtete Peter Seewald dem interessierten Publikum in der vollbesetzten Aula der KHKT über die aus seiner Sicht prägende Gestalt des Zweiten Vatikanischen Konzils, den Erneuerer der Theologie, den führenden Denker unserer Zeit und den Präfekten, der ein Vierteljahrhundert lang dafür Sorge trug, dass der Felsen, auf dem Johannes Paul II. stand, den Stürmen der Zeit standhalten konnte. „Auch die unaufhörlichen Attacken gegen ihn konnten nicht verhindern, dass er mit den Millionenauflagen seiner Bücher rund um den Erdball zu dem mit Abstand meistgelesenen Theologen der Neuzeit aufstieg“, sagte Seewald.
Ratzinger bzw. Papst Benedikt XVI. bezeichnete er als einen „Brückenbauer zwischen Himmel und Erde“. Und dann vielleicht die entscheidende Charakterisierung: „Die Konstante seines Lebens bestand darin, die Menschen wieder mit Christus bekannt zu machen, sie zu ihm zu führen, zu seiner Barmherzigkeit, seiner Güte, seinen Geboten – und nicht zuletzt zu jener umstürzenden Botschaft vom Himmelreich Gottes.“
Sein Credo laut Seewald: „Die Kirche hat von Christus her ihr Licht. Wenn sie dieses Licht nicht auffängt und weitergibt, ist sie nur ein glanzloser Klumpen Erde.“
Peter Seewald wusste einige Einmaligkeiten aufzuzählen, die Joseph Ratzinger auszeichnen: Er war der erste Deutsche, der 500 Jahre nach der Reformation auf den Stuhl Petri gerufen wurde. Er war der erste Papst überhaupt, der eine Christologie vorlegte, in drei Bänden, die zu Bestsellern wurden. Er war der erste wirklich regierende Pontifex, der aus freien Stücken von seinem Amt zurücktrat, so Seewald. Und mit 95 Jahren war er der älteste Pontifex aller Zeiten.
Nach seinem Rücktritt „musste er noch ganze zehn Jahre standhalten“, wie Seewald es ausdrückte. Nein, sein langes Überleben habe ihn nicht überlegen lassen, ob sein Rücktritt womöglich ein Fehler gewesen sei. Der sei ganz sicher richtig gewesen. Er habe aber einfach noch dableiben müssen, „als ein Zeichen“.
Bereits als blutjunger Professor war Joseph Ratzinger aufgefallen durch eine ungekannte Frische, die er aus der Wiederentdeckung der Bibel und den Lehren der Kirchenväter schöpfte. Offenbar verlieh ihm dies auch Standfestigkeit und einen kritischen Blick auf die Realitäten. Schon im Oktober 1958 spricht er in der Zeitschrift „Hochland“ von einer Kirche, „in deren Herzen das Heidentum lebt“. Diese Kirche sei „nicht mehr wie einst Kirche aus den Heiden, die zu Christen geworden sind, sondern Kirche von Heiden, die sich noch Christen nennen, aber in Wahrheit zu Heiden wurden.“ Erstmals verwandte Ratzinger hier den Begriff „Entweltlichung“.
Für seine unbequemen Thesen soll der junge Theologe umgehend abgestraft werden, berichtete Seewald. Doch es kam anders. Der gerade einmal 35-jährigen Ratzinger wird zum „Spindoktor des Konzils“: „Ohne seine Initiativen an der Seite des erblindeten Kardinals Joseph Frings hätte es das Zweite Vatikanum, wie wir es kennen, nie gegeben.“
Die Suche nach dem Zeitgemäßen, warnte er bereits, dürfe jedoch nie zu einer Preisgabe des Wahren und Gültigen und zu einer Anpassung an das gerade Aktuelle führen. Reform sei, wieder zum Kern des Glaubens zu führen, nicht zu seiner Entkernung. Ratzinger machte sich unbeliebt, weil er einer Uminterpretation des Vatikanums entgegentrat. „Gerade noch als Revolutionär gefeiert, wird Ratzinger über Nacht als Verräter hingestellt.“
Der Mann aus den bayerischen Bergen, wurde Seewald klar, war ein Solitär, eine ganz eigene, nicht manipulierbare Persönlichkeit, ein leidenschaftlich kämpfender Hirte. „Den Preis für seine Souveränität bezahlte er mit dem Verzicht auf allgemeine Anerkennung.“
1968 veröffentlichte Ratzinger die „Einführung in das Christentum“ auch, um eine Mauer aus Vernunft und Glauben zu bauen, um standhalten zu können gegen die „bedrängende Macht des Unglaubens“, die er heraufziehen sah, so Seewald bei der Veranstaltung in Köln.
Dem katholischen Establishment warf Ratzinger vor, statt der „Dynamik des Glaubens“ vorwiegend Geschäftigkeit, Selbstdarstellung und ermüdende Debatten um Strukturfragen zu pflegen. Bei einem Treffen im Frühjahr 1996 entstand das Buch „Salz der Erde“, das wider Erwarten ein Welterfolg wurde. Die Süddeutsche Zeitung schrieb: „Dieser Mann liest seiner Kirche die Leviten, wie sie ihr seit Martin Luther nicht mehr gelesen worden sind.“
Dann kam der 19. April 2005. Seewald: „Vier Jahre lang war Benedikts Pontifikat ein einziges Hosianna.“ Papst-Bücher stürmten die Bestsellerlisten und lösten den größten Glaubenskurs aller Zeiten aus. Erstmals in der Geschichte konnte mit „Deus caritas est“, Ratzingers programmatischer Eröffnungsschrift, die Enzyklika eines Papstes Millionen Mal verkauft werden.
Während alle Welt glaubte, auf Wahrheit verzichten zu können, hielt der neue Papst unverrückbar daran fest. Die Reform der Kirche lag für ihn in der Wiederentdeckung ihrer Kernkompetenz. Das Wort Gottes, wie es das Evangelium überliefere, sei zwar interpretierbar und enthülle immer neue Geheimnisse. Der Grundgehalt jedoch sei nicht verhandelbar. Wenn es Gott gibt, wenn es eine Offenbarung gibt, wenn es die Stiftung Jesu gibt, dann kommt das nicht von uns, wiederholte er unablässig. Alles nur Selbstgemachte bleibe im Selbst stecken.
Eine wichtige Erkenntnis: Wo Irrtümer nicht mehr abgewehrt werden, müssten sie toleriert werden. Glaube sei dann nicht mehr Wahrheit, sondern der kleinstmögliche gemeinsame Nenner. Wie bilanzierte der greise und weise Papst? Dem Journalisten gegenüber bekannte er freimütig: „Keine Bange. Am Ende wird Christus siegen.“
Für sich selbst fasste Peter Seewald zusammen: „Ich bin fest davon überzeugt: Wäre die katholische Kirche in Deutschland dem Kurs ihres wegweisenden Theologen, Kardinals und Papstes gefolgt, sie stünde heute anders da. Vielleicht nicht mit weniger Austritten, aber mit einem Profil, das sie für die eigenen Leute zum Kompass und zur Stütze machte und für Außenstehende zu einem überzeugenden Angebot, um wieder Zugang zur Botschaft Christi zu finden.“
CNA Deutsch wird in weiteren Artikeln über mehrere Wortbeiträge im Rahmen der Tagung berichten.