4. Mai 2019
Am 11. September 1976 fand im Apostolischen Palast in Castel Gandolfo eine denkwürdige Begegnung statt. Erzbischof Marcel Lefebvre wurde von Paul VI. empfangen. Der Gründer der traditionalistischen Priesterbruderschaft St. Pius X. sagte zum Papst: "Wissen Sie, dass in Frankreich beim eucharistischen Hochgebet mindestens 14 verschiedene Kanons verwendet werden?"
Der heilige Paul VI. entgegnete ernüchtert: "Nicht vierzehn, sondern an die hundert …" Das Gespräch berührte eine Reihe von Streitfragen. Erzbischof Lefebvre sagte weiterhin: "Die Kirchenkrise ist da." Woraufhin Paul VI. erklärte: "Darunter leiden Wir zutiefst." – und zugleich dessen öffentlichen Ungehorsam gegenüber dem Papst tadelte, der zur Verschärfung der Krise beigetragen habe. Im Juni 1988 folgte der traurige Höhepunkt. Erzbischof Lefebvre spendete vier Priestern das Sakrament der Bischofsweihe und besiegelte so den Bruch mit Rom. Bis heute dauern die Gespräche zwischen der Priesterbruderschaft St. Pius X. und dem Vatikan an. Bis heute hoffen Katholiken in aller Welt auf eine Versöhnung, auf einen wahrhaft katholischen Frieden. Bis heute auch bestehen – in Europa und anderswo – Formen eines gravierenden liturgischen Eigensinns. Der unheilige Experimentalismus in der Liturgie schuf nach dem Konzil neue Formen priesterzentrierter Gottesdienste und freisinnig kreativer Gestaltungen, vielleicht nicht 14, nicht 100, sondern 10000 verschiedene Kanons. So scheinen, nach Meinung vieler Kleriker und Weltchristen, auch die im Zuge der Liturgiereform neu zugelassenen Hochgebete qualitativ wertlos wie subjektiv revisionsbedürftig zu sein und der pastoralen Lebenswirklichkeit vor Ort nicht zu entsprechen. Die Geschichten hierzu sind bekannt, bekanntlich traurig und oft erzählt worden. Das Zweite Vatikanische Konzil war bestrebt, die Neuevangelisierung zu befördern, zu Glaubensvertiefungen anzuregen und auch die Liturgie behutsam, indessen christozentrisch zu erneuern. In Abschnitt 116 der Konstitution "Sacrosanctum concilium" lesen wir zudem: "Die Kirche betrachtet den Gregorianischen Choral als den der römischen Liturgie eigenen Gesang; demgemäß soll er in ihren liturgischen Handlungen … den ersten Platz einnehmen." Im Sinne des Konzils zu denken, zu glauben und zu leben heißt also, den Gregorianischen Choral zu üben, zu pflegen und zu fördern. Diese Choralmusik wird auch dem Gedanken der vom Zweiten Vatikanischen Konzil nicht anders als vom heiligen Papst Pius X. oder von Papst Pius XII. in seinen Enzykliken gewünschten "participatio actuosa" auf beste Weise gerecht. Die "tätige Teilhabe" der Glaubenden, Hoffenden, Liebenden und Suchenden in der Feier der heiligen Messe gilt es zu bestärken, zu begünstigen und zu festigen. Die liturgische Wirklichkeit, die wir wahrnehmen müssen und der wir so oft ausgesetzt sind, konterkariert jedoch die theologischen Anregungen der Vordenker der "Liturgischen Bewegung", zu denen etwa Romano Guardini und Joseph Pascher gehörten. An beide Theologen möchte ich kurz erinnern.
Guardini schreibt in "Vom Geist der Liturgie" im Jahr 1918 davon, dass Wahrheit die Seele des Schönen sei – und wer die Schönheit aus dem Bezug zur Wahrheit herauslöse, verfalle einer ästhetischen, leeren und eitlen Spielerei. Die Schönheit allein genügt also nicht. Das gilt auch für die Kirchenmusik. Darum sagt Guardini: "Alle wahre Schönheit ist keusch." Zunächst erscheint der Begriff ungewohnt für die Feier der Liturgie. Guardini verdeutlicht aber, dass der sakrale Raum, die Kirche und die liturgische Feier nicht zur Schaubühne für ein kunstfertig dargebotenes Spektakel werden dürfen. Das gilt nicht allein – so können wir sagen – für neugeistliche Schlagermusik, sondern auch für opernhafte Darbietungen. Gefordert werde die "rechte Innerlichkeit". Diese Innerlichkeit möchte sich in heiliger Scheu, in Demut verbergen. Wie ist dem Christen zumute, der singen möchte, künstlerisch auch, am liebsten sich verstecken würde, ja verschwinden wollte in der Weite der Liturgie der Kirche. Guardini schreibt: "Das ist ja die schmerzliche Not aller Innerlichkeit, daß sie sich öffnen will, daß sie nur im Ausgesprochensein vom Druck ihrer Stummheit erlöst wird und doch vor dem Hinaustreten zurückschreckt, weil sie fürchtet, dabei ihr Edelstes zu verlieren. Aller Inwendigkeit Erfüllung liegt in dem Augenblick, da sie sich in wesensgemäßer Form aufatmend erschließt. Aber sofort fühlt sie in wehem Zurückzucken, daß etwas unaussprechlich Kostbares unwiederbringlich dahin ist." Denken wir an die Kirchenmusik, insbesondere an deren höchste und vollendete Form, den Gregorianischen Choral. Der Sänger – der "schaffende Künstler" – verfügt zwar stimmlich über eine hohe Begabung. Er darf aber gerade nicht vom Geist der "würdelosen Welt" erfüllt sein. Zudem soll er weder eine "gewisse Anmut der äußeren Formen" noch eine äußerlich bleibende "gefällige Zierwirkung" suchen. Nur dann, wenn er "feind aller Scheinwirkung" wie "feind aller Eitelkeit" bleibt, wird sein Werk "auch schön" sein: "Sucht er aber diesen mühseligen Weg der Wahrheit zu umgehen und die Form von der Form her zu gewinnen, dann ist eitel Blendwerk, was er hinstellt."
Ein sehr hoher Anspruch wird sichtbar. Wir gewinnen Anteil an wahrhaft schöner geistlicher Musik, weil wir sie vernehmen, weil wir von innen her mitgehen und mit in den Choral einstimmen dürfen, wenn wir als Gemeinde antworten, sensibel, dezent, ja keusch. Oder wenn wir nur zuhören und von innen her uns mitnehmen, uns empor tragen lassen auf den unsichtbaren Schwingen der geistlichen Musik. Wer ein Leben in Schönheit wolle, so Guardini, der dürfe nichts anderes wollen – "als wahr sein und gut". Darum spricht er von Keuschheit. Er wählt also einen moralischen, keinen ästhetischen Begriff. Die Keuschheit stehe für "alle echte Formung": "Und der wahrhaft Verstehende ahnt, daß noch unerschlossene Reichtümer unter dem liegen, was, sich preisgebend, Form angenommen hat. Gerade dies Geben und Mehrhaben, dies Aufsteigen und Wiederzurückweichen leuchtender Tiefen, dies Ringen um den Ausdruck, siegende, jubelnde Hervorbrechen und scheu-schmerzliche Verschließen – das ist des Schönen zartester Zauber."
Auch Joseph Pascher, der liturgische Lehrer Joseph Ratziners in Freising, hat in seinem Werk "Eucharistia – Gestalt und Vollzug" 1952 über den Gregorianischen Choral nachgedacht. Pascher gehört als Liturgietheologe ebenso zur "Liturgischen Bewegung" und kritisiert unter anderem auch deswegen die verheerenden liturgischen Missbräuche in der Nachkonzilszeit. Er stellt 1952 ähnliche Überlegungen an wie Guardini über 30 Jahre zuvor. Pascher orientiert sich stärker am Gregorianischen Choral. Dieser hebe die "Bewegtheit des Herzens" auf eine "ideale Höhe". Der Chor oder die Schola habe die Psalmengesänge der Messe übernommen, nicht nur für die Gemeinde, auch für den Priester und seine Assistenz. Der Priester bleibe von den Rubriken her verpflichtet, die Psalmen zu beten: "Die Vorschrift der heutigen Liturgie bedeutet ihrem Sinne nach, daß der Priester nicht bloß Hörer dieser Gesänge ist, sondern daß er sie mitvollzieht, daß der Chor auch ihn vertritt nicht in Loslösung, sondern in Einfühlung. Praktisch besagt das, daß auch im Zelebranten Resonanz erwartet wird und daß das Lautwerden im Gesang von ihm innerlich mitvollzogen wird. Das gläubige Volk wird ein ähnliches oder gleiches Verhältnis zum Chor annehmen müssen. Die Sängerschola hat ja eine Volksaufgabe übernommen, sicher nicht, um das Volk völlig in die Rolle des bloßen Zuhörers zu versetzen. Es soll vielmehr einschwingen in das, was es hört, und es innerlich mitvollziehen nach der Mahnung des Apostels: »Singet und psallieret Gott in euren Herzen!« (Eph 5, 19) … Der Gesang der Schola überschwebt wie aus ätherischen Höhen kommend die Feier der Gemeinde. Er weckt die heilige Resonanz gleichgestimmter Seelen und klingt aus ihnen und mit ihnen auf zum Preise Gottes. Als Preis des Allerhöchsten ist er Ausdruck jener Gottverherrlichung, die im Opfer Christi zum Throne des Vaters emporsteigt."
Schönheit lässt sich von Wahrheit nicht lösen. Aber die Wahrheit verlangt auch nach der Schönheit der Liturgie, nach ihrer lichtvollen Klarheit, nach ihrem inneren Leuchten. Wir dürfen dankbar sein, zutiefst dankbar, dass die Pflege und Wirklichkeit des Gregorianischen Chorals in vielen Kathedralkirchen erfolgt, in Köln, Regensburg und Münster etwa. Auch in jenen Kirchen wird der Gregorianische Choral gepflegt, in denen katholische Priester die heilige Messe in der überlieferten Form, in der "forma extraordinaria" des Römischen Ritus feiern. Dafür können, dafür dürfen, dafür sollten wir von ganzem Herzen dankbar sein.
Der emeritierte Papst Benedikt XVI. sagte anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Krakau am 4. Juli 2015, die Musik sei eine "große und reine Antwort", eine "Begegnung mit der Wahrheit", ja ein "Wahrheitsbeweis des Christentums" – und er fügt hinzu: "Wo wirklich Begegnung mit dem in Christus auf uns zugehenden lebendigen Gott geschieht, wächst auch immer wieder Antwort, deren Schönheit aus der Wahrheit selber kommt." Vielleicht wachsen wir immer mehr und immer tiefer in diese geistlichen Einsichten hinein, trotz aller liturgischen Verwüstungen und Wüsten in dieser Zeit, und vielleicht gelingt es uns auch, die Keuschheit der wahren Schönheit neu zu entdecken und zu lieben – theologisch denkend mit Romano Guardini, Joseph Pascher und Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. Auf diesem Weg begleiten mag uns auch ein bekanntes Wort der jüdischen Dichterin Hilde Domin, die eine hohe Sensibilität für die Schönheit der Liturgie besaß: "Denn wir essen Brot / aber wir leben von Glanz." Auch darum dürfen wir von innen her dankbar erfüllt sein von dem Glanz der Wahrheit, der in der Schönheit aufleuchtet, die von Oben, von Gott her kommt. Ihn selbst, der bei uns anklopft, der ums uns wirbt, der uns liebt und von uns geliebt sein möchte – und den wir im Sakrament des Altares empfangen dürfen –, mögen wir einlassen in unser Herz.
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