Istanbul - Montag, 5. Februar 2024, 15:00 Uhr.
Am 6. Februar 2023 erschütterten mehrere schwere Erdbeben den Südosten der Türkei und den Nordwesten Syriens. Ein Jahr später gehen die Aufbauarbeiten nur schleppend voran, die Vertreter der christlichen Minderheit des Landes versuchen dennoch verzweifelt, Hoffnung zu verbreiten.
Mitten in der Nacht bricht die Hölle los
Um 4:17 Uhr wurde Irfan wach und wusste sofort, dass er in Lebensgefahr ist. Das Haus, in dem er sich befand, bewegte sich. Sofort sprang er aus dem Bett, um seine Frau und seine Kinder zu retten, doch die waren bereits wach. Für etwa sechzig Sekunden bewegte sich der Boden, bewegten sich die Wände, bewegte sich die Decke, bis die ersten Teile herunterfielen und der Boden unter ihren Füßen sich aufzulösen begann. Irfan packte seine Familie und rannte die Treppen hinunter ins Freie. In seinem Kopf nur ein einziger Gedanke: „Heute werden wir sterben!“
Erdbeben sind an sich nicht ungewöhnlich in diesem Teil des Landes. Irfan erzählt, dass er hin und wieder am Fenster sitzt, den Kopf auf den Arm gestützt, und plötzlich die Fensterbank zu vibrieren beginnt. Manchmal klirrt ein Glas im Schrank. Oft passiert nichts. Doch am 6. Februar 2023 war es anders. Letztes Jahr brach hier die Hölle los. Mit einer Stärke von 7,8 auf der Richterskala wurden innerhalb kürzester Zeit Straßen aufgerissen, Häuser zum Einsturz gebracht und tausende Menschen unter Trümmerteilen begraben. Den Südosten der Türkei und den Nordwesten von Syrien traf es dabei besonders hart. Fast 60.000 Menschen verloren ihr Leben.
Irfan selbst überlebt. Knapp ein Jahr später steht er in seinem kleinen Laden in Iskenderun, einer Stadt im Süden der Türkei, etwa zwei Flugstunden von Istanbul entfernt, und verkauft mir zwei pinke Regenschirme. Colm Flynn und Patrick Leonard, meine Kollegen von EWTN, hatten mich losgeschickt, Regenschirme zu kaufen, nachdem es angefangen hatte zu regnen und wir irgendwie die Kameras schützen mussten. Anders als in Rom, wo beim ersten Regentropfen aus dem Nichts Scharen von Regenschirm-Verkäufern auftauchen, war es nicht leicht, in Iskenderun einen Regenschirm zu finden. Erst bei Irfans Laden wurde ich fündig und der hatte nur die zwei knallpinken Exemplare. Aber gut, man nimmt, was man kriegt.
Ein Mord, nur wenige Kilometer von uns entfernt
Am 26. Januar 2024 bin ich mit meinen beiden Kollegen im Auftrag des EWTN-Nachrichtenmagazins „EWTN News in Depth“ in die Türkei geflogen, um dort zwei Stories zu drehen. Wir wollten eine Geschichte machen über die Situation der Kirche in der Türkei. Die zweite Geschichte sollte sich ganz um den ersten Jahrestag des furchtbaren Erdbebens drehen. Colm Flynn sollte als Reporter die Interviews führen und die Geschichten fürs Fernsehen zusammenschreiben, Patrick Leonard ist unser Kameramann, ich selbst hatte als Produzent im Vorfeld die Aufgabe, die Kontakte vor Ort herzustellen und für einen reibungslosen Ablauf zu sorgen.
Doch schon kurz nach unserer Ankunft in Istanbul läuft alles aus dem Ruder.
Als wir am Sonntag, dem 28. Januar, mit Massimiliano Palinuro, Bischof von Istanbul, zur Heiligen Messe und zum anschließenden Interview verabredet sind, wird nur wenige Kilometer von uns entfernt ein Gottesdienstbesucher während der Heiligen Messe erschossen. Später wird der Islamische Staat den Anschlag für sich reklamieren.
Der sichtlich erschütterte Bischof bittet uns, das geplante Interview mit ihm kürzer zu fassen, weil er danach zum Tatort muss. Auch wir sitzen nach dem Interview bereits im Taxi und fahren zur Kirche, in der der furchtbare Mord geschehen ist. Die beiden Täter laufen zu diesem Zeitpunkt noch frei herum. Wir sammeln so viele Informationen wie möglich, geben sie an die Kollegen von CNA, ACI Prensa, ACI Stampa, und ACI Mena weiter. Colm Flynn organisiert außerdem eine Schalte zu den Kollegen von EWTN News Nightly und berichtet über die jüngsten Erkenntnisse.
Doch dann müssen wir schon wieder weiter. Am nächsten Tag geht es in aller Frühe zum Flughafen. Wir fliegen nach Gaziantep, in den Südosten der Türkei, in jene Gegend, die vor einem Jahr so verheerend vom Erdbeben heimgesucht worden ist. Dort werden wir von den Maltesern empfangen. Seit dem Erdbeben hat sich die Arbeitsbelastung der Hilfsorganisation natürlich intensiviert. Nach unserer Ankunft im Haus der Malteser wird uns syrischer Kaffee angeboten, dem im Unterschied zum türkischen Kaffee noch ein Schuss Kardamon beigefügt wird, wie uns die Leiterin der Truppe erklärt. Dann geht es auch schon wieder in die Autos.
Im Flüchtlingslager
Wir fahren im Konvoi über die Autobahn weiter in Richtung der syrischen Grenze. Die Mitarbeiter der Malteser, die uns begleiten, sind ausnahmslos Muslime und stammen aus der Türkei oder aus Syrien. Unser Dolmetscher stammt aus Aleppo und ist vor zehn Jahren vor dem Bürgerkrieg in die Türkei geflohen. Sein Bruder lebt weiterhin in Syrien, als Mitarbeiter der Regierung wurde ihm der Pass entzogen, um eine Flucht zu verhindern. Unser Dolmetscher selbst kann nicht nach Syrien zurück. Der Grund: Weil er das Land verlassen hatte und damit als Verräter gilt. „They say I am criminal now“, sagt er und deutet auf sich.
Mittlerweile hat er die türkische Staatsbürgerschaft erhalten und bei den Maltesern einen guten Job gefunden. Davor habe er schon einmal für eine deutsche NGO gearbeitet, erzählt er mir und versucht sich verzweifelt bei der Aussprache des komplizierten Wortes. Irgendwann gelingt es. „Welthungerhilfe“, sagt er strahlend. Auf der langen Fahrt in Richtung der Grenze erzählt er von seinem dreijährigen Sohn, der das Land seiner Eltern wohl auf absehbare Zeit nicht zu Gesicht bekommen wird.
Im Flüchtlingslager sind wir mit zwei Familien zum Interview verabredet. Der strenge Lagerleiter, ein Angestellter der Kommune, diskutiert mit den Maltesern, ob es gestattet ist, Filmaufnahmen von den Zuständen im Lager zu machen. Im Vorfeld war eigentlich schon alles geklärt und abgesprochen. Jetzt muss nachverhandelt werden. Am Ende setzt sich die resolute Chefin der Malteser-Gruppe durch. Um sein Gesicht zu wahren, schickt der Lagerleiter einen seiner Vertreter als Aufpasser mit.
Wir treffen eine Familie, die vor zehn Jahren vor dem Krieg aus Syrien geflohen ist und nun in diesem Flüchtlingscontainer lebt. Wir ziehen die Schuhe aus, bevor wir den Container betreten und knien uns auf die Matratze, während der Vater der Familie uns Tee anbietet. Später kommt seine Frau dazu, die sich nach anfänglichem Zögern schließlich doch filmen lässt, allerdings nur von hinten, damit man ihr Gesicht nicht sieht.
Im Interview stellt sich heraus, dass das Ehepaar vier Kinder hat. Zwei ihrer Söhne sind allerdings nicht hier. Ein Sohn starb in Aleppo, sagt der Vater. „Er wurde ermordet“, korrigiert ihn seine Frau. Und der andere Sohn? „Wir wissen nicht, wo er ist.“ Im Chaos des Bürgerkriegs und des Erdbebens sei er verloren gegangen. Man wisse nicht einmal, ob er noch am Leben ist, sagt der Vater tonlos. Seine Augen verlieren sich irgendwo in der Tiefe des engen Raumes, wenn er über den doppelten Schmerz seines Verlustes spricht.
Seine Ehefrau sagt, sie sei Gott dankbar, dass sie immerhin überlebt haben. Aber das Leben im Lager sei schrecklich. Sie klagt: „Wir haben nur diese Container, das ist kein richtiges Haus. Hier drin gibt es keine Toilette. Und mein Mann ist krank, es ist schwierig, so eine Arbeit zu finden. Wie sollen wir für unsere Kinder sorgen?“
Der Jüngste der Familie sitzt die ganze Zeit dabei und betrachtet den Kameramann Patrick neugierig bei der Arbeit. Er ist neun Jahre alt, Fan des FC Barcelona, mag Lionel Messi und auf die Frage, was er einmal werden will, sagt er: Doktor.
Bürgerkrieg, Erdbeben, Hoffnungslosigkeit
Dann kommt die 14-jährige Tochter dazu, in Vollverschleierung, nur ihre tiefbraunen Augen sind hinter ihrer Burka zu sehen. Nach einer Weile nimmt sie den Gesichtsschleier ab und zeigt uns ihr offenes, neugieriges Gesicht. Sie spricht ein wenig Englisch. Sie wollte mal Ärztin werden. Jetzt ist ihr wichtigster Wunsch: Raus hier.
„Wenn ich meine Situation betrachte, glaube ich nicht, dass ich eine gute Zukunft haben werde“, sagt sie. Mein Kollege Colm fragt zurück: „Was treibt dich dennoch an, was gibt dir Hoffnung?“ Ihr Gesicht bleibt regungslos. Dann sagt sie: „Meine Hoffnungen wurden zerstört, besonders nach dem Erdbeben. Du bist nicht mehr dieselbe Person wie zuvor. Ich versuche, für eine bessere Zukunft zu kämpfen, aber erst müssen wir diesen Ort hier verlassen.“ Ihre Mutter ruft: „Sir, hier gibt es keine Zukunft. Nicht in diesem Camp.“
Während wir zu der zweiten Familie gehen, mit der wir zum Interview verabredet sind, läuft uns ein fröhlich lachender Strom an Kindern hinterher, die uns englische Wörter zurufen. Wir weichen den Pfützen und kleinen Bächen aus, die sich über dem Weg erstrecken, halten schließlich vor einer Wäscheleine. Im Hintergrund, am Ende des Lagers, liegt ein großer Platz, auf dem sich die Autowracks sammeln, die nach dem Erdbeben hier abgeladen worden sind.
Der junge Familienvater empfängt uns mit einem gleichgültigen Nicken. Nachdem sein Haus von der syrischen Armee bombardiert worden war, ist er mit seiner Familie in die Türkei geflohen. Ein Neustart. Seine Kinder kamen hier zur Welt, er fand eine Arbeit. „Dann kam das Erdbeben und alles ging abwärts“, sagt er.
Wir stehen unter einem kleinen Vordach und blicken in seine erschreckend leeren Augen. Um uns herum stapeln sich verschiedene Dinge. In einem Topf quellen Ramen-Nudeln vor sich hin. Die Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit ist erdrückend.
Seine Frau, vollverschleiert, lugt manchmal am Türpfosten vorbei aus dem Baucontainer heraus, ob argwöhnisch, kritisch oder einfach nur neugierig, kann man ihrem verschleierten Gesicht nicht ablesen. Der Ehemann beantwortet währenddessen die Fragen von Colm, tonlos, einsilbig, resigniert. Als wir wieder gehen, verlassen wir einen Menschen, der innerlich schon aufgegeben hat.
Kaffee, Zigarette und zwei pinke Regenschirme
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Am nächsten Tag bringen uns die Malteser nach Iskenderun. Auch hier hat das Erdbeben sein grausames Werk verrichtet. Wir halten an der Kathedrale Mariä Verkündigung. Sie ist der Sitz des Bischofs des Apostolischen Vikariats von Anatolien. Auch jetzt, ein Jahr später, ist die Kathedrale noch immer ein einziger Trümmerhaufen. Eine Seitenwand steht noch, auch die Apsis wird im Ansatz sichtbar. Auf der Seite, die zur Straße hingewandt ist, sieht man unter dem Trümmerberg den Taufstein herausspitzen. Als wir auf die Kirche zugehen, fängt es an zu regnen. Colm bittet mich, loszuziehen, um zwei Regenschirme zu besorgen.
Eine ganze Weile irre ich durch die Straßen und klappere verschiedene Geschäfte ab, doch niemand hat einen Regenschirm. Bis ich Irfan treffe. Ich hatte das Wort „Regenschirm“ in den Übersetzer eingegeben und wiederhole das türkische Wort so gut es geht, Irfan wiederum antwortet im gebrochenen Englisch, sagt schließlich, er hätte zwei Regenschirme, allerdings wären die „just for wives – nur für Ehefrauen“. Ich bin verwirrt. Dann hält er sie mir unter die Nase: Beide Regenschirme sind knallpink.
Beim Bezahlen fragt er, woher ich stamme. Als er meine Antwort hört, hellt sich sein Gesicht auf und er wechselt plötzlich ins lupenreine Deutsch. „Ich bin aus Pforzheim“, ruft er freudestrahlend. Seine ersten 13 Lebensjahre hatte er dort verbracht, bis seine Eltern, ehemalige Gastarbeiter, mit ihm zurück in die Türkei zogen. Dann besteht er mit Nachdruck darauf, dass wir einen Kaffee trinken, obwohl meine Kollegen auf mich warten. „Zum Kaffee gehört eine Zigarette“, drängt er weiter und obwohl ich Nichtraucher bin, paffe ich sekundenspäter unbeholfen an der Zigarette herum und rede mit ihm über Deutschland, deutsche Autos und deutsches Bier.
Dann erzählt er vom Erdbeben und davon, wie er und seine Familie mit dem Leben davonkamen. Andere hatten weniger Glück. Insgesamt elf Verwandte verlor Irfan in dieser Nacht, unter anderem seine Schwester und deren Ehemann. Seine Nichte sei tagelang unter den Trümmern begraben gewesen, erst nach vier Tagen habe man das völlig entkräftete Mädchen bergen können. Einem Neffen hatte das einstürzende Haus beide Beine abgetrennt. Heute, wenn es von Zeit zu Zeit kleinere Beben gibt und Irfan die Erschütterung spürt, kriegt er jedes Mal einen Schreck: „Dann denke ich: Beim ersten Mal hat es uns nicht erwischt, aber jetzt sind wir dran. Jetzt müssen wir sterben.“
Wir treffen den Mann, der die Eucharistie rettete
Als ich mit den beiden pinken Regenschirmen zu meinen Kollegen in die zerstörte Kathedrale zurückkehre, ist mir noch ganz schwindelig von der Zigarette. Dann trifft Weihbischof Antuan Ilgit SJ ein, mit dem wir zum Interview verabredet sind. Er ist ein ruhiger, nachdenklicher Mensch. Dass er auch ein mutiger Mann ist, hat er bereits bewiesen, als er sich letztes Jahr während des Erdbebens todesmutig in die Kirche stürzte, um die Eucharistie aus dem Tabernakel zu retten, nachdem ein Teil des Gebäudes bereits kollabiert war.
Dennoch gibt es eine Geschichte, über die er nicht öffentlich sprechen will. Es ist die Geschichte seiner Konversion vom Islam zum Christentum. Aufgewachsen in Hersbruck, Mittelfranken, in der Nähe von Nürnberg, zogen seine Eltern mit ihm bald wieder in die Türkei, wo er an der Gazi-Universität in Ankara studierte. 1997 ließ er sich taufen, wurde acht Jahre später Jesuit in Italien und 2010 in Rom zum Priester geweiht. Im letzten Jahr, nach dem Erdbeben, hatte Papst Franziskus ihn im August 2023 zum Weihbischof für das Apostolische Vikariat Anatolien ernannt. Er soll Paolo Bizetti SJ, dem amtierenden Bischof von Anatolien, auf den Bischofssitz nachfolgen, der in diesem Jahr 77 Jahre alt wird und bereits – wie im Kirchenrecht verfügt – beim Papst seinen altersbedingten Rücktritt hinterlegt hat.
Weihbischof Antuan spricht mit ruhiger Stimme, als er von jener Nacht erzählt, als die Schwestern eines kontemplativen Ordens in sein Zimmer stürmten und ihm sagten: „Die Kathedrale ist nicht mehr da!“ Antuan Ilgit – der zu dem Zeitpunkt noch kein Weihbischof war – stürmte zu dem Platz, an dem nur noch ein paar Mauern standen. Er kletterte auf den Trümmerberg. Was er dann sah, berührte ihn in diesem Moment des Horrors zutiefst.
„Das erste, was ich sah, war die Madonnen-Statue, die noch immer komplett unbeschädigt war. Und dann war da die Statue des heiligen Antonius von Padua, ebenfalls unbeschädigt. Der heilige Antonius ist mein Namenspatron. Diese beiden Zeichen gaben mir Hoffnung.“
Sofort eilte er mit den Schwestern zur Apsis, die noch stand, aber ebenfalls einzustürzen drohte. Schnell öffneten sie den Tabernakel und entnahmen das Altarsakrament. „Wenn ich jetzt daran zurückdenke, dann ist mir, als hätte der Herr auf uns gewartet, damit ich ihn gemeinsam mit den Schwestern rette.“
Noch heute merkt man dem Geistlichen die Erschütterung an, wenn er von der Erfahrung berichtet, wie mehrere hundert Menschen, darunter auch viele Muslime aus der Umgebung, nach dem Erdbeben zur zerstörten Kathedrale eilten und Trost suchten. „Es ist schwer, in diesen Momenten der Kriege, der Erdbeben, der Katastrophen über die Hoffnung zu predigen“, sagt er. Doch der Weihbischof ist sich sicher: „Es ist gibt diese innere Stärke, tief in einem jeden Menschen drin, der Herr selbst hat sie in uns verankert: Es ist die Hoffnung!“ Nach ein wenig Nachdenken ergänzt er: „Ich glaube, das ist nun meine wahre Mission, der Grund, warum der Herr mich ausgerechnet jetzt hierhin geschickt hat: Um bei den Menschen zu sein, um ihnen mitten in dieser Tragödie Kraft zu spenden.“
Die Zerstörung von Antiochia
Von Iskenderun fahren wir weiter nach Antakya. Die Stadt – auch bekannt unter ihrem antiken Namen „Antiochia“ (fleißige Bibelleser werden sich erinnern) – liegt nur 100 Kilometer von Aleppo entfernt. In Antiochia wurden die Anhänger Jesu erstmals – wie es im Altgriechischen heißt – „Christianoi“ genannt, zu deutsch: „Christen“ (vgl.: Apostelgeschichte 11,26). Petrus selbst war der erste Bischof von Antiochia, gründete dort das Patriarchat von Antiochia, bevor er weiterzog nach Rom und Evodius zu seinem Nachfolger als Bischof dort bestimmte.
Uns begleitet eine junge Frau, die die aus Antakya stammt. Sie trägt keinen Schleier und sagt von sich, dass sie „keine gute Muslima“ sei. Sie hat beim Erdbeben ihren Vater verloren. Die Wunde seines Verlusts schmerzt noch immer, sagt sie, und der Schmerz werde stärker, je näher der Jahrestag des Erdbebens heranrückt.
Als wir den Stadtrand erreichen, fahren wir an Zeltunterkünften vorbei, daneben stapeln sich zerstörte Autos. Unsere Kameras klicken. „Wartet, es wird gleich noch schlimmer“, sagt unsere Begleiterin. Wir erreichen das Stadtzentrum. Sie hat Recht. Die lockeren Gespräche im Auto sind längst verstummt. Unsere Begleiterin blickt schon seit Minuten nur zur Seite. Ihre Augen sind glasig.
Wir halten an der Stelle, an der ihr Elternhaus stand. Jetzt befindet sich dort eine Wüste aus Schutt. Im Hintergrund stehen noch ein paar Häuser, sie sollen wegen akuter Einsturzgefahr abgerissen werden. Bagger fahren auf und ab, hin und wieder streunt eine Katze über die Schuttberge.
Wir steigen aus, um das Intro für unseren EWTN-Beitrag zu drehen. Wir holen das Equipment aus dem Kofferraum und bringen uns in Stellung. Weil es nicht aufgehört hat zu regnen, soll ich die Regenschirme holen. Es ist bizarr: Wir stehen vor den Häuserruinen dieser einst so prachtvollen Stadt, die zum steinernen Grab von tausenden Menschen wurde, und halten zwei rosarote Kinder-Regenschirme über uns wie in einem schlechten Sketch.
Unsere Begleiterin fragt, ob sie uns helfen kann, dann bleibt sie auf Abstand. Minuten später sehe ich, wie sie die Unterarme zum Gebet nach vorne streckt, ihre Lippen bewegen sich. Tränen laufen über ihr Gesicht. Ein herzzerreißender Anblick. Drei Tage lang ist ihr Vater hier an dieser Stelle unter den Trümmern gelegen, drei Tage lang hat sie seine Schreie anhören müssen. Doch die Helfer schafften es nicht, sich zu ihm und den anderen verschütteten Hausbewohnern durchzubuddeln. Nach drei Tagen waren die Rufe des Vaters für immer verstummt. Erst Tage später konnte seine Leiche geborgen werden. „Ich bete nicht so oft wie ich als Muslima eigentlich sollte“, sagt sie, als wir wieder auf dem Weg zum Auto sind, „aber ich glaube, ich kann für ihn jetzt beten. Und ich glaube, dass mein Vater mich sieht und mir manchmal Signale gibt.“
Dann führt sie uns in das Stadtzentrum von Antakya, oder zumindest zu dem, was davon noch übrig ist. Es sieht aus wie nach einem Bombenangriff, obwohl bereits ein ganzes Jahr vergangen ist. Die Straßen sind freigeräumt, doch noch immer stapeln sich die Trümmer. An aufgerissenen Häuserfronten lugen Sofas, Fernseher, Klimaanlagen und weitere Teile der Inneneinrichtung heraus. Unverwüstliche Optimisten haben hier und da in bunten Farben Sonnenblumen an die Häuserwände gesprüht. In einem halbeingestürzten Haus liegt ein Asthmaspray auf dem Tisch. Jemand muss es in der Eile liegengelassen haben, während er um sein Leben rannte – falls dieser Jemand noch am Leben ist. Mittlerweile hat sich der Staub eines ganzen Jahres darauf gesammelt.
Unsere Begleiterin zeigt uns die Schule, in der sie einst Englisch gelernt hat, „mit britischem Akzent“, wie sie betont, bevor amerikanische TV-Serien wie „Friends“, „Gossip Girl“ und die Freundschaft zu Leuten aus New York ihren Akzent amerikanisiert hätten. Sie kann wieder lächeln, wirkt aber nach wie vor angefasst. Auf der Rückfahrt lädt sie uns an einer Tankstelle auf einen Kaffee ein. Dazu gibt es dunkle Pistazienschokolade.
Als wir uns zwei Stunden später in Gaziantep wieder von einander verabschieden müssen, umarmt sie uns.
Türkische Bischofskonferenz beim Papst
Spricht man mit den Überlebenden des Erdbebens, ist die wachsende Unzufriedenheit spürbar. Jetzt, da sich der Jahrestag der Katastrophe nähert, werden die Wunden wieder aufgerissen, Wunden, die noch nicht einmal vernarben konnten. Während einige die Hoffnung aufgegeben haben und so wirken, als ergäben sie sich ihrem Schicksal, werden andere von ihrer Wut über den schleppenden Wiederaufbau über Wasser gehalten. Hier und da hört man Klagen gegen die aktuelle Regierung, die sich in diesem Jahr im Wahlkampf befindet. Die Korruption bei der Vergabe von Bauaufträgen, die Vetternwirtschaft und das Nicht-Einhalten der Bauvorschriften hätten einen großen Anteil daran, dass die Opferzahlen so hoch ausfielen, heißt es.
Auch der Generaldirektor des türkischen Amtes für Katastrophen- und Notfallmanagement (AFAD) steht in der Kritik. İsmail Palakoğlu, von Haus aus islamischer Theologe, wurde ein Monat vor dem Erdbeben von Präsident Erdoğan zum Leiter dieser wichtigen Behörde ernannt. Er sorgte für einen Skandal, als er so dringend benötigte Hilfsgüter wie Schals und Mützen für obdachlos gewordene Menschen ablehnte, weil das Logo einer Biermarke darauf zu sehen war.
Als ich mit meinen Kollegen fünf Tage vor dem ersten Jahrestag des Bebens am 1. Februar 2024 zurück nach Rom flog, erhielt ich eine persönliche Nachricht aus Iskenderun. Ein Gemeindemitglied schrieb mir auf Instagram und fragte: „Wissen Sie schon, wann die Kathedrale wieder aufgebaut wird? Diese Kirche war unsere Vergangenheit und unsere Zukunft, besonders für meine Freunde und Familie. Ich möchte nur sichergehen, dass wir alle wieder einen Ort haben für unsere religiösen Bedürfnisse.“
Es sind Anliegen wie diese, die die sieben türkischen Bischöfe in dieser Woche zum Heiligen Vater nach Rom tragen. Dort steht bis Ende der Woche der traditionelle Ad-Limina-Besuch an. Auch der Anschlag in der Istanbuler Kirche und die schwierige Situation der Christen, die knapp 0,2 Prozent der Bevölkerung der Türkei ausmachen, wird ein großes Thema sein. Papst Franziskus wird die türkische Bischofskonferenz am Freitag zur Audienz empfangen.