12. Mai 2017
Schlägt man die Bibel in der Mitte auf, so trifft man mit großer Wahrscheinlichkeit auf das Hohelied. Dieses Salomon als Verfasser zugeschriebenes Buch (vgl. 1 Kö 5, 12) steht im Zentrum der Heiligen Schrift, weil es – sowohl in jüdischer wie auch christlicher Interpretation – im Bild der Liebe zwischen Mann und Frau Gottes Zuneigung zu seinem Volk beschreibt.
Es ist das "Lied der Lieder", das auf die Kirche und Maria hin gedeutet werden kann.
Die Mutter Jesu ist, mit den Worten des hl. Franziskus, die "Virgo ecclesia facta", also die Kirche in Person, die die Heiligkeit des mystischen Leibes sichtbar macht.[1] Zu Recht darf man das Hohelied auch als marianisches "Gedicht" lesen, das in acht Kapiteln das Geheimnis der "neuen Eva" beschreibt, das heißt die Erhebung eines einfachen Mädchens zur Königin an der Seite des Fürsten Israels. Die Frau an der Seite des neuen Adam findet ihren Platz als Erste des Volkes nicht nur aufgrund ihrer Mutterschaft, sondern auch im Hinblick auf ihrer Mitarbeit im Werk der Erlösung.
Demütiges Mädchen und schöne Dame
Vor diesem Hintergrund ist es möglich, das Hohelied im Licht der Erscheinungen Mariens in Fatima zu lesen. In der Tat bietet Salomons Lied viele Bilder, die sich als geistliche Lektüre empfehlen, um das Erscheinen der "schönen Dame" in der Cova da Iria auch in biblischen Symbolen zu beschreiben. Schon der zeitliche Ablauf der Ereignisse beider Geschichten ähnelt sich: Das Hohelied beginnt im Herbst mit der Erwählung des armen Mädchens, das den Herden folgen soll, um den Geliebten zu finden.
Es folgt der Winter, den die Geliebten im Weinhaus verbringen, bis endlich – der Frühling ist angebrochen – der Bräutigam seine Freundin hinausruft, um mit ihm zu gehen. Es folgt der Sommer in der heiligen Stadt Jerusalem, in der aus der Magd eine Königin wird, die – am Ende des Buches und mittlerweile wird es wieder Herbst – ihren Namen offenbart. Die Ereignisse von Fatima beginnen mit den Engelserscheinungen, die im Herbst 1916 enden, woraufhin die Hirtenkinder ein intensives Gebets- und Bußleben beginnen, dass den ganzen Winter währt.
Die Erscheinungen Mariens heben am 13. Mai 1917 an und dauern bis zum 13. Oktober, dem Tag des großen Sonnenwunders, an dem Maria sich gewissermaßen als Königin zeigt und ihren Namen offenbart. Geführt vom Engel und dann von der Mutter Gottes legen die Hirtenkinder einen geistlichen Pilgerweg zurück, der sie immer näher zu Gott führt. Dieser Weg ist, wie Maria Lucia sagt, ihr Unbeflecktes Herz, das immer ihre Zuflucht sein wird.
Das Herz der Braut – Lilie unter Disteln
Das Hohelied ist voller Bilder, die die Liturgie der Kirche und zahlreiche ihrer Theologen, auf Maria angewandt haben und die nun, im Licht der "schönen Dame" von Fatima, in neuen Farben aufleuchten.
"Meine Taube, du Makellose" (Hl 5, 2) "Lilie unter den Disteln" (Hl 1, 2) – ein Wort, das schon sehr früh auf die Unbefleckte Empfängnis gedeutet wurde und sich in den Erscheinungen von 1917 als "Herz im Dornenkranz" verbildlicht – "Schönste der Frauen" (Hl 6, 1).
Dreimal fragt der Verfasser des Hohenliedes staunend: "Wer ist sie, die aus der Steppe heraufsteigt, auf ihren Geliebten gestützt?" (Hl 8,5) – Wer ist, die da erscheint wie das Morgenrot, wie der Mond so schön, strahlend rein wie die Sonne, prächtig wie Himmelsbilder? (Hl 6, 10) – "Wer ist sie, die da aus der Steppe heraufsteigt in Säulen von Rauch, umwölkt von Myrrhe und Weihrauch, von allen Wohlgerüchen der Händler?" (Hl 3, 6).
Die "schöne Dame", deren Glanz nicht zu beschreiben ist, weckt Staunen und Bewunderung, ja – um es mit den Worten des Hohenliedes zu sagen – sie "verzaubert" (Hl 4,8) die Seher. Die Erscheinungen von Fatima sind nicht nur ein harter Appell zu Buße und Sühne, der auf dramatische Weise durch die Höllenvision am 13. Juli 2017 unterstrichen wird, sondern auch eine Einladung, die "via pulchritudinis" (Weg der Schönheit), die im Jubel der Liebe erklommen wird.
So kann zum Beispiel Francisco sagen "Ich habe mich sehr gefreut, den Engel zu sehen. Noch mehr Freude empfand ich beim Anblick Unserer Lieben Frau. Am schönsten aber fand ich den Heiland in jenem Licht, das Unsere Liebe Frau in unserer Brust strahlen ließ. Ich liebe Gott so sehr!"
"Sagt an, wer ist doch diese"
Auf die bereits erwähnte Frage "Wer ist sie, die aus der Steppe heraufsteigt...?" (Hl 3, 6) antwortet das Hohelied im unmittelbar darauf folgenden Vers: "Sieh da, das ist Salomos Sänfte" (Hl 3, 7). Die Braut ist der Tragsessel des Königs, auf dem er in Jerusalem einzieht (vgl. Hl 3, 7-11). Maria ist der Thron Gottes.
Die Bundeslade – eine der wichtigsten Vorausbilder des Alten Testamentes für die Mutter Jesu – ist der Ort der unsichtbaren Gegenwart Gottes. Es gibt auffallende Parallelen in der Schrift, die diese allegorische Deutung untermauern. So sagt etwa David: "Wer bin ich, dass die Lade meines Herrn zu mir kommt?" (2 Sam 6, 9) und nimmt damit das Wort Elisabeths vorweg, die beim Besuch Mariens ausruft: "Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Lk 1, 56" . Salomon gilt als der Verfasser des Hohenliedes und als Erbauer des Jerusalemer Tempels. Diese Verbindung ergibt einen ersten Hinweis auf das Innerste des Heiligtums, in dem die Bundeslade steht und das – wie das Weinhaus im Hohelied (Hl 1, 16 – 2, 4) – aus Zedern und Zypressen gemacht ist, ja sogar mit goldenen Ketten geschmückt wie die Braut (Hl 1, 11).
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Selbst die Blumenornamente, die in das vergoldete Holz eingeprägt sind, können an den idyllischen Ort erinnern, an dem sich die Liebenden treffen (vgl. 1 Kö 6, 15ff.). Das Weinhaus in dem die Liebenden des Hohenliedes ruhen kann daher als der innerste Raum des Tempels verstanden werden, in dem die Bundeslade steht und der somit Ort der geheimnisvollen Anwesenheit Gottes ist. Wenn die Schrift sagt, dass das Zeichen "Liebe heißt" das dieses Haus bzw. die Begegnung der beiden kennzeichnet, so klingt das Symbol des Herzens an, das sich indirekt auch angedeutet findet in der Umarmung (Hl 2,6) und im Ruhen des Geliebten auf der Brust wie ein Beutel mit Myrrhe (Hl 1, 13).
Unsere liebe Frau von Fatima zeigt sich als weißgekleidete Braut, die strahlender ist als die Sonne. Sie trägt eine Kette, an der eine goldene Kugel hängt. Sie zeigt ihr Herz, deren Verehren sie verspricht, sie wie Blumen vor den Thron Gottes zu stellen[2] – im Hohenlied heißt es "Frisches Grün ist unser Lager" (Hl 1, 16). Sie ist das, mit Blüten geschmückte, "Triclinium totius Trinitatis" – der Ruheplatz der allerheiligsten Dreifaltigkeit.[3]
In Maria Jesus finden
Diese Bilder erlauben es den Ort der liebenden Gottesbegegnung mit dem Unbefleckten Herz Mariens zu identifizieren, das zum einen die Mitte und das Innerste ihrer Person, aber auch ihre Liebe und Hingabe meint. Sich dem Unbefleckten Herzen zu weihen, bedeutet dann in das Innerste des Tempels einzutreten, um dort Gott zu begegnen.
Diese Sicht scheint umso hilfreicher das Wesen der Weihe und der eng mit ihr verbundenen Mittlerschaft Mariens zu erklären, da es hier nicht um einen Umweg zu Christus gehen kann – so als ob seine Mutter, um es salopp auszudrücken, die Vorzimmerdame sei, an der man nicht vorbeikomme – sondern um den Ort, in dem die Gottesbegegnung ermöglicht wird. Und dieser Ort heißt Liebe (vgl. Hl 2, 4).
Ausserdem wird in der Identifikation der Gotteswohnung mit dem Unbefleckten Herzen Mariens deutlich, dass die Andacht, die der Herr nach den Worten der Muttergottes in der Welt begründen will, keine zweitrangige Frömmigkeitsübung ist, die vielen anderen bereits bestehenden hinzugefügt werden soll, sondern der Eintritt in das Haus des Herrn.
Das ist der sichere Ort, in dem die Liebe sich entfalten kann ohne gestört zu werden (vgl. Hl 2, 7). Die Kirche scheint um diese Deutung zu wissen, wenn sie als Lesung für das Fest des Unbefleckten Herzens einen Text aus dem Hohelied wählt. "Komm vom Libanon, meine Braut" (Hl 4, 2), "Komm doch mit mir, meine Braut, vom Libanon (Hl 4, 8) ruft der König seiner Geliebten zu. Das Holz für den Tempelbau – also Zedern und Zypressen – lässt Salomon vom Libanon kommen (vgl. 1 Kö 15 – 25).
Das Bild der Bundeslade, die aus Akazienholz bzw., wie die Septuaginta sagt, aus unverderblichem Holz, gefertigt ist lässt sich sehr schön auf Maria deuten. Sie ist das edle Holz vom Libanon – von immer grünenden Bäumen, die auch im Winter nicht welken.[4]
Die Trägerin des Gotteswortes – als geschriebenes in der Lade, als Fleisch gewordenes in Maria – ist "unvergänglich", weil eben dieses Wort ewig bleibt (vgl. Ps 119, 89). Das Heiligtum, in dem der Herr wohnt, ist das Herz der Geliebten, das nie zu schlagen aufhört; das schläft und doch um seinetwillen stets wach ist (Hl 5, 2). In der Bundeslade liegt "das Brot vom Himmel", das Mann aus der Wüste. In Mariens Leib wurde der Gottmensch gebildet, der sich als Speise und Trank gibt.
Im Blick auf die Eucharistie wird das Wort der Braut "Mein Geliebter ist weiß und rot" (5, 10) zur Anspielung auf die Gestalten von Brot und Wein, unter denen der Bräutigam verborgen bleibt.
Maria ist der Ort, der Liebe heißt
Maria als "Tochter Zion" zu verstehen heißt sie als Repräsentantin des Volkes zu erkennen, in der sich die Verheißungen der Propheten erfüllen. Der Titel meint in seiner topographischen Bedeutung Jerusalem und, noch genauer betrachtet, den Tempelberg auf dem das einzige Heiligtum des Herrn steht, in dem er wohnen will (vgl. Jes 48, 2).
Der Tempelberg ist der Ort des Opfers, der auf Abraham verweist, der seinen Sohn Gott darbringen wollte. Was er nicht tun musste, hat Maria getan, indem sie am Fuße des Kreuzes in das Opfer des Sohnes einwilligt und sich mit ihm vereint.
Auf Golgotha ist sie wahrhaftig die "Tochter Zion", ja Mutter und Braut des Lammes, das geschlachtet wird. Sie selbst ist als die vor der Erbsünde Bewahrte, die Tochter dieses Opfers, die Adams Schuld nicht erbte. Ihr vom Schwert des Leidens durchbohrtes Herz stellt das Innerste Tempels dar, dessen Vorhang zerreißt, als das Erlösungsopfer dargebracht ist.
Es wird so zur Zuflucht der Sünder. Wer Maria als Mutter annimmt, indem er einen Platz in ihrem Herzen findet, der kann in diesem Heiligtum mit dem neuen und Ewigen Hohenpriester Gottes Namen aussprechen und ihn "Abba" nennen.
Vom kommenden Sieg der Braut
Wenn in Fatima vom Triumph des Unbefleckten Herzens die Rede ist, so kann man an die Offenbarung der sonnenbekleideten Frau denken. Auf ihr Erscheinen folgt der Drachensturz und die Ausrufung des Sieges.
Diese Zeilen werden eingeleitet vom letzten Vers in Kapitel 11: "Der Tempel Gottes im Himmel wurde geöffnet, und in seinem Tempel wurde die Lade seines Bundes sichtbar" (Offb 11, 19). Der Triumph des Lammes wird eingeleitet vom Blick auf das Innerste des Tempels. Maria ist "das große Zeichen" (Offb 12, 1) Christi, das "Liebe heißt" (Hl 2, 4). Es ist interessant, dass an dieser Stelle der Offenbarung von einem Tempel im Himmel die Rede ist, den es später nicht mehr geben wird.
Am Ende der apokalyptischen Not steigt die Stadt Gottes vom Himmel herab "wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat." Die ganze Stadt ist dann "die Wohnung Gottes unter den Menschen" (Offb 21,3).
Sich Maria weihen heißt in die Wohnung Gottes eintreten
Immer wieder beschreiben die Seherkinder von Fatima, den Glanz der Maria umstrahlte und der heller war als die Sonne. War im Alten Bund die Bundeslade der Sitz der Schechina, der Herrlichkeit Gottes, so ist es am Ende das ganze himmlische Jerusalem, in dessen Licht die Heiligen wohnen.
Die enge Gotteswohnung wächst zur großen Stadt; das Unbefleckte Herz der demütigen Magd von Nazareth wird zur weiten Wohnstatt des Lammes und aller, die ihm zum Hochzeitsmahl folgen. "So ist Maria bei ihrer Aufnahme in den Himmel gleichsam von der ganzen Wirklichkeit der Gemeinschaft der Heiligen umgeben, und ihre eigene Verbundenheit mit dem Sohn in der Herrlichkeit ist ganz auf jene endgültige Fülle des Reiches ausgerichtet, wenn »Gott alles in allem sein wird«".[5]
Die Weihe an das Unbefleckte Herz Mariens – das ist vielleicht die innerste Mitte der Erscheinungen in Fatima – bedeutet, durch die Mutter in das Reich des Sohnes einzutreten bzw. in ihr dem Erlöser zu begegnen. "Im Haus des Herrn wohnen" (Ps 23, 6) heißt dann nichts anderes als in Maria sein und bleiben. Dazu lädt die Botschaft von Fatima ein.
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[1] Es sagt aus, dass dieses neue Israel (das zugleich das wahre alte Israel, das unzerstörte, der durch Gottes gnaden gebliebene heilige Rest), nicht nur Idee, sondern Person ist – Gott handelt nicht mit Abstrakta, nicht mit Begriffen; der Typus von dem die Ekklesiologie des Neuen Testaments und der Väter spricht, existiert als Person." J. Ratzinger, Die Tochter Zion. Einsiedeln 20075.67
[2] "Jesus will sich deiner bedienen, um mich bekannt und geliebt zu machen. Er will in der Welt die Andacht zu meinem Unbefleckten Herzen begründen. Wer sie übt, dem verspreche ich das Heil, und die Seelen werden von Gott geliebt sein wie die Blumen, die von mir hingestellt wind, um seinen Thron zu schmücken"
[3] "Triclinium totius Trinitatis", Triclinium, also der Ort, an dem die Dreifaltigkeit Ruhe findet, weil aufgrund der Menschwerdung die drei göttlichen Personen keinem Geschöpf so wie ihr innewohnen, und Wohlgefallen und Freude verspüren, in ihrer Seele voll der Gnade zu leben. Papst Benedikt, Katechese über den hl. Thomas von Aquin, Generalaudienz 23.6.2010 Das Triclinium war eine bei den Römern beliebte Liege, die für drei Personen bestimmt war.
[4] Das "unverderbliche" Holz ist nicht nur ein Bild für die Bewahrung Mariens vor der Verwesung, sondern vor dem viel grundsätzlicheren Verfall, den der Tod als Trennung von Leib und Seele bedeutet. Maria ist das unzerstörte Heiligtum. Ihr Unbeflecktes Herz hat nicht zu schlagen aufgehört, sondern hat durch seine Erhöhung in die himmlische Herrlichkeit jene Weite gefunden, die alle Heiligen als "Hausgenossen Gottes" aufnehmen kann. Vgl. F. Kolfhaus: Stärker als der Tod. Warum Maria nicht gestorben ist. Illertissen 2016.
[5] Johannes Paul II: Enzyklika Redemptoris Mater. Nr. 41