2. Februar 2021
Es ist das Verdienst des Wertethikers Dietrich von Hildebrand (1889-1977), erstmals klar und überzeugend den Unterschied zwischen dem “Guten an sich” und dem “Guten für mich” (oder für den Menschen überhaupt) herausgearbeitet zu haben.
Das erste nennt er Wert, das zweite “das objektive Gut für eine Person”. Außer diesen beiden Bedeutsamkeitskategorien (so Hildebrands Oberbegriff für alles, was für uns in irgendeiner Weise bedeutsam sein kann und deshalb die Macht hat, unseren Willen zu motivieren) gibt es noch eine dritte, das “subjektiv Befriedigende”. Darunter fallen die Gegenstände sinnlicher Neigungen im Sinne Kants. Das objektive Gut für eine Person ist das mir Zuträgliche und Nützliche, z.B. meine Gesundheit und was zur ihr beiträgt. Medizin nehme ich nicht ein, weil sie mir eine subjektive Befriedigung beschert, sondern weil sie meiner Gesundheit nützlich ist.
Wert schließlich ist das, was seinem Träger eine Bedeutsamkeit in sich verleiht. Dazu gehört unter anderem das, was Kant die Würde des Menschen nennt, seinen Selbstzweckcharakter. Ich darf den Nächsten nicht bloß unter dem Gesichtspunkt seines Nutzens für mich betrachten und behandeln, also nicht bloß als Mittel gebrauchen, als ein Gut für mich. Er hat einen Wert in sich, der von mir Achtung und Anerkennung fordert, unabhängig von meiner Neigung und meinen Eigeninteressen.
Um diese drei Bedeutsamkeitskategorien in einem einfachen Beispiel zu erläutern: Wenn ich den Pudding esse, weil er mir schmeckt, dann bin ich von ihm zu meiner Handlung motiviert durch seinen Charakter, den er für mich durch seinen Geschmack als etwas “subjektiv Befriedigendes” hat. Wenn ich die bittere Medizin einnehme, dann deshalb, weil sie für mich ein objektives Gut darstellt. Wenn ich dem Nächsten zu Hilfe eile, dann um seinetwillen: weil er ein Mensch ist und als solcher einen Wert besitzt, der mich in dieser konkreten Situation beansprucht und an mein Gewissen einen Imperativ richtet.
Man könnte sagen: Das subjektiv Befriedigende appelliert an meine Neigungen und Instinkte, das objektive Gut an mein legitimes Eigeninteresse, der sittliche oder sittlich relevante Wert an mein Gewissen.
Die Wertlehre Hildebrands ist noch weitaus komplexer. Sie unterscheidet z.B. ontische und qualitative Werte, und unter letzteren nochmals eine ganze Reihe weiterer Werte wie ästhetische, intellektuelle und moralische (oder sittliche) Werte. Es ist nicht nötig, diese Lehre hier weiter darzulegen, und es gibt viele Einzelheiten, bei denen man anderer Meinung sein kann. Wichtig ist in unserem Zusammenhang, die Unterscheidung zwischen dem in sich Bedeutsamen und Wertvollen, eben dem Wert, und dem für mich Bedeutsamen, dem objektiven Gut für eine Person, zu verstehen. Diese Unterscheidung hat Hildebrand auch Max Scheler (1874-1928) voraus, dessen Wertbegriff beide Aspekte miteinander vermischt. Des weiteren ist es auch wichtig, den Begriff Wert bei Hildebrand als terminus technicus exakt in dem Sinn zu verstehen, wie er ihn auffasst, ohne ihn mit all den mannigfaltigen Bedeutungsfragmenten zu belasten, die die moderne Wertediskussion beherrschen. Wenn etwa von “westlichen Werten” die Rede ist, von Werten der Aufklärung oder auch des Christentums, dann sind das oft so verschiedene Dinge, die nichts mit dem Hildebrandschen Wertbegriff zu tun haben, dass man sich heillos verirrt, wenn man in der Rezeption der Hildebrandschen Wertethik nicht von all dem radikal absieht.
Auch darf der Hildbrandsche “Wert” nicht mit dem Kantischen “Preis” identifiziert werden. Wenn Kant “Preis” und “Würde” gegenüberstellt (“Alles hat entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde”, GMS), dann ist Hildebrands “Wert” eindeutig auf Seiten der “Würde” zu verorten. Auch ist es wichtig zu sehen, dass Hildebrand den Wert als etwas versteht, das unabhängig ist von meiner Wertung. Wenn man sagt “Das und das ist mir wichtig”, intendiert man oft die Aussage: “Für dich oder gar in sich mag es wertlos sein, aber für mich hat es einen Wert.” Eine solche Werthaftigkeit, die in ihrer Bedeutsamkeit, die sie für mich hat, aufgeht, will Hildebrand aus seinem Wertbegriff gerade ausschließen. “Wert” ist für ihn gerade das, was seinem Träger Bedeutsamkeit verleiht vor und unabhängig von meinem Urteil über ihn. “Wert” ist das, was meine Wertschätzung verdient, sich selber aber nicht meiner Wertschätzung verdankt. Das Wertvolle im Sinne Hildebrands ist nicht deshalb bedeutsam, weil ich ihm Bedeutsamkeit beimesse, sondern umgekehrt: Weil es in sich wertvoll ist, beansprucht es, auch für mich bedeutsam zu sein. Die Sensibilität gegenüber dem Wert sagt etwas über meinen Charakter aus. Von einem Menschen, der zu jedem Verbrechen bereit ist, weil für ihn nichts mehr eine Bedeutung hat, von dem sagt man: “Dem ist nichts heilig.” Diese Aura der Heiligkeit im weitesten Sinne, die mir Achtung und Respekt abverlangt, ist das, was die sittlichen und sittlich relevanten Werte auszeichnet.
Deshalb wird Hildebrand auch nicht von der Kritik Piepers getroffen, wenn dieser einer subjektgerichteten Ethik eine objektgerichtete mit den Worten gegenüberstellt: “Wer das Gute wissen und tun will, der muß seinen Blick richten auf die gegenständliche Seinswelt. Nicht auf die eigene 'Gesinnung', nicht auf das 'Gewissen', nicht auf 'die Werte', nicht auf eigenmächtig gesetzte 'Ideale' und 'Vorbilder'. Er muß absehen von seinem eigenen Akt und hinblicken auf die Wirklichkeit” (Die Wirklichkeit und das Gute, S. 11). In diesem Diktum erscheinen die Werte als etwas subjektiv Gesetztes. Davon kann bei Hildebrand nicht die Rede sein. Sie bilden für ihn das Herz der Wirklichkeit. Insofern liegen Hildebrand und Pieper gar nicht so weit auseinander. Beiden geht es um ein angemessenes Verhältnis zur Wirklichkeit. Aber mit seiner Lehre über die Werte und die drei Bedeutsamkeitskategorien kann Hildebrand das nötige begriffliche Instrumentarium bereitstellen, um viele Verwirrungen, Verwechslungen und Missverständnisse zu vermeiden, wie zu zeigen wir noch Gelegenheit haben werden. “Das Gute ist das Wirklichkeitsgemäße”, schreibt Pieper (ebd.).
Aber warum soll ich überhaupt der Wirklichkeit gemäß handeln? Wenn ich die wirklichkeitskonforme Moral nicht einfach nur durch den Rekurs auf mein Eigeninteresse retten will, muss ich den Wirklichkeitsbegriff normativ aufladen. Die Werte sind es, die diese Aufladung rechtfertigen. Sie sind es, die der Wirklichkeit eine solche Normativität verleihen, dass die Verwirklichung des moralisch Guten mehr ist das bloße Sich-Fügen unter Sachzwänge, die die Wirklichkeit mir auferlegt. In diesem Sinne schreibt z.B. Andreas Laun, Thomismus und Wertethik seien sich letztlich einig, “dass als letzte Quelle von sittlich-naturrechlichen Normen die Wirklichkeit zu nennen ist, insofern sie sittlich bedeutsame Werte enthält” (Artikel Norm und Normfindung, in: K. Hörmann, Hg., Lexikon der christlichen Moral, Innsbruck 1976, Sp. 1198). Nur ein wertethisch geläuterter Thomismus vermag dem Verdacht zu begegnen, sich die Normativität des Seins erschlichen zu haben.
Für unseren Zusammenhang ist aus dem Hildebrandschen Spektrum der Wertarten im Moment nur der moralische Wert wichtig. Er bildet die Spitze der Werthierarchie. Ihm darf nie ein anderer Wert vorgezogen werden. In religiöser Sprache bedeutet dies: Ich darf nie um irgendeines Gutes, einer Lust oder eines anderen Wertes willen sündigen. “Sündigen” bedeutet, dass mir irgendetwas Anderes wichtiger ist als der moralische Wert. Ich darf nie gegen mein Gewissen handeln. Gewissen ist ja, wie wir gesehen haben, genau das, was mir den moralischen Wert zeigt. Meine Neigungen zeigen mir nur das Gute-für-mich. Gegen meine Neigungen darf ich handeln, gegen mein Gewissen nicht. Wenn ich das tue, verliert mein Wille seine moralische Gutheit, also genau jene Gutheit, die auch Immanuel Kant gesehen und deutlicher als alle Scholastiker (außer Anselm) herausgestellt hat, als er - wie in Folge 6 zitiert - schrieb, dass allein ein guter Wille ohne Einschränkung für gut gehalten werden könne.
Ich würde lediglich die Exklusivität, mit der Kant in diesem Zitat den Willen als alleinigen Träger des moralischen Wertes hinstellt, korrigieren. Präziser ist es, zu sagen (aber das muss nicht unbedingt im Widerspruch zu seiner Gesamtphilosophie stehen): Der Wille ist der unmittelbare Träger des moralischen Wertes. Aber auch die Person ist es, und zwar kraft ihres guten Willens in Form einer guten Gesinnung. Die Handlung ist es in abgeleiteter Form, insofern sie willentlich ist. Es ist durchaus legitim, von einer moralisch guten Handlung zu sprechen, und sie ist es kraft der Gutheit des Willens, von dem sie getragen wird. Religiös ausgedrückt: Vor Gott richtet sich der Wert einer guten Handlung nach der Größe der Liebe, aus der heraus sie geschieht. Auf jeden Fall ist der moralische Wert immer ein personaler Wert. Nur Personen können moralisch gut sein.
Die beiden Bedeutsamkeitskategorien “Wert” und “objektives Gut für eine Person” decken sich in etwa mit den beiden Begriffen agathon (das Gute) und kalon (das Schöne) bei Platon. Das Agathon ist meistens das Gute im Sinne des mir Zuträglichen, während das Kalón das in sich Gute ist. Auf ihm liegt deshalb der Glanz des Schönen. Eine Tat selbstloser Nächstenliebe ist etwas Schönes. Gerade wegen solcher Schönheit gilt das Sprichwort: “Worte belehren, Beispiele reißen mit.” Beispiele guter Taten, deren Zeuge wir werden, reißen uns mit, faszinieren oder rühren uns, weil wir der überaus großen Schönheit sittlicher Güte gewahr werden.
Wenn wir dies verstanden haben, dann durchschauen wir den Schaden, den eine Strebensethik anrichtet, die das Gute bloß als Gegenstand einer Neigung oder eines Selbstverwirklichungsdrangs auffasst. Eine solche Konzeption drängt auch das in sich Wertvolle in das Prokrustesbett eines bloßen “Guten für mich”, beraubt es seiner Schönheit und Autorität und entreißt dem in solchem Denken Gefangenen die Chance, zu einer klaren, reflexiven und ausdrücklichen Einsicht in den Wert zu kommen, zu einer, wie Hildebrand zu sagen pflegte, prise de conscience. Genau das ist es, was wir bei vielen scholastischen Autoren beobachten können.
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