Zum Abschied von Georg Ratzinger: Mein kleiner Bruder, der Papst

Ein Gespräch (*) aus dem Jahr 2011 mit Monsignore Georg Ratzinger über Kindheit, Glaube, Ehrgeiz – und bissige Hunde

Monsignore Georg Ratzinger im September 2011.
Paul Badde / EWTN

Am 1. Juli 2020 ist Monsignore Georg Ratzinger im Alter von 96 Jahren gestorben. Im Jahr 2011 sprach Paul Badde – damals bei der "Welt" – mit ihm über die gemeinsame Kindheit, den Glauben, Ehrgeiz – und bissige Hunde.

Paul Badde: Nach seiner Wahl sind Sie nicht ans Telefon gegangen, als es Sturm klingelte. Haben Sie heute ein "rotes Telefon"? 

Georg Ratzinger: Ja, ich habe ein Telefon, dessen Nummer nur er kennt. Da weiß ich immer gleich, dass er es ist. 

Klingelt es oft? 

Mehrmals die Woche.  

Können Sie und Ihr Bruder noch miteinander scherzen wie früher? 

Scherzen tun wir nimmer, nein. Das entspricht unserem Alter an sich nicht mehr. Da tauschen wir unsere Erinnerungen aus oder Gedanken und dergleichen, aber keine Scherze mehr, nein. 

Können Sie sich denn noch an das letzte gemeinsame Gelächter erinnern? 

Mehr in Deutschland - Österreich - Schweiz

In der Tafelrunde geschieht es natürlich auch heute noch, dass jemand einen guten Witz erzählt. Das passiert immer wieder, das kann man nicht datieren. Da fällt mir zum Beispiel gerade ein schöner ein. Darf ich den rasch erzählen? 

Ich bitte darum. 

Es handelt von einem bedeutsamen CDU-Granden, der früh nach Amerika kam. Da wurde ihm auf einem Empfang Jackie Kennedy vorgestellt. "Kenn i di?", hat er darauf zurückgefragt: "I glaub net. Ich bin zum ersten Mal in Amerika." 

Sehr komisch. Reden Sie mit Ihrem Bruder Deutsch oder Bairisch? 

Barisch. Unsere Muttersprache ist nicht Deutsch, sondern Bairisch – eine eigene Sprache sozusagen, neben dem Deutschen. 

Was ist Ihre allererste Erinnerung an Ihren kleinen Bruder? 

Das kann ich jetzt so nimmer sagen. Den ersten Eindruck? Sehr in Erinnerung ist mir jedenfalls geblieben, wie wir als kleine Kinder in Marktl zusammen zum Kaufhaus Lechner gepilgert sind, er zwischen unserer älteren Schwester Maria und mir, die hatte ihn rechts an der Hand und ich links. 

Es war die einzige Weihnachtsauslage im Ort, die uns sehr angezogen hat, und wo dann im Schaufenster der nette Teddybär ausgestellt war, von dem er nicht genug bekommen konnte.

Erhalten Sie Top-Nachrichten von CNA Deutsch direkt via WhatsApp und Telegram.

Schluss mit der Suche nach katholischen Nachrichten – Hier kommen sie zu Ihnen.

Den Bären hat er ja später in sein Wappen aufgenommen. Als Kind bekam er noch ein Pferd, eine Ente und einen Hund zu seinen Plüschtieren. Sein Hang zu Katzen ist legendär. Bei seiner Priesterweihe sah er hinter dem Altar eine Lerche aufsteigen.

Gibt es Tiere, die er nicht ausstehen kann? 

Er mag keinen bösen und bissigen Hund. Hunde an sich hat er gern. Aber einen bissigen Hund mag er absolut nicht. Und Wespen und so Viecher. Da geht es ihm wie mir, zum Beispiel gestern, als ich bei unserem Nachbarn eingeladen war und in ein Stück Zwetschgendatschi gebissen habe, auf der schon eine Wespe saß, weil ich ja nicht gut sehen kann. 

Die hat mich in die Unterlippe gestochen. Der Stachel war noch nicht ganz drin. Den hat der Nachbar rausgezogen. Frösche mögen wir auch nicht, so Sachen, wissen Sie.

Hatten Sie in der Familie auch Spitznamen? 

Nicht wirklich. 

Nicht Sepp und Schorsch statt Joseph und Georg? 

Diese Namen wurden ein wenig variiert, klar, das ist richtig. 

Wie hat er Sie denn als Kind genannt? 

Gell, das ist jetzt zu privat. Das wollen wir natürlich nicht verraten. 

Die Autorität der großen Brüder ist eine unangefochtene Konstante in vielen Familien. Gab es solch eine natürliche Hierarchie auch bei Ihnen, dass Ihnen in gewisser Weise ein kritisches Machtwort zustand über Ihren Bruder? 

Nein, nein. Da hat mich schon mal irgendjemand gefragt, wie steht’s bei Ihnen? Da sagt der: Ich bin der Älteste und habe Schwierigkeiten bei meinen Brüdern, die Jüngeren bei der Stange zu halten. Das hat es bei uns nie gegeben. Dass einer was über den anderen zu sagen hatte, das war eigentlich nie der Fall bei uns. Ich weiß, dass er vernünftig und verantwortungsvoll ist, und bemühe mich auch darum. So war es immer. 

Sie haben dem Journalisten Michael Hesemann über Ihren Bruder erzählt, dass Sie ein kleines Genie der Unordnung waren. Auf welchem Gebiet war Ihr Bruder damals genial? 

Genie ist wohl zu viel gesagt und übertrieben, ich war gescheit unordentlich, das ja. Bei meinem Bruder war es genau das Gegenteil. Er hat immer Ordnung gehabt. 

Sein Schreibtisch war von Anfang an immer in Ordnung – aber auch er muss dort manchmal suchen. Ich muss in meiner Unordnung suchen und weiß immer genau, wo ich etwas finde in meinem System. Und ihm geht es in seinem Ordnungssystem wohl genauso. Doch suchen müssen wir beide.

Wann haben Sie zum ersten Mal gedacht, dass Ihr Bruder ein Genie ist? 

Das hab’ ich eigentlich nicht gedacht. Ich hab’ natürlich früh gesehen, dass er in der Schule mit Abstand der hellste Kopf war. Dass er "fei recht g’scheit" war, wie man in Bayern sagt, hat jeder gesehen, der ihn erlebt hat von Kindesbeinen an. Dass er eine außerordentliche Auffassungsgabe hat, ist schon in der Volksschule bekannt geworden. Er war ein Schüler, an dem ein Lehrer nur immer große Freude haben konnte. 

Ihre Eltern haben 1920 am 9. November geheiratet. Es ist ein deutsches Schicksalsdatum. Spielte das Datum in Ihrer Familie eine besondere Rolle? 

Überhaupt nicht. Wir haben es lange überhaupt nicht beachtet. Erst der Religionslehrer hat mich später darauf aufmerksam gemacht, dass wir dieses Datum feiern sollten. Es ist ja auch ein großes Fest der Kirchengeschichte, nämlich der Weihe der Lateran-Basilika im Jahr 324, "der Mutter und dem Haupt aller Kirchen", auch wenn das nicht mehr sehr gefeiert wird. 

Darauf bin ich erst später gekommen. Und dass es dann ein deutsches Datum wurde und ein Festtag der Nazis, das haben wir immer zurückgeschoben. Das war immer mit einer großen Negation behaftet. Selbst dass am 9. November 1989 die Mauer fiel, haben wir nie wirklich persönlich genommen.

Es heißt, Ihr Bruder hätte dem Begräbnis von Karl Valentin in Planegg beigewohnt. Jetzt waren Sie bei ihm, als Loriot starb. Wie hat er auf dessen Tod reagiert? 

Das haben wir zufällig erfahren, ich glaube in den deutschen Nachrichten. Nun wissen Sie, in unserem Alter sind mit solchen Todesnachrichten, von denen wir mit der Zeit ja immer mehr erlebt haben, keine besonderen Aufregungen mehr verbunden. Der ist jetzt auch gestorben, und der und der. 

Die Nachrichten sind voll davon. Bei Loriot aber hat mein Bruder von dessen Ring der Nibelungen fröhlich erzählt. Das hat uns gut gefallen.

Schaut er noch oft Nachrichten? Deutsch? Italienisch? 

Gewöhnlich einmal am Tag. Um 8 Uhr hat er bereits die italienischen Nachrichten angehört, zwischendurch die deutschen, die ja meist etwas komprimierter sind. Er kombiniert das. Entweder italienisch oder deutsch. Doch es passiert gelegentlich, dass das ausfällt, weil etwas anderes los ist. Er liest aber den "Osservatore Romano" und andere Zeitungen und durchblättert sogar die alte Heimatpresse. 

Wie schafft er eigentlich das enorme Arbeitspensum, mit der Arbeit bis spät in den Abend hinein? 

Er hat immer enorm viel gearbeitet. Doch nach dem Abendessen arbeitet er im Allgemeinen nicht mehr. Das war schon immer so. Er kann sich untertags enorm konzentrieren und arbeitet sehr schnell und konzentriert, aber er ist überhaupt kein Nachtarbeiter – auch wenn das Licht in seinem Arbeitszimmer vielleicht noch länger leuchtet. Und im Alter wird alle Leistungsfähigkeit reduziert, das merken wir natürlich auch. 

Sie waren niedergeschlagen, damals bei seiner Wahl 2005 … 

… ja, war ich, ja. 

Sind Sie nicht noch niedergeschlagener angesichts der Aufgaben, die noch vor ihm liegen? 

Eigentlich nicht. Ich habe mich mit dem ganzen Komplex versöhnt. Dass sehr viel an ihn herankommt, war mir von vornherein klar. Dass dadurch eben unser Kontakt sich verändert, war auch klar. Doch wer diese x Aufgabe hat und Ja dazu gesagt hat, muss das annehmen. 

Hat er sich danach verändert? 

Er ist immer noch der Alte. Als Mensch hat er sich nicht verändert. Er tut sich keinen Zwang an. Er versucht sich nicht zu verstellen. Er schlüpft in keine Rolle. Er trägt keine Maske. Vielleicht leuchtet der Heilige Geist über ihm, wenn er öffentlich auftritt. Ansonsten ist er nach wie vor der gütige, freundliche und bescheidene Mensch, der er immer war, herzlich und ganz ungekünstelt. 

Er wollte schon mit vier Jahren Kardinal werden. Hatte er denn einen Karriereplan? War er ehrgeizig? 

Niemals, also wirklich nicht! Für 2002 hatte er fest die Pensionierung erhofft. Er hatte so oft geglaubt, an der letzten Station angekommen zu sein – etwa in Regensburg, beim Grab der Eltern. Aber er war immer pflichtbewusst und hat jede Last, die man ihm auferlegte, nach bestem Vermögen getragen. 

Dabei hatte er immer seine Zweifel, ob er das, was von ihm verlangt wird, auch wirklich auf die bestmögliche Weise erledigt und tut, was er kann, um dem Vertrauen gerecht zu werden, das in ihn gesetzt wurde.

Hatte er nicht doch insgeheim mit der Wahl zum Papst gerechnet? 

Bestimmt nicht! Völliger Blödsinn, wenn Hans Küng behauptet, er habe immer eine Position in der kirchlichen Hierarchie angestrebt. Dafür kenne ich ihn zu gut. Er war überzeugt von seiner besonderen Begabung, Theologie zu vermitteln, und von der Gnade, diesen Glauben recht zu denken und zu leben. An äußere Ehrungen hat er nie gedacht. Die waren ihm immer eher unangenehm. 

Ihm hatte der Kindergarten nicht gefallen, auch nicht das Internat. Die Gemeinschaft kam ihm als Folter vor. Wie ist ihm da heute zumute, wenn er die Massen vor sich sieht? 

Mei, des ist ja was anders. Das sind doch irgendwie große Gottesdienste. Da steht jeder Priester auch lieber vor einer gläubigen Gemeinde, die den Kirchenraum ganz füllt, als vor zwei Leuten in den Kirchenbänken. Es ist also etwas ganz anderes, wenn man als Kind in der Schülermasse drinsteht oder wenn man ihr gegenübersteht. 

Und dann stellen sie sich ein Volk vor, das positiv eingestellt ist und in dem Bischof und Papst einen von Gott gesandten Boten erkennen will. Durch den Gott sie anspricht. Das ist eine völlig andere Situation.

Leidet er unter Angriffen in den Medien? 

Er ist sehr sensibel, aber weiß auch, aus welcher Ecke die Angriffe kommen. Er weiß, was meist dahintersteckt. Dadurch überwindet er das leichter – und es hilft ihm natürlich auch die enorme Sympathie, die er immer wieder erfährt. 

Dass viele Menschen – auch Katholiken – in unserer Zeit eher eine Form des Atheismus praktizieren als den christlichen Glauben, haben Sie auch gesagt. Denkt Ihr Bruder, dass diese Entwicklung gewendet werden kann? 

Ich hab’ mit ihm nicht darüber gesprochen und muss Ihnen deshalb meine persönliche Ansicht dazu als Antwort geben. Ich glaube, dass der Mensch schon immer in einem gewissen Widerspruch zu Gott gestanden ist, der uns gerufen hat. Dass dieser Widerstand immer wieder und überall feststellbar ist. Dass aber andererseits auch das Ja zu diesem Angesprochenwerden immer da ist – und dass also das Negative und das Positive immer zugleich da sind. 

Sie haben berührend von der Rückkehr Ihres Bruders und Ihrer Rückkehr aus dem Krieg gesprochen. Welche anderen Ereignisse reichten noch daran heran? 

Was uns noch tiefer getroffen hat, war natürlich der Tod der Eltern und der Schwester, und bei ihrem Sterben dabei gewesen zu sein – in unserer Gemeinschaft, die da reduziert wurde. Da fällt einer nach dem anderen aus dem Kreis heraus. Jetzt sind nur noch wir zwei. 

War die Wahl Ihres Bruders zum Papst nicht dennoch bewegender? 

Die kann man damit nicht vergleichen. Das war auf einer anderen Ebene. Die hatte einen ganz anderen Stellenwert. 

Als kleiner Bub konnte Ihr Bruder auf einer Wiese sitzen und stundenlang Blumen pflücken. Kann er sich heute noch genauso entspannen? 

Nein, das kann er nimmer, glaub’ ich, nein, nein. Stundenlang war es ja auch damals wohl nicht, nur er hat sich sehr, sehr freuen können, in den Blumen. 

Kann er sich immer noch so freuen? 

Ja, er kann sich schon noch sehr freuen. Das ist richtig. Sehr spontan, über gute Nachrichten, an Blumen oder an guten Menschen, natürlich auf eine andere Weise, in einer anderen Etage sozusagen. Er hat sich aufrichtig gefreut, wenn mir seine Bücher gefallen haben – und mich hat es gefreut, wenn ihn eine CD von mir besonders berührt hat. 

Wann haben Sie das letzte Mal abgetrocknet, nachdem Ihr Bruder den Abwasch gemacht hat? 

Das kann ich Ihnen genau sagen. Das war in Pentling nach Weihnachten 2005, als wir in seinem Haus dort zusammen zu Abend gegessen haben. Danach hat mein Bruder gespült und ich habe das Geschirr getrocknet, wie immer. 

Als Papst? Er ist doch im April 2005 gewählt worden! 

Nein, nicht als Papst natürlich. 2004 war er nach Weihnachten gekommen, als Kardinal, und ist dann bis zum 6. Januar geblieben, circa bis Dreikönig 2005. Das war das letzte Mal. 

Wie sehen Sie ihn heute vor allem? 

Er ist genau das geworden, worin er seine Bestimmung sah und was er immer sein wollte: ein guter Lehrer. 

Was liegt ihm nach Ihrer Sicht in seinem Amt am meisten am Herzen? 

Er muss natürlich auf vieles reagieren und ist da nur selten frei. Die Pontifikate werden ja nicht vom Willen des Papstes bestimmt. Dass aber die Liturgie würdig und richtig gefeiert wird, daran liegt ihm sehr. Denn es ist ja gar nicht mehr so einfach, noch eine Kirche zu finden, wo der Pfarrer seinen Gottesdienst noch nach den Vorschriften der Kirche feiert. Viele Priester glauben, sie müssten da etwas hinzufügen und dort etwas ändern. Mein Bruder hingegen wünscht sich eine ordentliche und gute Liturgie, die den Menschen ergreift als Anruf Gottes.x 

Was haben Sie und Ihr Bruder gemeinsam? 

Zunächst einmal die religiöse Einstellung. Das ist die Grundstimmung, die uns trägt, die uns beide als Gläubige doch sehr froh sein lässt, vor allem der Glaube an die Barmherzigkeit Gottes. Dass es einmal gut ausgeht bei den Menschen, die einigermaßen einen guten Willen haben. Das ist unser Glaube. Und das ist uns auch der Grund der Hoffnung, wir sehen: Darauf geht es hin. Nicht auf irgendein Nichts. 

Es geht auf die gesamte Erfülltheit mit Freude hin. Wo nichts mehr dagegen ist. Wo kein Wurm mehr drin ist. Das erfüllt uns mit Freude. Und das trifft für uns beide zu: In einem würdigen und feierlichen Gottesdienst wird das schon vorweggenommen, in einem schönen Kirchenraum, mit wundervoller Musik, in der anbetenden Menge, wo die Leute mit einer Stille erfüllt sind, die nicht angeschafft oder befohlen ist, sondern mit einer Stille, die von selber kommt, wo alle menschlichen Sinne gepackt werden.

Das Auge, das Ohr, vor und nach der Wandlung, und dann aber auch der Geruchssinn durch den Weihrauch. Das ist etwas, was man so in einem weltlichen feierlichen Rahmen nicht hat, auch in dem allerschönsten Konzert nicht.

Und was ist für Sie Glück? 

Ebendies. Diese Erfülltheit und das Getragensein von irgendwo anders her. Diesen Vorgeschmack des Himmels in einem feierlichen Gottesdienst. Glück, wissen Sie, das ist die Anbetung Gottes! 

Redigierte Fassung des Interviews vom 18.09.11 in der "Welt am Sonntag" von Paul Badde.  

Das könnte Sie auch interessieren: