Analyse: Die konkrete Diplomatie von Johannes Paul II. und ihr Erbe

Vor hundert Jahren wurde Karol Wojtyla geboren. Bevor er Papst wurde, lernte er die zwei großen totalitären Regime des Jahrhunderts kennen. Das verlieh seinem Pontifikat den Odem der Freiheit.

Papst Johannes Paul II. bei den Vereinten Nationen in New York am 5. Oktober 1995
©CATHOLICPRESSPHOTO

"Es gibt viel Polen und viel Kirche in den diplomatischen Gedanken des heiligen Johannes Paul II" schreibt der Vatikanist Andrea Gagliarducci von ACI Stampa, der italienischsprachigen Schwesternagentur von CNA Deutsch, im folgenden Artikel.

Viel Polen, weil das Land, aus dem der Papst kam, mit seiner Geschichte und diesem qualvollen historischen Abschnitt einen jungen Menschen nicht gleichgültig lassen konnte. Und viel Kirche, weil Papst Johannes Paul II trotzdem nie nur ein polnischer Papst war. Er war der Papst der universalen Kirche. Er war der Papst, der die Religion nirgendwo mit Füßen getreten sehen wollte, denn das hatte er in Polen gesehen und generell in den Staaten unter sowjetischer Herrschaft.

Die Diplomatie des heiligen Johannes Paul II. wird mit ihm vor hundert Jahren, am 18. Mai, zwischen 17.00 und 18.00 Uhr abends in Wadowice geboren. Sie wird geboren in einem Polen, das seit kurzem wieder eine Nation ist und doch bereits Druck von Osten und Westen erleidet. Sie entwickelt sich in einem Polen, das erst von den Nazis eingenommen wird und dann von den Kommunisten, um sich dann später, während des Pontifikats, voll zu entfalten.

Der Papst wird im Jahr 1978 ans Steuer des Schiffes Petri berufen. Karol Wojtyła ist ein Papst, der weiß, was es heißt, unterdrückt zu werden und der weiß, was es heißt, auch für das einfache Recht, seinen Glauben zu bekennen, zu kämpfen. Es ist ein Papst, der sich für die erste heilige Messe als Erzbischof von Krakau entschlossen hatte, die wertvollsten und historischen Paramente zu benutzten, um zu bezeugen, dass die Kirche in Polen da ist, dass sie lebt, dass sie eine Institution mit Geschichte ist, obwohl der Atheismus des Staates sie auslöschen will. Aber er ist auch der Papst, der zum stillen – aber nicht zu sehr – Anführer einer Bürgerbewegung wird, um dem Arbeiterviertel von Nowa Huta eine Kirche zu verschaffen. Die Sowjets bauten es ohne Kirche, denn sie wollten die Idee von Gott fernhalten.

Dieses ganze Bewusstsein bringt der Bischof Karol Wojtyła während des Zweiten Vatikanischen Konzils auch ins Zentrum der Kirche.

Das Konzil stellt auch einen neuen Abschnitt der päpstlichen Diplomatie dar, die durch die Kubakrise und die Rolle des Heilige Stuhls, um sie zu verhindern, gezeichnet ist. Infolge der diesbezüglichen Vermittlungsarbeit erschien die Enzyklika Pacem in Terris.

Die Inspiration von Pacem in Terris nimmt der junge Karol Wojtyła auf, der am Zweiten Vatikanischen Konzil teilnimmt. Der Mann, der das nationalsozialistischen und das kommunistischen totalitäre Regime erlebt hat, entwickelt eine ganz besondere Opposition gegen den Kommunismus. Nicht mit Protesten, nicht durch frontale Angriffe, sondern durch intellektuelle Bildung, durch Erziehung zur Freiheit und zur Würde der menschlichen Wesens.

Das Erklärung Dignitatis Humanae, an deren Erstellung Wojtyła eifrig mitarbeitet, stellt ein unglaubliches Werkzeug dar für jene Bischöfe, die sich jenseits des Eisernen Vorhangs befinden und die nun ein Insturment haben, um eine stille Opposition zu schaffen. Karol Wojtyła verbindet die Verteidigung der Menschenwürde mit dem Begriff Nation und stellt sie dem Begriff Staat entgegen.

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In der Zwischenzeit hat die vatikanische Ostpolitik begonnen. Agostino Casaroli wird zuerst von Johannes XXIII. und dann von Paul VI. in die Länder jenseits des Eisernen Vorhangs geschickt, um einen schwierigen Dialog zu beginnen, eine Politik der kleiner Schritte. Das ist keine leicht Aufgabe, die man später "Martyrium der Geduld" nennen wird. Ein vielleicht wenig verstandenes Martyrium, das aber Beziehungen knüpft und die Bedingungen für die Christen beachtlich verbessert.

Johannes Paul II. wählt Casaroli als seinen Staatssekretär. Während der Papst mit seinen Äußerungen übder die Freiheit und Menschenwürde die Völker des Warschauer Paktes erschüttert, garantiert die Diplomatie Casarolis einen Schutz und sorgt dafür, dass die Beziehungen gut bleiben.

Zwischenzeitlich wird Paul Poupard, der unter Johannes XXIII. Staatssekretär war, von Johannes Paul II. berufen, das Sekretariat für die Nichtglaubenden zu leiten und in dieser Rolle beginnt er einen Dialog mit Philosophen und Intellektuellen der Länder jenseits Eisernen Vorhangs, der ganz auf die Kultur gegründet ist. 

Die Äußerungen Johannes Pauls II. einerseits, die Diplomatie Casaroli andererseits und im Hintergrund die kulturelle Debatte, zu denen sich große diplomatische Missionen gesellen, die von Persönlichkeiten wie Kardinal Roger Etchegaray und raffinierten Köpfen wie Kardinal Jean Louis Tauran durchgeführt werden: Dadurch wurde die Berliner Mauer niedergerissen.

Im Augenblick des Mauerfalls beginnt einen neue Ära in der päpstlichen Diplomatie. Ohne die beiden Blöcke als Bezugspunkt arbeitet Johannes Paul II um dem östlichen Teil Europas wieder Atem und Kraft zu verleihen, damit es wirklich wieder mit beiden Lungenflügeln atmet. Er beginnt auch wieder eine Politik der "Konkordate", die jene von Benedikt XV. mit den Staaten, die sich nach dem Ersten Weltkrieg gebildet hatten, gewesen war.

Das letzte vom Heiligen Stuhl feierlich geschlossene Konkordat betraf Polen, im Jahr 1993. Dann kam die Zeit der Abkommen und Johannes Paul II. war ein Großer darin: Zwischen 1979 und 2004 wurden bilaterale Abkommen mit 36 Staaten geschlossen (vor allem mit den ehemals "sowjetischen" Republiken).

Unter diesen Abkommen haben zwei eine besondere "politische Bedeutung" Bedeutung: Der Grundlagenvertrag mit Israel im Jahr 1993 und jener mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO im Jahr 2000. Sie sprechen von einer diplomatischen Linie, die zum Dialog mit allen neigt und hierin die antike vatikanische Tradition aufgreift. Der Heilige Stuhl ergreift nie die Initiative, diplomatische Beziehung zu eröffnen. Er wartet immer auf den Schritt des entsprechenden Staates. Gleichzeitig ist es nie der Heilige Stuhl der diplomatische Beziehungen unterbricht, denn vorrangiges Ziel ist das pastorale Ziel der Präsenz.

Johannes Paul II. verband diese institutionelle Linie mit einer pastoralen Linie. Die Diplomatie war im Grunde ein Dienst pastoraler Art. Das bezeugen unzählige internationale Reisen: Es waren insgesamt 105, in denen er 136 Länder besucht hat.

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Das hauptsächliche Thema war jened der Freiheit der Kirche. Johannes Paul II. machte die Kirche dort sichtbar, wo sie es nicht war, oder schlimmer noch, wo sie verfolgt wurde. Seine erste Reise führte ihn nach Mexiko, wo sich die Priester nicht einmal als Priester kleiden durften. Die zweite Reise ging in seine Heimat Polen, wo er den Vorhang des Kommunismus entzwei riss. Als die Berliner Mauer fiel, besuchte er sofort die ehemals sowjetischen Länder, angefangen mit der tschechischen Republik, in der der Dialog äußerst schwierig war. Er war es, der die Freiheit für die griechisch-katholischen Gläubigen in der Ukraine und in Rumänien forderte. Er war es, der die schwierige Versöhnung mit der orthodoxen Welt förderte, so sehr, dass er zum Patron der polnisch-ukrainischen Versöhnung ernannt wurde.

In seiner Predigt in Warschau, vor 300.000 Personen, betonte er: "Ist meine Pilgerfahrt ins Vaterland in dem Jahr, da die Kirche in Polen den 900. Jahrestag des Todes des hl. Stanislaus feiert, nicht zugleich ein besonderes Zeichen für unser polnisches Pilgern durch die Geschichte der Kirche — nicht nur auf den Pfaden unseres Vaterlandes, sondern auch auf denen Europas und der Welt?"

Er ist ein Kind Polens, das die Sehnsucht nach Freiheit in die ganze Welt bringt. In der Enzyklika Redemptor Hominis aus dem Jahre 1979 wird er zum Sprachrohr der Gläubigen der ganzen Welt.

Die Diplomatie Johannes Pauls II. ist konkret, aber er war sich auch der führenden Rolle der Kirche bewusst. Mehr noch, er wollte, dass die Kirche die Welt leite. Es ist kein Zufall, dass die diplomatischen Beziehungen des Heiligen Stuhls während seines Pontifikats exponentiell ansteigen.

1978 unterhielt der Heilige Stuhl diplomatische Beziehungen zu etwas mehr als 80 Nationen. Als Johannes Paul II. 2005 starb, gab es diplomatischen Beziehungen zu 174 Nationen. Das ist ein Zeichen dafür, dass der Heilige Stuhl anerkannt und respektiert wird. Das bezeugt auch die Tatsache, dass Chile und Argentinien Anfang der 80er Jahre Johannes Paul II. bitten, den Streit um den Beagle-Kanal zu lösen, der dabei war, zu einem Krieg zu führen.

Sicherlich waren es die Reisen, die zu diesem starken Bild der Kirche beitrugen. Aber es waren auch die starken Worte des Papstes zu den großen Fragen der Welt und die Initiativen des ökumenischen und religiösen Dialogs.

Man denkt dabei natürlich an den Gebetstag in Assisi 1986, die erste große Initiative diesbezüglich. Zu den großen Reden über die Freiheit zählt auch jene an die muslimischen Jugendlichen in Casablanca 1985. Eine Rede, die aufgrund ihrer Auswirkungen und ihrer Bedeutsamkeit mit dem Schreiben an die Oberhäupter der unterzeichnenden Staaten der Schlussakte von Helsinki verglichen werden kann. Dazu gesellt sich als drittes auch die Rede, die Johannes Paul 1983 in Lourdes hielt, wo er Präsident François Mitterrand traf.

Es sind Worte, die auch heute noch gelten und eine Warnung für jeden Staat darstellen: "Es ist notwendig - ohne die Komplexität der finanziellen und sozialen Probleme zu leugnen – zuallererst die schwerwiegende spirituelle Dimension zu betrachten, die ihnen zugrunde liegt, wie ich vor zwei Monaten in meinem Heimatland sagte: Ihre konkrete Lösung impliziert die Treue eines jeden zu seinem eigenen Gewissen, einem gut geformten Gewissen, das Gut und Böse unterscheiden kann, das Gerechtigkeit, Liebe und Wahrheit will; ein Gewissen, das das Gehemnis Gottes achtet, der allein den moralischen Anforderungen ihren vollen Sinn geben kann: Ein Gewissen, das empfänglich ist für die Botschaft des Evangeliums."

Das Thema der Freiheit ist zentral, aber diese Freiheit ist zuallererst die Freiheit, an Gott zu glauben und den Glauben zu leben. Aus diesem Glauben kommt die inhärente Würde der Kinder Gottes, die zu den großen Kämpfen für Leben und Familie führt: Die Positionen des Heiligen Stuhl bei der Weltbevölkerungskonferenz 1994 in Kairo und bei der Weltfrauenkonferenz 1999 in Peking sind in die Geschichte eingegangen. Positionen, die der "Kultur des Todes" die sich durch Drängen für die Liberalisierung der Abtreibung abzeichneten, offen entgegenstanden.

Das Thema der Freiheit ist auch zentral, wenn über den Frieden gesprochen wird. Mit Johannes Paul II. entwickelt sich der Begriff der "humanitären Einmischung" - die Notwendigkeit einzugreifen, wenn es notwendig ist, um die humanitären Bedingungen zu verteidigen. Das ist ein Thema, mit dem der Heilige Stuhl sogar die Aporie der Schlussakte von Helsinki übertraf, die die Unverletzlichkeit der Grenzen und auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker vertrat.

Aber dieser Papst, der tausend diplomatische Kämpfe kämpft mit Worten, Reisen, Treffen, Gesten, Aufrufen... ist sich auch bewusst, dass die Diplomatie eine komplexe Maschinerie ist, und geht mit Ausgewogenheit vor. Hier ist es, wo der Pfarrer von Nowa Huta dem Erzbischof von Krakau weicht.

Wie damals, als sich Johannes Paul II. in der schwierigen Situation befindet, vom 28. Mai bis 2. Juni 1982 eine Reise nach Großbritannien geplant zu haben. Kurz zuvor entfesselte sich der Falklandkrieg und auch die Mahnungen des Papstes hatten den Konflikt nicht verhindern können. Argentinien nimmt die Inseln ein, England schickt Truppen.

Johannes Paul II. befindet sich in der schwierigen Lage, zu entscheiden, ob er die Reise bestätigen und so den Eindruck erwecken soll, England zu unterstützen; oder ob er sie absagen und so den Eindruck erwecken soll, Argentinien zu unterstützen. Überraschend kündigt er eine Reise nach Argentinien vom 11. bis 13. Juni an; er schickt einen Brief an das argentinische Volk, in dem er erklärt, warum er die Reise nach Großbritannien nicht absagen kann, die wichtige ökumenische Auswirkungen hat und bei der er auch den argentinischen Katholiken dort Unterstützung bringen wird. Am Tag nach seiner Abreise aus Argentinien sind die Falklandinseln wieder unter englischer Herrschaft und General Galtieri, der Präsident des Landes, tritt zurück.

Die Diplomatie Johannes Pauls II. ist voll von derartigen Gesten: Nach dem "Balconazo" (einer politischen Ansprache von einem Balkon aus) des chilenischen Diktators Pinochet, der den Papst mit einer List dazu brachte, auf dem Balkon der Casa Rosada zu erscheinen, um dann sofort selbst neben ihm aufzutauchen, organisierte Johannes Paul II. sofort ein Treffen mit den Führern der chilenischen Opposition, das ursprünglich nicht vorgesehen war; als der Papst 1989 Osttimor besuchen wollte, das von Indonesien besetzt war, küsste er – statt der Erde, wie er immer tat, wenn er in ein Land kam – ein Kruzifix, das auf die Erde gelegt wurde, um nicht den Eindruck zu erwecken, die Idee der Besetzung zu unterstützen.

Johannes Paul II. liebte den Begriff der Nation, mehr als den Begriff Staat. Er blickte auf die Würde der Völker und unterstützte deshalb die multilateralen Organisationen: Er besuchte zwei Mal die Vereinten Nationen in New York, ein Mal den Europarat, ein Mal die Internationale Arbeitsorganisation in Genf. Immer mit der Idee, die Freiheit der Kirche zu verteidigen. Denn – wie er im UNO-Glaspalast in New York erklärte – die Freiheit ist "auf die Wahrheit hin geordnet und sie verwirklicht sich in der Suche nach der Wahrheit und in Umsetzung der Wahrheit. Von der Wahrheit über die menschliche Person getrennt, verfällt sie im individuellen Leben in Zügellosigkeit und im politischen Leben in die Willkür der Starken und die Arroganz der Macht. Deshalb ist die Bezugnahme auf die Wahrheit über den Menschen, die universell erkennbar ist durch das moralische Gesetz, das im Herzen eines jeden eingeschrieben ist, weit davon entfernt, eine Begrenzung oder eine Bedrohung der Freiheit zu sein; sie ist, in Wirklichkeit, die Garantie der Zukunft der Freiheit.

Die Diplomatie Johannes Pauls II, ist keine Diplomatie, die mit der Tradition der Kirche bricht, wie einige behaupten. Es ist eine konkrete Diplomatie des Zeugnisses, mit einem festen Bewusstsein der Rolle der Kirche. Eine Diplomatie, deren Leitlinien sich in gewisser Weise in den Herausforderungen zusammenfassen lassen, von denen der Papst in seiner letzten Ansprache an das Diplomatischen Korps am 10. Januar 2005 sprach: Die Herausforderung des Lebens, die Herausforderung des Brotes, die Herausforderung der Friedens, die Herausforderung der Freiheit. Diese vier Herausforderungen sind es, die die diplomatischen Aktivitäten des Heiligen Stuhls seit jeher durchdrungen haben und die in Johannes Paul II. einen außergewöhnlichen Vermittler gefunden haben.

Johannes Paul II. hat es geschafft, die Berliner Mauer einzureißen und dem Brandenburger Tor seine ursprüngliche Rolle wiederzugeben. Er hat versucht, denen eine Stimme zu geben, die keine Stimme haben. Er hat gearbeitet, um die Schwächsten zu verteidigen. Er hat gekämpft, damit Gott nicht von der Geschichte ausgeschlossen würde. Vor allem aber hat er für die Freiheit aller, zu glauben, gekämpft. Er hat es immer auf konkrete Weise getan, aber nie ohne die Zeichen der Kirche beiseite zu lassen. Er hat sie vielmehr für seinen vorrangigen pastoralen Zweck genutzt: jenen, das Evangelium zu verkünden. Letztendlich war der Erzbischof, der die wertvollen historischen Gewänder der Erzdiözese Krakau trug, dann doch immer auch der Erzbischof von Nowa Huta.

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