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Um eine Philosophie des Guten: 17. Gibt es Werte?

Oriel College, Oxford. Hier studierte der australische Philosoph John Leslie Mackie bis 1940.

John Leslie Mackie (1917-1981) wurde 1977 mit seinem Buch Ethics. Inventing Right and Wrong der Begründer der Irrtumstheorie in der Ethik. Der Irrtum, der in diesem Begriff gemeint ist, besteht in der Annahme, dass es objektive Werte gibt. Im Alltag sind wir alle Wertobjektivisten. Wenn wir über eine Handlung, z.B. über das mutwillige Anzünden einer Katze (dieses Beispiel bringt Gilbert Harman, den wir auch noch kennenlernen werden, in seinem im gleichen Jahr erschienenen Buch The Nature of Morality: An Introduction to Ethics), sagen: “Diese Handlung ist böse”, dann beanspruchen wir, etwas über die Handlung auszusagen. Wir schreiben ihr eine moralische Eigenschaft zu. Aber, so meint nun Mackie, diese Eigenschaft gibt es nicht. Deshalb sitzen wir mit solchen Urteilen einem Irrtum auf. Die Aufgabe des Philosophen besteht nicht zuletzt darin, uns über den Irrtum unseres alltäglichen Wertobjektivismus aufzuklären.

Wir erkennen den Unterschied zum Präskriptivismus eines R. M. Hare: Dieser glaubt, dass unsere Werturteile gar nicht den Anspruch erheben, etwas Reales im Sinne des Wertobjektivismus auszusagen, sondern lediglich Äußerungen unserer Billigung oder Missbilligung seien und als solche auch gemeint seien. Deshalb seien sie gar nicht wahrheitsfähig, oder präziser: wahrheitswertfähig: Sie können weder wahr noch falsch sein, weil sie in Wirklichkeit versteckte Imperative seien. Der Imperativ “Quäl diese Katze nicht!” ist nicht wahr oder falsch, sondern eine Willensäußerung.

Doch mit dieser Auffassung vergewaltigt Hare unser Alltagsverständnis moralischer Urteile. Darin stimmen Mackie und die Wertrealisten überein. Selbstverständlich glauben wir, dass wir nicht bloß unsere subjektiven Präferenzen zum Ausdruck bringen, wenn wir Tierquälerei, Menschenrechtsverletzungen oder Rassendiskriminierung verurteilen. Wenn wir solches für moralisch verwerflich halten, verstehen wir unser Urteil nicht nur als einen Ausdruck unseres Geschmacks, über den sich nicht streiten lässt, sondern erheben einen Wahrheitsanspruch, den anzuerkennen wir von allen Mitgliedern der Gesellschaft erwarten. Ja, wir erwarten vom Staat sogar die notfalls gewaltsame Verhinderung solcher Verbrechen, also den effektiven Schutz von Rechtsgütern wie dem menschlichen Leben und seiner Integrität, die aufgrund ihres intrinsischen Wertes diesen Schutz auch tatsächlich verdienen.

Mackie gibt im Gegensatz zu Hare zu, dass unsere moralischen Urteile diesen Wahrheitsanspruch erheben und tatsächlich wahrheitswertfähig sind. Im Gegensatz zu den Wertrealisten hält er sie allerdings nicht für wahr, sondern für falsch. Sie erheben den Anspruch zu Unrecht. Wir irren uns, wenn wir glauben, dass es in der Wirklichkeit Werte gibt.

Es ist neben dem Argument aus der Relativität vor allem das aus der angeblichen Absonderlichkeit (queerness), das Mackie gegen die Existenz von Werten ins Feld führt. Hier rächt sich nun Moores mangelnde Unterscheidung zwischen dem moralisch und außermoralisch Guten und seine kryptische Rede von der nichtnatürlichen Eigenschaft “gut”. Während es diese nichtnatürliche Eigenschaft, auf die das Wort “gut” in seiner allgemeinen Bedeutung angeblich referiert, tatsächlich nicht gibt, existiert der moralische Wert sehr wohl, und er ist uns im Alltag so evident, dass wir in unseren sozialen Beziehungen nie von ihm abstrahieren können. Und von ihm gilt auch nicht der zweite Teil der Aussage Moores über das Gute, “dass es nicht definiert werden kann, und mehr ist nicht darüber zu sagen” (Principia Ethica, S. 36). Man kann, auch wenn eine klassische Definition unmöglich ist, dennoch sehr vieles über den moralischen Wert sagen, z.B. dass er ein Wert ist, dessen Träger nur Personen und personale Akte wie Willensakte, Maximen, Gesinnungen und Handlungen sein können, dass er seinen Träger lobenswert macht, dass er Anerkennung verdient, dass er eine Quelle von Normen ist, dass er zwischenmenschliche Beziehungen qualifiziert und vieles weitere mehr. Er kann nur deshalb nicht definiert werden, weil er tatsächlich eine letzte, irreduzible Urgegebenheit ist, die aber jedem so zugänglich ist, dass der berühmte Anfangssatz Kants in seiner Grundlegung jedem sofort verständlich ist: “Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.” Ich habe noch nie erlebt, dass es jemandem unverständlich wäre, wovon Kant hier redet. Was ein guter Wille ist, ist jedermann klar. Es mag sein, dass es uns beim Versuch, es zu erklären, so ergeht wie dem hl. Augustinus mit der Zeit: “Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht.” Aber wir haben in vielen Fällen kein Problem damit, “gut” zu erkennen und von “böse” zu unterscheiden, z.B. in moralisch eindeutigen Fällen von Handlungen, etwa von großzügiger Hilfsbereitschaft auf der einen oder betrügerischer Habgier auf der anderen Seite. Der moralische Wert ist uns im alltäglichen Denken und Handeln vertraut. Diese Vertrautheit ist das Gegenteil jener Absonderlichkeit, von der Mackie spricht. Dass es auch Grenzfälle gibt, in denen uns ein moralisches Urteil, also die Erkenntnis der Moralität einer Handlung schwerfällt, ist ebensowenig ein Grund, am moralischen Wert in den offensichtlichen Fällen zu zweifeln, wie die Farbe türkis ein Grund ist, die Verschiedenheit der Farben “blau” und “grün” in Frage zu stellen.

Mackie dehnt sein Argument aus der Absonderlichkeit auch auf die Erkenntnisebene aus, wenn er schreibt: “Wenn wir uns ihrer [der objektiven Werte] vergewissern könnten, müßten wir ein besonderes moralisches Erkenntnis- oder Einsichtsvermögen besitzen, das sich von allen anderen uns geläufigen Erkenntnisweisen unterschiede” (S. 44). Aber genau das haben wir! Hat Mackie noch nie etwas vom “Gewissen” gehört?

Tatsächlich spricht Mackie vom Gewissen, aber erst viel später und in anderem Zusammenhang, nämlich dort, wo es ihm um den Gegenstand der Moral geht. Für Mackie ist dieser Gegenstand nicht eine Wirklichkeit, die von uns zu erkennen, sondern eine, die zu konstruieren ist: “Die Moral gilt es nicht zu entdecken, sondern zu entwickeln oder auszuarbeiten” (S. 132). Mackie hält das Gewissen infolgedessen nicht für ein Erkenntnisorgan, sondern konzipiert es frei nach Freud als das Resultat “der Verinnerlichung morali scher Forderungen, die in der Kindheit von außen an uns herangetragen werden” (S. 156).

Wenn er nun daraus folgert, dass “die inhaltliche Füllung der Moral” nicht dem Gewissen jedes einzelnen überlassen bleiben dürfe, dann erkennen wir, dass die letzte Konsequenz seiner Auffassung die moralische Entmündigung des Einzelnen ist, das Gegenteil der Kantischen Autonomie. Das Gewissen des Einzelnen wird seiner Autorität beraubt. Es liefert keine Erkenntnis, aufgrund dessen der Einzelne zu einem moralischen Urteil befähigt wird, weil es die Werte, die zu erkennen der Wertobjektivist sich einbildet, gar nicht gibt.

Es ist tragisch, dass es Mackie gelungen ist, die Unplausibilität des Mooreschen Begriffs des Guten als einer nichtnatürlichen Eigenschaft auf den Begriff des Wertes mit solchem Erfolg zu übertragen, dass die Auffassung von der angeblichen Absonderlichkeit der Werte weite Verbreitung gefunden hat, sogar in philosophische Einführungswerke wie die Grundbegriffe der Ethik zur Einführung der bekannten Junius-Serie (2. überarbeitete Auflage 2006), wo Gerhard Schweppenhäuser schreibt: “Wenn Moralphilosophen von Werten sprechen, kann mitunter Seltsames dabei herauskommen” (S. 9). Mit diesem Seltsamen meint er den Wertrealismus von Max Scheler, der einen “Kosmos der Werte” gelehrt habe, “der ganz unabhängig von den Menschen existiere.” Der Eindruck des Seltsamen löst sich auf, wenn man versteht, was mit dieser Unabhängigkeit gemeint ist. Scheler war ein Phänomenologe aus der Schule Husserls. Husserl war neben Frege der Hauptüberwinder des logischen Psychologismus, indem er den Wesensunterschied zwischen den notwendigen Gesetzen der Logik und den empirischen Gesetzen unserer Psyche aufzeigte. Die logischen Denkgesetze sind kein psychisch bedingter Denkzwang, sondern gelten unabhängig von den Mechanismen unserer Psyche. Was Husserl für die Logik leistete, leistete Scheler für die Ethik. So wenig wie die Logik kann auch die Ethik in Psychologie verwandelt werden. Das Gewissen, das mir die Tötung eines Kindes verbietet, ist kein bloß psychisches Phänomen, etwa im Sinne einer Trieb- oder Handlungshemmung, sondern konfrontiert mich mit dem Wert menschlichen Lebens, in dem die moralische Norm des Tötungsverbots fundiert ist völlig unabhängig von meinen Wünschen und Interessen. “Die Würde des Menschen ist unantastbar”: Wenn dieser Satz mehr als eine fromme façon de parler sein soll, dann setzt er gerade diese Unabhängigkeit voraus. Wie schnell der Abschied vom Wertrealismus in einen Rückfall in den ethischen Psychologismus münden kann, führt uns Schweppenhäuser vor Augen, wenn er meint: “Vieles spricht dafür, Werte als relativ auf Bedürfnisse bezogen zu verstehen” (S. 12).Um das näher zu erklären, bemüht er Wolfgang Schlüters angeblich materialismus-kompatible Anthropologie: “Werte resultieren demzufolge aus psychischen Reaktionen auf Triebbefriedigungsaufschub.”

Doch noch kläglicher ist es, wenn katholische Theologen die Existenz von Werten leugnen und sich dabei auf Mackie berufen, so als ob dieser eine Autorität in dieser Frage darstellte. Christoph Hübenthal tat es, als er Papst Benedikts Bundestagsrede und deren Plädoyer für das Naturrecht kritisierte mit dem Argument, der Natur seien “keine ontologisch fragwürdigen Werte” eingeschrieben (im Sammelband Verfassung ohne Grund? Die Rede des Papstes im Bundestag, Herder 2012). Dass Mackies Anschauungen solchen Einfluss gewonnen haben, ist ein Alarmzeichen für den Zustand der akademischen Theologie und für die Notwendigkeit, eine solide Basis für eine Philosophie des Guten zurückzugewinnen.

(Die Geschichte geht unten weiter)

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