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"Getroffene Hunde bellen": Offener Brief an die Moraltheologie in Deutschland

Ausschnitt einer Darstellung des heiligen Thomas von Aquin von Carlo Crivelli am Altar der Kirche des heiligen Dominik in Ascoli (Italien).

Angesichts zum Teil heftiger Reaktionen deutscher Moraltheologen auf das von CNA Deutsch veröffentlichte Schreiben von Papst emeritus Benedikt hat Dr. Martin Hähnel einen Offenen Brief an die katholische Moraltheologie in Deutschland geschrieben. Der Chefredakteur der Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie arbeitet am Lehrstuhl für Bioethik der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

CNA Deutsch dokumentiert das Schreiben mit freundlicher Genehmigung. 

Offener Brief an die katholische Moraltheologie in Deutschland

In memoriam G.E.M. Anscombe (1919 - 2001) und Robert Spaemann (1927-2018)

Sehr geehrte deutschsprachige Moraltheologinnen und Moraltheologen*,

getroffene Hunde bellen, so könnte man meinen, liest man Ihre heftigen Reaktionen auf das jüngste Schreiben von Benedikt XVI zum Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche. Dabei hat Sie der emeritierte Papst, das sei hier angemerkt, gar nicht angegriffen, sondern bloß auf eine bestimmte Entwicklung innerhalb der deutschen Moraltheologietradition aufmerksam gemacht, deren Gültigkeit und Notwendigkeit, wie ich gleich versuchen werde zu zeigen, nicht zu bestreiten ist und welche - anders als etwa Thomas Sternberg vom ZDK zu glauben meint - bis in unsere Gegenwart hinein reicht. 

Doch worum geht es in dieser Diskussion eigentlich? Handelt es sich überhaupt um das alte Wechselspiel von Angriff und Verteidigung oder wird hier nicht vielmehr der Raum für eine Diskussion geschaffen, die noch nicht zu Ende geführt worden ist? Letzteres wäre zu wünschen und, Gott sei Dank, Benedikt XVI. wagt mit seinem Schreiben den erneuten und längst überfälligen Aufschlag. Doch wie geht der ehemalige Papst vor? Anders als es Ihre Repliken darstellen, weist er in seinen Ausführungen auf einen argumentativ schwach gedeckten Mentalitäts- und Richtungswechsel in der katholischen Morallehre hin, der vor allem im deutschsprachigen Raum seit den 1980er Jahren stattgefunden hat. Worin besteht dieser Wandel?

Benedikt XVI. deutet mit relativ knappen Worten an, dass dieser Mentalitäts- und Richtungswechsel in der katholischen Moraltheologie insbesondere durch den Eintrag „konsequentialistischen“ Gedankenguts in das theologisch-philosophische Denken der letzten Jahrzehnte hervorgerufen bzw. gefördert worden sei.

Für diejenigen Leserinnen und Leser, welcher mit dieser Begrifflichkeit nicht vertraut sind, skizziere ich kurz, was unter „Konsequentialismus“ zu verstehen ist: Unter „Konsequentialismus“ versteht man ein ethisches Bewertungsmodell, das die Qualität bzw. den moralische Wert von Handlungen (d.h. ob sie gut oder schlecht sind) allein an den Folgen, die durch diese Handlungen hervorrufen werden, bemisst. Zum Beispiel ist es unter konsequentialistischen Gesichtspunkten erlaubt, an sich asymmetrische Rechtsgüter wie das Selbstbestimmungsrecht einer Mutter und das Lebensrecht ihres ungeborenen Kindes in ein Abwägungsverhältnis zu bringen, das die Grundlage für eine normative Urteilsbildung bildet, die nicht selten in die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch mündet.

In seinem Schreiben identifiziert Benedikt XVI. den „Konsequentialismus“ auch mit der klassischen Formel, wonach ‚der Zweck die Mittel heilige‘. In diesem Sinne bemerkt er: „Schließlich hat sich dann weitgehend die These durchgesetzt, daß Moral allein von den Zwecken (präziser müsste es heissen: Folgen; Anm. M.H.) des menschlichen Handelns her zu bestimmen sei. Der alte Satz ‚Der Zweck heiligt die Mittel‘ wurde zwar nicht in dieser groben Form bestätigt, aber seine Denkform war bestimmend geworden. So konnte es nun auch nichts schlechthin Gutes und ebensowenig etwas immer Böses geben, sondern nur relative Wertungen. Es gab nicht mehr das Gute, sondern nur noch das relativ, im Augenblick und von den Umständen abhängige Bessere.“ Aus diesen Überlegungen zieht Benedikt XVI. dann den entscheidenden Schluss: „Die Moral der Güterabwägung muss eine letzte Grenze respektieren. Es gibt Güter, die nie zur Abwägung stehen. Es gibt Werte, die nie um eines noch höheren Wertes wegen preisgegeben werden dürfen und die auch über dem Erhalt des physischen Lebens stehen.“

Was Benedikt XVI. hier analysiert, ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung, obwohl es an manchen Stellen sogar noch zu schwach formuliert ist, wenn er z.B. schreibt, dass die ‚Moral der Güterabwägung eine letzte Grenze respektieren muss‘. So liegt es doch in der Natur jeder Güterabwägungsmoral, überhaupt keine letzten Grenzen zuzulassen, denn die Axiologie des Konsequentialismus fordert ja gerade, ein Gut auch mit dem, was es selbst bzw. deren Förderung begrenzt, zu vergleichen, um auf diesem Wege zu einem Ergebnis zu gelangen, das notwendigerweise eine positive Bilanz ausweist. Eine Güterabwägungsmoral, wie sie der Konsequentialismus vorschreibt, manipuliert also auf subtile Weise unsere natürlichen Intuitionen, vernachlässigt zentrale Aspekte gerechter Verteilung und überfordert in letzter Instanz jeden, der sich dieser unerbittlichen Optimierungslogik anschliesst. Soweit zu den philosophisch-ethischen Ausführungen des Papstes - aber was hat dies alles mit Ihnen und der deutschen katholischen Moraltheologie zu tun?

Benedikt XVI. zeigt in seinem Schreiben, wie diese „neue Moral“ des Konsequentialismus in die damalige Moraltheologie eindringen konnte und verweist dabei vor allem auf die Arbeiten des Jesuiten Bruno Schüller, dessen Schüler R. Ginters die Abkehr von der klassischen katholischen Naturrechtslehre mit folgenden Worten besiegelt: „Ein Tun und Lassen ist damit als sittlich zu bezeichnen, wenn es - bei unparteiischem Urteil - mehr Gutes und weniger Übel zur Folge hat als jede mögliche Handlungsalternative.“ Ich behaupte nun, dass Sie und die aktuelle Moraltheologie diese Auffassung größtenteils übernommen haben, ohne allerdings mehr über das begriffliche Repertoire und den philosophischen Scharfsinn eines Bruno Schüler zu verfügen. Damit erklärt sich auch Ihre aktuelle Sprachlosigkeit, das blinde und fluchtartige Verweisen auf die empirische Forschung, die polemischen Abwehrreflexe, welche nur schwer verbergen können, dass Ihre Disziplin ein Legitimationsproblem hat, nicht nur gegenüber der Philosophie, die weitaus kritischer mit konsequentialistischen Begründungsmodellen umgeht als Sie, sondern auch gegenüber der eigenen Zunft und ihrer intellektuellen Vergangenheit.

Indes möchte ich hier nicht bestreiten, dass Sie und Ihre Disziplin eine Daseinsberechtigung haben, die Robert Spaemann einmal so beschrieben hat: „Das Telos der Moraltheologie ist die Verherrlichung Gottes ... Der Zweck ist von der Art, dass er nicht die Mittel heiligt, sondern nur durch heilige Mittel erreicht wird.“ Ich bin mir aber nicht sicher, ob der Großteil von Ihnen diesen Satz in dieser Form unterschreiben. Würden Sie diesen Satz bedenkenlos unterschreiben, dann würde die Wortmeldung des emeritierten Papstes ihre innere Notwendigkeit verlieren. Wenn Sie diesen Satz nicht unterschreiben, wovon mit großer Wahrscheinlichkeit auszugehen ist, dann leugnen Sie zwar die Legitimitätskrise ihres Faches, geben aber nolens volens zu, dass der für Ihre Arbeit eigentlich entscheidende Teil, nämlich der kirchliche Glaube, wie er vollumfänglich im Credo bekannt wird, zweitrangig geworden ist. Fragen Sie sich also selbst!

Doch wogegen richten sich eigentlich Ihre Reaktionen auf das Schreiben von Benedikt XVI.?

Wenn vor allem Sie, sehr geehrter Herr Breitsameter und Herr Goertz, von „falschen Annahmen“ Benedikts XVI. sprechen, müssten Sie doch erst einmal selbst stichhaltige Beweise für Ihre „Widerlegungen“ erbringen. Ihr etwas unbeholfener Rekurs auf die Human- und Sozialwissenschaften nimmt sich rein rhetorisch aus, da Sie hoffentlich wissen, dass einige der in diesem Bereich kursierenden Thesen bezüglich der Bestimmung der menschlichen Natur umstritten sind, andere wiederum die klassische katholische Morallehre sogar bestätigen. Ferner werfen Sie Benedikt XVI. vor, er instrumentalisiere seine Kritik an der Moraltheologie für die aktuelle Missbrauchskrise. Doch ist genau das Gegenteil der Fall. Gerade Sie, verehrte Moraltheologinnen und Moraltheologen, instrumentalisieren die Kritik Benedikts an der Moraltheologie für die Missbrauchskrise, indem sie (durch einfache Negationen kaschierend) insinuieren, dass jemand, der Homosexualität als in sich verwerflich betrachte, damit automatisch sexuelle Gewalt legitimieren müsse. Hier lauert im Hintergrund der altbekannte Klerikalismusvorwurf, welcher sich bei Ihnen schließlich als moralischer Rigorismusvorwurf zu erkennen gibt. Aber wieso haben Sie eigentlich solche Angst vor absoluten Urteilen, die nicht verurteilend sein müssen, denn seit jeher unterscheidet die Kirche den Sünder von der Sünde? Ein solcher „Rigorismus“, wie sie ihn fälschlicherweise (d.h. aus einer unzutreffenden Kant-Exegese resultieren) konstatieren, betrifft allein die sündhaften, intrinsisch schlechten Handlungen, und nicht den Sünder selbst, über den allein Gott ein wahrhaftiges Urteil zu fällen in der Lage ist.

Doch an einer anderen Stelle geht es Ihnen dann doch wieder um diese sündhafte Handlungen (actus intrinsice mali), deren Existenz sie aber wegzuerklären beabsichtigen, indem sie fragen, welche Handlungen unter die Kategorie der unbedingt geltenden moralischen Verpflichtungen fallen. Unterdessen vergessen Sie, die Art von Verpflichtungen nochmals in positive (Räte) und negative Verpflichtungen (Ge-/Verbote) zu unterscheiden, was darauf hindeutet, dass Sie den negativen Pflichten keinen Vorrang gegenüber den positiven Pflichten einzuräumen bereit sind. Vor diesem Hintergrund lassen sich dann auch folgende, im Vatikan immer häufiger anzutreffende Verhaltensweisen verstehen: Sich für den Klimaschutz einzusetzen und die Armut in der Welt zu bekämpfen, obwohl man nicht wissen kann, welche Folgen dieses Engagement hat, ist genauso wichtig oder sogar noch wichtiger als für den unbedingten Lebensschutz oder die bedingungslose Aufklärung der Missbrauchsfälle einzutreten; „Barmherzigkeit“ gegenüber wiederverheirateten Geschiedenen, Homosexuellen und protestantischen Glaubensgenossen walten zu lassen, ist verbindlicher als dem natürlichen Sittengesetz zu folgen; die gottgewollte Pluralität der Religionen zu behaupten, ist einfacher als die Wahrheit der eigenen Religion zu verteidigen usw.

Wie bereits ausgeführt, stellt eine die Kirche und seine Theologie infiltrierende konsequentalistische Denkweise den maßgeblichen Grund dafür dar, dass moralische Absoluta, wie sie klassischerweise in katholischen Glaubenssätzen und naturrechtlichen Begründungsformeln (z.B. „Das Gute ist zu tun, das Böse zu unterlassen“) verbürgt sind, abgeschwächt werden und damit ohne Widerstand einer ‚Diktatur des Relativismus’ das Wort geredet werden kann. An dieser Stelle erschließt sich sogleich auch der tatsächliche Zusammenhang zwischen der konsequentialischen Wende in der Moraltheologie und der aktuellen Missbrauchskrise. Denn wenn fortan der Zweck die Mittel heiligt, dann ist es auch möglich, dass ein schlechter Zweck gute Mittel zu seiner Erfüllung verlangen darf und schlechte Mittel für die Erfüllung eines guten Zweckes herangezogen werden können. Ehemalige Kardinäle (wie McCarrick) können dann auf weltpolitischer Bühne brillieren und im eigenen Priesterseminar ihr missbräuchliches Unwesen treiben; deutsche Bischöfe können sich intensiv um die Wiederherstellung der Einheit der Christen im eigenen Land bemühen und dabei das katholische Eucharistieverständnis über Bord werfen. Die Katholische Kirche kann als Global Player verstärkt den humanitären Einsatz für die Armen und den Kampf für den Klimaschutz propagieren, ohne sich eingestehen zu müssen, dass diese Initiativen auch das Gegenteil von dem bewirken können (z.B. die soziale Schere noch zu vergrößern), was ursprünglich beabsichtigt wurde.

Doch lassen Sie mich abschließend noch kurz auf Ihre polemische Spitze gegenüber dem philosophisch-theologischen Lebensprogramm Benedikts XVI., Glaube und Vernunft als Einheit zu denken, eingehen. Im Unterschied zu Ihnen wahrt Benedikt XVI. jederzeit den Gleichklang zwischen Glauben und Vernunft, indem er nach vernünftigen Gründen für die aktuelle Krise sucht. Rationaler Diskurs basiert gewöhnlich auf einem Austausch von Gründen, nicht auf einer unbegründeten Abwehr bzw. emotionalen Abwertung wohlerwogener Aussagen, was vielmehr den Anschein erweckt, Benedikt XVI. hätte in seinem Schreiben ausschließlich ad hominem argumentiert. Wäre dem wirklich so, würde er sich und die heutige Krise der katholischen Kirche nicht ernst nehmen! Vielmehr scheint es so, als ob Sie als seine Kritiker das Schreiben nicht ernst nehmen, um damit zu verhindern, dass bei einer leisen Andeutung von Zustimmung Ihre staatlich gesicherten Privilegien verloren gehen, mit deren Hilfe Sie sich auch davor schützen können, sich nicht plötzlich auf der Seite des verratenen Freundes wiederzufinden. 

Mit freundlichen Grüßen und guten Wünschen für das bevorstehende Osterfest,

Martin Hähnel

*Dieser Brief wendet sich in erster Linie an die Moraltheologinnen und Moraltheologen, die das jüngste Schreiben von Benedikt XVI. in der Öffentlichkeit auf das Schärfste kritisiert haben bzw. deren Thesen, vor allem diejenigen zur Moraltheologie, ablehnen.

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Hinweis: Meinungsbeiträge spiegeln die Ansichten der Autoren wider, nicht unbedingt die der Redaktion von CNA Deutsch.  

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