Die Kirchengeschichte lehrt Illusionslosigkeit und Zuversicht. Vor dem Hintergrund von zweitausend Jahren Christentum erscheinen auch heute kontrovers diskutierte Betrachtungen – in diesen Tagen etwa die sibyllinischen Mutmaßungen des Hildesheimer Bischofs Dr. Heiner Wilmer über die "DNA der Kirche" – als zeitgeistliche Phänomene in säkularen Diskursen.

Theologische Nebelbildungen, auch aus dem Mund von Bischöfen, hat es zu allen Zeiten gegeben. Sie evozieren begründete Einsprüche – auch von einfach gläubigen Christen. Kardinal Walter Brandmüller, der am 5. Januar 2019 seinen 90. Geburtstag feiert, lehrte stets, dass das Credo der Kirche ein verlässlicher Wegweiser ist. Die Geschichtswissenschaft gehört zu den Disziplinen der Aufklärung, auch um die menschliche Fantasie, die politische Korrektheit oder die vielgestaltige Ahnungslosigkeit, mit der die Geschichte der Kirche verzeichnet oder dargestellt wird, effektiv einzuhegen und zu entlarven. Der Name Brandmüller steht für historische Genauigkeit. Er wusste als Professor für Kirchengeschichte, mit dem Titel eines seiner Bücher gesagt, "Licht und Schatten" klar zu benennen und Geschichtsfälschungen aufzudecken. Daran mangelt es auch heute nicht. So hätte wahrscheinlich der Reformator Martin Luther sich selbst gewundert, wenn er gewusst hätte, dass er zu einem politischen Befreier stilisiert und als Vordenker der modernen Demokratie fünfhundert Jahre nach den Wittenberger Thesen glorifiziert würde. Unter römisch-katholischen Christen etwa wird – und das bis weit in die Universitäten hinein – über das "Konzil" gesprochen, als ob das letzte ökumenische, also allgemeine Konzil, nämlich das "Zweite Vatikanische Konzil" nicht nur das einzig wahre und vielleicht sogar allein seligmachende, sondern auch das einzige Konzil der Kirchengeschichte gewesen wäre. Hierüber hätten vor allem die Konzilsväter sehr gestaunt, ebenso der heilige Papst Johannes XXIII. Die pointierte Frage eines theologischen, glaubenstreuen Aufklärers wie Walter Brandmüller in Bezug auf emphatische Bekenntnis zu "dem Konzil" lautete heute möglicherweise: "Von welchem Konzil sprechen Sie denn?"

Die Kirchengeschichte lädt ein zu Differenzierung und erfordert sorgfältige Studien. Zu den großen Lehrern der Kirchengeschichte zählt der am 5. Januar 1929 in Ansbach geborene Kardinal Walter Brandmüller, der von 1964 bis 1970 in Dillingen, danach bis 1997 als Ordinarius für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Augsburg lehrte. Von 1981 gehörte er der Päpstlichen Kommission für Geschichtswissenschaft an, von 1998 bis 2009 fungierte er als deren Präsident. Im Konsistorium vom 20. November 2010 wurde er von Papst Benedikt XVI. zum Kardinal kreiert. Eine Woche zuvor empfing Brandmüller das Sakrament der Bischofsweihe und wählte ein charakteristisches Motto für sein Wappen: "Ignem in terram".

Die Leidenschaft für Christus ist dasselbe wie die Leidenschaft für die Wahrheit. So steht Kardinal Brandmüller bis heute ein, als wortmächtiger Zeuge, für die anstößige Wahrheit des Glaubens. Er meldete sich zu Wort, als Gelehrter, als Bischof und Kardinal, als Streiter für Gott, der auch – und das sei anlässlich seines hohen Geburtstages betont – wider den Atheismus kämpfte und in das philosophische Gespräch der Zeit eintrat. Auch daran gilt es zu erinnern. Brandmüller beschäftigte sich unter anderem mit den philosophischen Überlegungen von Jürgen Habermas, so wie 2004 der damalige Kardinalpräfekt Joseph Ratzinger, so wie heute Pater Engelbert Recktenwald in der Zeitschrift "Theologie und Philosophie". Warum ist die Auseinandersetzung mit der Philosophie von Habermas heute wichtig? Mit Ingo Langner führte Kardinal Walter Brandmüller 2010 ein Gespräch über den Atheismus, in dem er auf den Frankfurter Philosophen zu sprechen kommt: "Denkende Ungläubige wie Jürgen Habermas haben inzwischen erkannt, dass Religion eine menschliche Grundkonstante ist und absolut nichts mit mangelnder Aufklärung zu tun hat." Ebenso anerkennt er dessen "gewisse Skepsis gegenüber einer allzu selbstsicheren – also unaufgeklärten – Aufklärung". Brandmüller aber kritisiert Habermas’ Ausweichen vor der Wahrheitsfrage. Interessanterweise korrespondiert dies mit dem jüngst vorgelegten Beitrag Recktenwalds, der präzise "Das Dilemma der nachmetaphysischen Vernunft" vorstellt. Seine Gedanken konvergieren mit Brandmüllers Überlegungen. Recktenwald schreibt: "Einerseits will Habermas das Wahre an der Religion im Geist der Aufklärung retten, andererseits betont er immer wieder, dass die säkulare Vernunft sich nicht anmaßt, über die Wahrheit der Religion zu richten. Aber wie soll es möglich sein, ohne Urteil über den Wahrheitsgehalt die wahren und damit rettungswürdigen Gehalte der Religion aus der Gesamtmasse des religiös Geglaubten herauszufiltern?" Kardinal Brandmüller würde das gewiss bestätigen. Habermas bleibt zwar im Diskurs – betont ernsthaft – und in gleicher Weise auch agnostisch, religiös unmusikalisch. Brandmüller erkennt, dass Habermas erkannt habe, dass ein glaubensloses Wissen selbstzerstörerisch wirken könne. Es bedürfe darum eines "wirksamen Korrektivs". Die Aufklärung, so Brandmüller, habe wichtige, positive Aspekte mit sich gebracht, etwa die "Wendung gegen die kritiklose Übernahme konventioneller Wahrheiten" – also gegen etablierte Weltanschauungen –, die Abgrenzung gegenüber Aberglauben, Schwärmerei und Fanatismus, die Gleichheit vor dem Gesetz und die Entwicklung von Presse- und Meinungsfreiheit. Negativ zu beurteilen sei aber die Religionsfeindlichkeit, mit der, auch heute, religiöse Menschen als "geistig Zurückgebliebene" angesehen würden. So empfiehlt Brandmüller "Vorsicht bei der Vergabe von Intelligenznoten für Gläubige". In der geistigen Auseinandersetzung bemühte sich der Kardinal nie um Kompromisse – in der theologischen Unterscheidung der Geister wären untaugliche Arrangements und diplomatische Akte deplatziert. Sein Werk bezeugt einen immensen Reichtum an geschichtlichen Kenntnisse und theologischer Bildung, vor allem stehen der Kardinal und sein Werk für die lichtreiche Klarheit des christlichen Glaubens. Theologisch können wir die Ambivalenz der Aufklärungsbewegung erkennen, die einerseits positive, zu würdigende Resultate hervorgebracht hat. Die Aufklärung wurzelt aber bereits in der Theologie, in der Geschichte der Kirche – das Christentum ist genuin Religionskritik. Es muss auch nicht entmythologisiert werden, es ist, im Gegenteil, selbst der Motor der Entmythologisierung, beginnend mit der Aufklärung über antike Weltanschauungen und Mysterien bis hin zur Abweisung des postmodernen Relativismus. In Anbetracht von Blaise Pascal, Isaac Newton und René Descartes, die gläubige Christen gewesen wären, empfiehlt Brandmüller "Vorsicht bei der Vergabe von Intelligenznoten für Gläubige", die mitnichten "geistig Zurückgebliebene" seien. Der Kardinal erklärt: "Ohne Vernunft kann man nicht glauben! Aufgabe der Vernunft ist es, die Glaubwürdigkeit dessen zu prüfen, dem ich glauben will. Erst wenn diese Glaubwürdigkeit feststeht, kann ich vernünftigerweise glauben. Ich glaube also nicht, weil ich z. B. es für vernünftig halte, dass Gott in drei Personen ein Einziger ist, sondern weil ich mich davon überzeugt habe, dass diese Aussage von Gott geoffenbart ist." Die Suche nach Gott müsse nicht sofort in eine "Kircheneintrittserklärung" münden. Er betont aber voller Zuversicht: "Und wer weiß, ob nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt doch dieser Schritt erfolgt?"

Brandmüller zählte zu den vier Kardinälen – die sogenannten "Dubia"-Kardinäle, zu denen auch die bereits verstorbenen Carlo Caffara und Joachim Meisner gehörten, sowie Kardinal Raymond Burke –, die kritischen Fragen an Papst Franziskus zu dem Apostolischen Schreiben "Amoris laetitia" vorgebracht und öffentlich gemacht hatten. Die Fragen stehen bis heute unbeantwortet im Raum. Abschließend seien noch ein zeitgenössischer Streitpunkt bedacht. Trägt die Kirche die Schuld am Missbrauchsskandal? Ist die katholische Kirche, gestiftet durch Jesus Christus, dadurch vollständig unglaubwürdig oder gar "unheilig" geworden? Sind vielleicht sogar die heiligen Sakramente entwertet und nivelliert? Kardinal Brandmüller sagte im Gespräch mit Ingo Langner 2010 in großer Gelassenheit: "Eine Unterscheidung zwischen der Kirche und den Gliedern der Kirche ist notwendig, da die Zugehörigkeit des Einzelnen zur Kirche dessen Personsein und damit seine individuelle Verantwortlichkeit für sein sittlich relevantes Handeln keineswegs aufhebt. Ein kollektivistischer Kirchenbegriff, der eine Verantwortlichkeit des Ganzen für das Handeln des einzelnen Kirchengliedes bzw. ein Aufgehen des Einzelnen im Ganzen statuieren würde, widerspricht sowohl dem Wesen der menschlichen Person als auch dem der Kirche." Und damit ist vielleicht auch alles Nötige hierzu gesagt.

In großer Dankbarkeit für sein kirchengeschichtliches Wirken und für sein Zeugnis für die anstößige Wahrheit des Glaubens sei Kardinal Walter Brandmüller zum 90. Geburtstag herzlich gratuliert, ad multos annos!

Dr. Thorsten Paprotny lehrte von 1998 bis 2010 am Philosophischen Seminar und von 2010 bis 2017 am Institut für Theologie und Religionswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover. Er publizierte zahlreiche Bücher im Verlag Herder. Gegenwärtig arbeitet er an einer Studie zum Verhältnis von Systematischer Theologie und Exegese im Werk von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. Er publiziert regelmäßig in den "Mitteilungen des Instituts Papst Benedikt XVI.".

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