Vatikanstadt - Freitag, 31. Januar 2025, 15:30 Uhr.
Der bekannte Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf hat in einem Interview mit dem Berner Pfarrblatt gesagt, er sei mit „letztverbindlichen Urteilen“ über die Rolle von Papst Pius XII. während der Schoa „sehr zurückhaltend“. Mit seinem Team untersucht er seit 2020 in den Vatikanischen Archiven rund 10.000 Bittbriefe von Juden an den damaligen Papst.
„Schuld ist eine moralische und keine historische Kategorie. […] Eine moralische Bewertung kann höchstens ein zweiter Schritt sein und ist, meiner Meinung nach, nicht unbedingt die Aufgabe des Historikers“, erklärte Wolf.
Auf den Vorwurf, er weiche einer Antwort nur aus, antwortete der Historiker: „Nein, ich bin nur mit letztverbindlichen Urteilen sehr zurückhaltend, weil wir erst seit vier Jahren Zugang zu den Akten des Pontifikats Pius XII. haben.“ Das sei „sehr kurz in Anbetracht der Dokumente“, erklärte er.
Wolf betonte außerdem, dass seit der Öffnung der Pius-XII.-Archive 2020 deutlich wird, wie groß das „bürokratische Durcheinander“ der Kurie gewesen sei. Vieles hänge von einzelnen Mitarbeitern ab – je nach persönlicher Einstellung gaben sie Informationen weiter oder hielten sie zurück. Der Papst sei somit stark von seinem Apparat abhängig gewesen, ähnlich wie ein Unternehmensleiter.
Erst vor kurzem forderte Wolf einen „Paradigmenwechsel“ in der Erforschung der Rolle von Papst Pius XII. während der Schoa, wie CNA Deutsch berichtete. Pius XII. sei „abhängig“ gewesen von dem, was seine Mitarbeiter auf den unteren Ebenen ihm vorlegten. Wolf damals wörtlich: „Wir können ganz genau sehen, dass eine Reihe von Sachen dem Papst einfach vorenthalten werden.“ Er habe zu bestimmten Dingen „gar nicht Stellung nehmen können“.
Bislang wurde dem damaligen Papst in Forschung und Medienberichterstattung vorgeworfen, er habe seine Stimme nicht laut und deutlich gegen den millionenfachen Mord an den europäischen Juden erhoben.
Als Beispiel für eine Vorenthaltung von Briefen nannte Wolf den Fall eines ehemaligen Mitschülers von Pius XII., Attilio Ascarelli, der später ein angesehener Rechtsmediziner wurde. Als er 1938 seine Professur verlor und ihm die Deportation drohte, wandte er sich mit einem Hilferuf an den Vatikan. Der zuständige Kurienbeamte Angelo Dell’Acqua habe sich jedoch entschieden, den Brief nicht an den Papst weiterzuleiten.
Er befürchtete, dass Pius XII. seinem alten Schulfreund helfen würde, was öffentlich bekannt werden könnte. Eine Audienz wäre in der Vatikanzeitung L’Osservatore Romano bekannt geworden und hätte möglicherweise antipäpstliche Angriffe wegen „Judenfreundlichkeit“ provoziert. Deshalb habe Dell’Acqua die Bitte ignoriert. „In diesem Fall wissen wir, dass der Papst Ascarellis Schreiben nie zu Gesicht bekommen hat“, so der Historiker.
Wolf erklärte außerdem, dass der Vatikan durch Berichte von verschiedenen Quellen, wie dem Erzbischof von Lemberg und dem Geschäftsmann Giovanni Malvezzi, von den Gräueltaten an den Juden gewusst habe. Der Erzbischof habe von „Massenerschießungen von Juden“ berichtet und Malvezzi habe über „Vernichtungslager“ in der Ukraine gesprochen, wo fast keine Juden mehr zu finden seien.
Dennoch relativierte Dell’Aqua, der im Vatikan die Informationen sammelte, diese Berichte in seinem Memo für den Papst. Er habe angemerkt, dass Juden es „mit der Wahrheit nicht so genau nehmen“ würden und dass die östlichen Katholiken zu „Übertreibungen“ neigten, so Wolf.
Diese Einschätzung habe dann auch die Antwort des Papstes an die amerikanische Regierung geprägt, in der lediglich von der „strengen Behandlung“ der Juden unter den Nazis die Rede war, erklärte der Historiker.
Ein weiterer Grund für das Schweigen Pius XII. zum Holocaust sei sicherlich auch die „vatikanische Neutralität“ gewesen. „Da sich Pius der Idee der vatikanischen Neutralität verpflichtet sah, hat der Papst auch zur Ermordung einer Million katholischer Polen 1940/41 geschwiegen“, erklärte der Historiker.
„Weil Pius zur Ermordung katholischer Polen schwieg, konnte er 1942 zur Ermordung der Juden nichts sagen. Das hätte niemand verstanden“, sagte Wolf.
Er betonte außerdem, dass es bei den Entscheidungen von Pius XII. nicht nur um den physischen Schutz des Vatikans ging. Die Nationalsozialisten hatten Rom ab 1943 besetzt. Dabei verwies Wolf auf das Kirchenrecht, das das Prinzip „Cura animarum suprema lex“ formuliert, was bedeutet, dass „die Seelsorge das oberste Gebot“ sei. Wolf nimmt an, dass dies ein zentraler Faktor im Handeln von Pius XII. war.
Pius, so Wolf, hätte sich immer für die Seelsorge entschieden, wenn er vor der Wahl stand, entweder seine „Schäfchen zu schützen“ oder öffentlich als Anwalt der Menschenrechte aufzutreten. Diese Entscheidung, erklärt Wolf, folge aus der Verantwortung, „für diejenigen zu sorgen, die Gott ihm anvertraut hat“.