16. Dezember 2025
Der deutsche Sozialstaat gilt vielen als Garant für soziale Sicherheit – doch seine Belastungsgrenzen rücken spürbar näher. In einem neuen Papier warnt die Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) vor einer Überforderung des Systems und ruft zu Reformen auf.
Im Gespräch mit CNA Deutsch erläutert der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer SCJ, wo er die größten strukturellen Schwächen sieht, warum unbequeme Entscheidungen unvermeidlich sind und wie ein gerechter Sozialstaat aussehen kann, der Solidarität und Generationengerechtigkeit miteinander verbindet. Innerhalb der DBK ist er Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen.
Das Papier warnt vor einer Überforderung des Sozialstaats und fordert zugleich Reformbereitschaft. Wo sehen Sie aktuell die größte strukturelle Schwäche des deutschen Sozialstaats, die aus kirchlicher Sicht vorrangig angegangen werden muss?
Der deutsche Sozialstaat ist eine Erfolgsgeschichte. Aber angesichts des demografischen Wandels und immer weniger Beitragszahlenden sind Reformen erforderlich, speziell bei den Sozialversicherungssystemen. Um das System sozialer Sicherung nachhaltig zu stabilisieren, braucht es eine Priorisierung auch im Feld der Sozialpolitik. Das bedeutet, dass genau abgewogen werden muss, welche Maßnahme zum jetzigen Zeitpunkt erforderlich ist und wie sich diese finanzieren lässt. Ansonsten werden der jungen Generation zu hohe Kosten aufgebürdet. Im Fokus zukünftiger Leistungen müssen diejenigen stehen, die einer gezielten Unterstützung bedürfen: etwa Menschen, die trotz langer Versicherungszeiten nur geringe Renten erhalten und von Altersarmut bedroht sind. Es braucht einen gerechten und verlässlichen Sozialstaat.
In dem Text ist von einer notwendigen offenen Debatte „auch über unbequeme Reformen“ die Rede. Welche konkreten Reformschritte halten Sie persönlich für unausweichlich, selbst wenn sie politisch oder gesellschaftlich unpopulär sind?
Eine ehrliche Debatte ist unumgänglich. Das Ringen um die besten Argumente führt zu tragfähigen Lösungen und stärkt zugleich das Vertrauen in die demokratischen Institutionen. Konkret muss über ein moderates Anheben des Renteneintrittsalters nachgedacht werden. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob nicht eine Haltelinie ausschließlich für Personen, die niedrige Renten aus langer Versicherungszeit beziehen, sinnvoll wäre.
Ein anderes Beispiel wäre die sogenannte Mütterrente nur für diejenigen, die die Unterstützung wirklich benötigen. Die Deutsche Bischofskonferenz hat immer die Anerkennung von Erziehungszeiten gefordert. Aber es sollte geprüft werden, welche Frauen eine zusätzliche Ausweitung der Mütterrente wirklich brauchen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können oder um vor Altersarmut geschützt zu werden, und welche nicht. Viele Leistungen sind an und für sich oder aus individueller Perspektive wünschenswert. Aber sie müssen – sozial- und generationengerecht – finanziert werden. Das muss der sozialpolitische Fokus in Zukunft sein.
Mit Blick auf die demografische Entwicklung geraten insbesondere Renten- und Pflegesysteme unter Druck. Welche Kriterien müssten aus Ihrer Sicht erfüllt sein, damit Reformen – etwa beim Renteneintrittsalter oder bei Beitragsmodellen – sozial gerecht und generationengerecht bleiben?
Sozial gerecht zu reformieren bedeutet, dass vor allem diejenigen bei der Rente oder bei der Pflege unterstützt werden, die lange Jahre sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren und trotzdem etwa von Altersarmut bedroht sind. Das entsprechende Prinzip lautet: Zielgenauigkeit statt Gießkanne. Denn, und das hängt unmittelbar zusammen, wir dürfen die junge Generation finanziell nicht überfordern und können die Kosten nicht auf sie abwälzen. Wichtig ist daher, dass die Beitragssätze nicht immer weiter steigen und die Kosten breit verteilt werden.
Das Papier betont die Bedeutung von Solidarität und Eigenverantwortung. Wie lässt sich dieses Spannungsverhältnis praktisch austarieren, ohne dass Leistungsträger überfordert oder schutzbedürftige Gruppen zurückgelassen werden?
Hier komme ich auf die Priorisierung von Leistungen in den Sozialversicherungen zurück. Bei allen zukünftigen Leistungsausweitungen muss genau geprüft werden, ob sie nur individuell wünschenswert oder tatsächlich erforderlich sind. Wenn sie notwendig sind, müssen sie zielgenau erfolgen. Ideen, die Erbschaftsteuer zu reformieren oder den Spitzensteuersatz anzuheben, um die staatliche Handlungsfähigkeit zu erhöhen, sind unter Solidaritäts- und Gerechtigkeitsgesichtspunkten sorgsam zu prüfen. Aber eine Reform der Erbschaftsteuer oder die Anhebung des Spitzensteuersatzes werden nicht ausreichen, um zukünftig die Sozialversicherungssysteme zu finanzieren.
Eine breite Steuererhöhung für alle fände in der Bevölkerung keine Mehrheit. Alternativ die Sozialversicherungsbeiträge zu erhöhen, würde die jüngere Generation über Gebühr belasten und die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland bedrohen. Es braucht also eine sozial- und generationengerechte Priorisierung von sozialpolitischen Maßnahmen.
Hinweis: Interviews wie dieses spiegeln die Ansichten der jeweiligen Gesprächspartner wider, nicht notwendigerweise jene der Redaktion von CNA Deutsch.




