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Um eine Philosophie des Guten: 18. Die Erkenntnisrelevanz des moralischen Werts

Zahnrad eines Uhrwerks (Illustration)

Eine der wichtigsten Folgerungen, die wir aus der metaethischen Diskussion ziehen können, besteht in der Erkenntnis über den Weg, den wir idealerweise in der Reflexion über das Gute einschlagen sollten. Diese Diskussion zeigt, wie irreführend es sein kann, mit einer Begriffsbestimmung von “gut” im allgemeinen zu beginnen, um dann das moralisch Gute als einen unter diesen Begriff subsumierbaren Sonderfall verstehen zu wollen. Vielmehr sollten wir das moralisch Gute als ein Phänomen sui generis ins Auge fassen, um uns von ihm Schritt für Schritt in unserer Erkenntnisbemühung leiten zu lassen. Um auf unser schon oft herangezogenes Beispiel zurückzukommen: Dass ich einem ertrinkenden Kind helfen soll (sofern ich dazu in der Lage bin), ist die Erfahrung eines moralischen Imperativs, die einen ganzen Schatz weiterer, in ihr implizierter Erkenntnisse birgt. Philosophische Reflexion gilt der Bergung dieses Schatzes, nicht der Verdunkelung jener Erfahrung. Bettina Stangneth nennt deshalb in ihrem originellen Buch Böses Denken (Hamburg 2016, S. 9) die Moral zu Recht ein Licht, das heller strahle als jedes andere, das dem Menschen je aufgegangen sei. Der moralische Wert bedarf keines Lichtes von außen, sondern hat selber das Potenzial, Erkenntnisse zu erzeugen und theoretische Annahmen zu plausibilisieren.

Sobald ich vom allgemeinen Begriff des Guten ausgehe, gerate ich in Gefahr, das moralisch Gute als eine Art des außermoralisch Guten zu missinterpretieren und die Entfaltung des Erkenntnispotenzials moralischer Erfahrung von theoretischen Erwägungen abhängig zu machen. Die Philosophiegeschichte ist voll von Beispielen. Ich möchte zwei herausgreifen: den Nonkognitivismus Hares und den Eudämonismus aristotelisch-thomistischer Prägung.

Hare versucht in seinem den Präskriptivismus begründenden Buch The Language of Morals, alle Verwendungen des Wortes “gut” auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, nämlich den der Empfehlung (siehe Folge 16). Dabei unterscheidet er das Gute an sich (im Original: intrinsic goodness) und das instrumentale Gute. Der Grund der Empfehlung liegt im ersten Fall im angenehmen Charakter des Guten, also in seiner Relation der Zuträglichkeit auf uns (als Beispiel nennt Hare ein angenehmes Bad und eine süße Ananas, die uns schmeckt), und im zweiten Falle in der Funktionstauglichkeit dessen, was uns zum Guten an sich verhilft (als Beispiel nennt er den Feuerlöscher; dieser ist zwar an sich nicht angenehm, aber er hilft uns, unangenehme Zustände von uns fern zu halten). Es ist leicht einzusehen, dass das moralisch Gute durch dieses Raster hindurchfällt, weil es sich nicht in solch relationaler Güte erschöpft. Denn wenn wir von einem “guten Menschen” sprechen, wollen wir mehr aussagen, als dass dieser Mensch uns einfach nur zusagt wie eine Ananas oder zu einem außerhalb seiner liegenden Zweck nützlich ist. Hare dagegen glaubt, das moralisch Gute in dieses Raster einordnen zu können: “Ich behaupte nichts weiter, als dass der logische Apparat von Vorzügen und Maßstäben, den ich entwickelt habe, allgemein genug ist, um sich auf instrumentale Güte wie auf Güte an sich zu erstrecken. Das zu verstehen ist der erste Schritt zu der Einsicht, dass er allgemein genug sein kann, um sich auch auf moralische Güte zu erstrecken” (Die Sprache der Moral, S. 176).

Robert Spaemann spricht in seinen Werken wiederholt von einer zweifachen Verwendung des Wortes “gut”: einmal als einstelliges, ein anderes Mal als zweistelliges Prädikat. Die Tat Maximilian Kolbes, der sein Leben für den Nächsten geopfert hat, ist gut an sich; im Bett zu bleiben, um sich von einer Krankheit zu erholen, ist gut für die Gesundheit. Diese Unterscheidung entspricht den schon erwähnten griechischen Ausdrücken kalon und agathon (siehe Folge zehn). Die eine Tat ist in sich schön und wertvoll, die andere bloß gut für mich im Sinne des Zuträglichen. Der Witz bei Hare besteht darin, dass das, was er “Güte an sich” nennt, in Wirklichkeit auch nur das “Gute für mich” ist, nämlich im Sinne des Angenehmen, in dessen Dienst das instrumentale Gute steht. Der moralische Wert als solcher kommt Hare niemals in den Blick. Dass wir die charakterliche Güte eines Menschen wichtiger nehmen als die Funktionstüchtigkeit eines Chronometers erklärt er psychologisch: Das geschehe aufgrund unserer größeren Betroffenheit.

Ein Beispiel der eudämonistischen Eliminierung des einstelligen Prädikats “gut” liefert Martin Rhonheimer in der Darstellung seines ethischen Ansatzes. Mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit schreibt er, die “grundlegende ethische Frage” klassischer Tugendethik laute, “worin das für den Handelnden Gute besteht” (Die Perspektive der Moral, S. 18). Konsequent an unserem Beispiel des ertrinkenden Kindes zu Ende gedacht bedeutet dies, dass ich den an mich gerichteten moralischen Imperativ “Rette das Kind!” zunächst auf seine Eignung hin überprüfen muss, ein Gut für mich zu sein oder zu bewirken. Aber woran soll ich das erkennen? Woher soll ich wissen, dass es für mich gut ist, das Kind zu retten? Die Antwort hängt letztlich auch von meinem Weltbild ab. Die Pointe ethischer Erkenntnis besteht aber gerade darin, den moralischen Imperativ als einen kategorischen zu erfahren, also als einen solchen, der mir die Gesolltheit und Gutheit der lebensrettenden Tat vor Augen stellt in völliger Unabhängigkeit von jeder Bedingung in Bezug auf das, was ich aus außermoralischer Perspektive für meinen Nutzen halte. Wenn mir mein Gewissen sagt: “Rette dieses Kind!”, spielt die Frage, worin in diesem Falle das für mich Gute besteht, keine Rolle. Damit ist nicht die Denkbarkeit von Fällen ausgeschlossen, in denen das “Für mich Gute” mit dem An-sich-Guten der geforderten Tat in Konflikt gerät, etwa aufgrund der geringen Erfolgsaussicht in Verein mit eigener Lebensgefahr: Ich muss nicht jedes noch so große Risiko bei noch so geringen Erfolgsaussichten auf mich nehmen, um ein Kind zu retten. Die Tatsache, dass dies eine Einschränkung des kategorischen Charakters des Handlungsimperativs bedeutet, braucht uns nicht zu stören. Die Möglichkeit solcher Einschränkung ist übrigens der Grund, warum sich bei Kant der kategorische Imperativ auf Maximen und nicht auf Handlungen bezieht. Eine Handlung, da sie auf eine Veränderung in der empirischen Welt ausgeht, ist in ihrer Gesolltheit immer an empirische Bedingungen gebunden. Versprechen z.B. sind zu halten, aber nicht immer und unter allen Umständen. Im Hinblick auf die Verpflichtungskraft des moralischen Anrufs ist die negative Bedingung eines unverhältnismäßigen Schadens für den Handelnden nicht gleichbedeutend mit der positiven Bedingung eines Gutes für ihn. Der Grund des an mich gerichteten moralischen Imperativs, das ertrinkende Kind zu retten, liegt nicht in dem Guten, das die geforderte Tat für mich bedeutet. Der moralische Wert der Handlung ist nicht einmal mit dem Nutzen identisch, den sie für das Kind hat. Er ist jenes einstellige Prädikat des Guten, von dem Spaemann spricht.

Grundsätzlich kann man sagen: Eine Zumutbarkeitsabwägung angesichts moralischer Pflichten ist nur deshalb nötig und überhaupt erst möglich, weil das einstellige Prädikat des Guten gerade nicht mit dem zweistelligen identisch oder auch nur koextensiv ist. In der Moral geht es um die Verwirklichung des einstelligen Prädikats unter Abwägungsbedingungen in Zusammenhang mit dem zweistelligen. Im Eudämonismus dagegen geht es bloß um die einsinnige Verwirklichung des zweistelligen. Moralische Schuld reduziert sich demzufolge auf einen Irrtum in der Identifizierung dessen, was mir wahrhaft zuträglich ist.

Die Konsequenz des Eudämonismus ist die Entmündigung des Gewissens. Dessen Spruch wird unter den Vorbehalt einer eudämonistischen Prüfung des erfahrenen Imperativs gestellt. Ein krasses Beispiel liefert uns Rafael Hüntelmann. Für ihn wird das Urteil, dass man Kinder nicht zum bloßen Vergnügen quälen darf, “objektiv bzw. real” erst durch den Nachweis, dass solches Handeln der Natur des Menschen widerspricht (Natürliche Ethik, S. 21 f). Die Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen diesem Urteil spontan zustimmt, ist für ihn nicht etwa Ausdruck einer moralischen Evidenz, sondern dem im Mittelalter verbreiteten Vorurteil vergleichbar, das die Erde für eine Scheibe hielt. Ethik gründet für ihn in der Ontologie (S. 11). Erst muss also die ontologische Frage nach der Natur des Menschen geklärt werden, bevor ich dem Gewissensspruch, der mir das Quälen von Kindern verbietet, trauen darf.

Damit werden die realen Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Die moralische Evidenz wird von philosophischer Reflexion abhängig gemacht. Das Gewissen wird suspendiert, bis weltanschauliche Fragen geklärt sind. Damit wird der Gewissensmanipulation Tür und Tor geöffnet. Statt dass die Moral zu einem Licht wird, das uns voranleuchtet im Aufbau eines Weltbildes, in dem sie ihren Platz hat, wird sie zu einem Spielball philosophischer Kontroversen. Es ist dies das Gegenteil etwa des Weges eines John Henry Newman, der uns in seinem Grammar of Assent die ganze Ausbeute an philosophischer Erkenntnis aus dem Ernstnehmen unserer Gewissenserfahrung aufzeigt.

Wollte jemand aufgrund philosophischer Überlegungen über die Natur des Menschen das Urteil über die moralische Verwerflichkeit von Kinderquälerei ernsthaft in Frage stellen, dann attestierten wir ihm nicht nur einen bloß theoretischen Irrtum. Wir würden ihm gerade die angebliche “Unschuld” des In-Zweifel-Ziehens dieser moralischen Evidenz nicht abnehmen. Kant nennt solches Anzweifeln “Vernünfteln”, und sieht die Aufgabe der Philosophie gerade in der Verteidigung des Urteils der gesunden Vernunft gegen es.

Die Kenntnis der menschlichen Natur ist zwar relevant für die Anwendung der moralischen Prinzipien in komplexen Zusammenhängen wie etwa der Bioethik. Sie kann und muss den moralischen Wert in dessen Funktion als Erkenntnisprinzip richtigen Handelns ergänzen, weil er aufgrund seiner (in Folge sechs erwähnten) heuristischen Unfruchtbarkeit dieser Ergänzung bedürftig ist. Aber sie kann seine Intuition niemals ersetzen. Diese allein lässt uns erfassen und erahnen, von welch großer Bedeutung das ist, was bei einer moralischen Entscheidung auf dem Spiel steht. Wie tief sie uns erfasst, hängt nicht von unserer philosophischen Begabung ab, sondern von dem, was Newman den “sense of duty” nennt. Die Erkenntnis des moralisch Guten als Guten ist nicht das Ergebnis der Ontologie oder überhaupt theoretischen Philosophierens, sondern das fundamentum inconcussum einer jeden Philosophie, die sich nicht in intellektueller Spekulation erschöpft, sondern durch Reflexion als “geistigen Totalakt” (Reinhard Lauth) einzuholen versucht, was existentiell immer schon als gewusst vollzogen wird.

(Die Geschichte geht unten weiter)

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