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Stunden der Wahrheit auf dem Felsgrund des Atheismus

Die Ruine der Kirche des zwischen 1389 und 1423 errichteten Karmeliterklosters "Convento do Carmo", das bei dem Beben von 1755 völlig zerstört wurde.
Der Schweizer Kardinal Kurt Koch ist Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen. Der ehemalige Bischof von Basel hat über 60 Bücher und Schriften verfasst, darunter Mut des Glaubens (1979) und Eucharistie (2005).

Die Pandemie des Corona-Virus hat einen Schock ausgelöst, der an die Katastrophe des großen Erdbebens in Lissabon erinnern könnte, das im Jahr 1755 viele Gewissheiten radikal in Frage stellte. In religiöser Hinsicht sind Zweifel an der Güte Gottes und vor allem an seiner Allmacht aufgekommen. Das schreckliche Leiden und Sterben so vieler Menschen ist zur viel größeren Infragestellung der Existenz Gottes geworden als alle aufgeklärten philosophischen Theorien und erkenntnistheoretischen Traktate. "Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz und das Leid", schrieb Georg Büchner 1835: "Das ist der Fels des Atheismus." Dieses neue Credo ist undenkbar ohne Lissabon und seine Folgen.

Heute hingegen unterscheiden sich die durchschnittlichen Reaktionen auf Corona in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit erheblich von den Reaktionen auf Lissabon im achtzehnten Jahrhundert. Allgemein lässt sich eine große Zurückhaltung feststellen, die Corona-Krise mit religiösen Augen zu deuten, und eine gewisse Sprachlosigkeit im Blick auf Fragen des Glaubens fällt selbst in den Kirchen auf. Die am meisten zu vernehmende Botschaft ist diejenige, dass es sich bei der Corona-Krise auf keinen Fall um eine Strafe Gottes handeln könne. Dass dieses düstere Wort von einem strafenden Gott zurückgewiesen wird, ist bereits deshalb angebracht, weil die Corona-Krise – wie so viele Katastrophen in Geschichte und Gegenwart – am schwersten die Armen und ohnehin schon Leidenden trifft; jetzt wieder in Afrika und besonders in Amazonien. Der Gedanke, dass Gott, der als "Pater pauperum" eine besondere Vorliebe für die Armen hegt, ein Virus erfunden haben sollte, um die Menschheit und vor allem die Armen zu bestrafen, ist in der Tat unerträglich.

Mit der Zurückweisung der dunklen Botschaft von der Strafe Gottes ist freilich die religiöse Frage noch lange nicht ad acta gelegt. Es bleiben zumindest die Fragen, wie denn der liebende Gott eine solche Geißel wie Corona zulassen kann, und wie er sich zu ihr verhält, und welche Botschaft an uns Menschen mit ihr verbunden ist.

Diesbezüglich stelle ich im Allgemeinen fest, dass man, um die frohe Botschaft eines liebenden Gottes zu betonen und angesichts des Corona-Leidens gleichsam zu retten, sofort bereit ist, Abstriche bei der Allmacht Gottes zu machen, oder man sich überhaupt weigert, Gott mit Corona in Beziehung zu bringen und eine religiöse Deutung der Krise zu wagen. Wer Gott aber hermetisch von bösartigen Erscheinungen in der Natur und dem damit hervorgerufenen Leiden der Menschen absondern will, steht in der Gefahr, einem gefährlichen Dualismus in dem Sinn zu verfallen, dass alles Positive einem Prinzip des Guten, nämlich Gott zugewiesen, während für das Negative ein Prinzip des Schlechten und Bösen angenommen wird. Natürlich denkt heute niemand wie bei früheren Dualismen an einen Demiurgen; man tendiert vielmehr dahin, das Leiden als von der Natur selbst bewirkt und in ihr wirksam zu sehen, mit der Gott jedoch nicht in Beziehung steht und nicht in Beziehung gebracht werden kann.

Von daher drängt sich mir die Vermutung auf, dass hinter diesen Denkgewohnheiten einmal mehr jene Annahme steht, die sich in der neuzeitlichen Theologie immer mehr durchgesetzt hat und die besagt, Gott vermöge allein in den Geist des Menschen hinein zu handeln, mit allem Leiblichen und Materiellen stehe er weder in Beziehung noch könne er sich damit befassen. Diese Mentalität, die das Handeln Gottes allein im Geistigen zulässt, ihm aber das Materielle und Leibliche nicht zugesteht, hat Papst Benedikt XVI. treffend als "subtilen neuen Gnostizismus" beurteilt, der Gott und seiner Macht die Materie prinzipiell entzieht, und der heute ausgerechnet trotz und bei aller Lobpreisung des Materiellen und Leiblichen propagiert wird. Während Gottes Wirken auf die Innerlichkeit der menschlichen Subjektivität reduziert wird, hat er in der Welt der Materie nichts zu suchen, da die objektive Welt ganz anderen Gesetzen gehorche.

Wie mit solchen weltanschaulichen Vorentscheidungen theologisch überhaupt noch von Wundern und erst recht vom größten Wunder der Auferstehung Jesu Christi aus dem Tod glaubwürdig gesprochen werden kann, ist dann freilich nicht mehr einzusehen. Im Blick auf die Auferstehung des Herrn rechnet man dann auch konsequenterweise nur noch mit einem göttlichen Einwirken auf den Geist und vermag nicht mehr zu verkünden, dass Christus lebt, sondern redet nur noch davon, dass "die Sache Jesu weitergeht". Und wie steht es dann mit der Verheißung des ewigen Lebens als Teilhabe des Menschen an der Auferstehung Jesu Christi, wenn sich Gott allein an die Naturgesetze zu halten hätte? Ist es nicht paradox, wenn solche Annahmen geäußert werden im Namen eines Glaubens, der sich zu Gott als Schöpfer Himmels und der Erde, zur Menschwerdung seines Sohnes und zur Erlösung und Vollendung auch des Fleisches bekennt?

Dass solcher Gnostizismus auch heute vertreten wird, zeigt beispielsweise der Vorwurf eines Theologen an Papst Franziskus, mit seinem eucharistischen Segen Urbi et Orbi auf dem Petersplatz habe er ein unaufgeklärtes Weltbild an den Tag gelegt, weil die Corona-Krise durch den medizinischen Fortschritt und nicht durch ein Bittgebet bekämpft werde. Auch wenn

diese simple Behauptung eines Theologen auf das erste Zusehen hin als plausibel erscheinen mag, so erweist sie sich tiefer gesehen als ebenso fundamentalistisch wie das Verhalten derjenigen, die alle Hygieneregeln und medizinischen Maßnahmen prinzipiell verweigern und die Überwindung der Corona-Krise allein vom Gebet erwarten. Denn für den Katholiken, der sich an der Grundüberzeugung seines Glaubens, dass die Gnade die Natur voraussetzt und sie vollendet ("Gratia supponit naturam et perficit eam"), orientiert, versteht es sich von selbst, dass das Gebet die notwendige Suche nach einem wirksamen Impfstoff nicht ersetzt. Es versteht sich für ihn jedoch ebenso von selbst, dass alle hygienischen und gesundheitlichen Vorkehrungen das Gebet nicht ersetzen.

Dies gilt vor allem, wenn das Bittgebet in jener glaubenden Grundhaltung vollzogen wird, die Papst Franziskus in seinem schönen Gebet an Maria zum Ausdruck bringt, das er für den Monat Mai eigens geschrieben hat: "Wir sind sicher, dass du dafür sorgen wirst, dass wie zu Kana in Galiläa Freude und Frohsinn zurückkehren mögen nach dieser Zeit der Prüfung." Denn bei der Hochzeit zu Kana bittet Maria nicht um irgendetwas Bestimmtes; sie bittet Jesus nicht darum, er solle Wein produzieren und damit ein Wunder wirken. Maria sieht ihre Aufgabe nur darin, die Sorgen der Hochzeitsleute Jesus anzuvertrauen und es dann ihm zu überlassen, was er daraufhin tun will. In dieser marianischen Grundhaltung versteht es sich für gläubige Christen von selbst, dass sie die schwere Not, in die uns die Corona-Krise gebracht hat, vor Gott tragen, seinen Segen, den eucharistischen Segen zumal, empfangen und in großem Vertrauen auf Gottes Allmacht hoffen.

Ja, auf Gottes Allmacht, und zwar mit gutem Grund. Dass heute selbst im Lebensbereich des Christlichen das Bestreben festzustellen ist, Abstriche bei der Allmacht Gottes zu machen, um seine Liebe zu retten, hat wohl seinen Grund darin, dass man von einem säkularen Allmachtsgedanken auszugehen pflegt und deshalb jenes Gedankens der Allmacht nicht mehr ansichtig wird, den uns die christliche Offenbarung schenkt. Denn die Macht, die sich uns in Jesus Christus zeigt, ist das Lieben Gottes, das bis dahin geht, dass es für uns leidet. Gott, der Liebe ist, ist Macht, er ist die Macht der Liebe, der wir uns auch und gerade in der schweren Not der Corona-Krise anvertrauen dürfen. Die Liebe ist nicht der Gegensatz zur Allmacht Gottes, sondern ihre konkrete Wirkweise, indem sie sich vom Leiden der Menschen und dem Seufzen der Schöpfung nicht fernhält, sondern sich von ihm berühren lässt.

Der christliche Glaube an die Allmacht Gottes verkündet uns Jesus Christus als den Guten Hirten, der selbst Lamm geworden ist und sich auf die Seite der geschundenen Lämmer gestellt hat, um mit ihnen mitzuleiden und sie zu erlösen. In dieser wehrlosen Liebe hat er den Tod überwunden und uns Menschen neues Leben, ewiges Leben zumal geschenkt. Weil Gott der Liebhaber des Lebens ist, wenden wir uns – wie Maria in Kana – auch in der schweren Corona-Krise mit unseren Bitten an ihn in der Gewissheit des Glaubens, dass er mit unseren Gebeten das Beste für uns anfangen wird.

Mitten in der Corona-Krise dürfen wir die Schönheit und Tragfähigkeit des christlichen Glaubens neu erfahren; und darin besteht der wahre Trost, den der Glaube uns in dieser schweren Zeit schenkt.

Mit diesem Vorzeichen müssen wir aber doch noch einmal auf den Gedanken der Strafe zurückkommen. Denn in der Heiligen Schrift ist oft von einer Strafe Gottes die Rede, freilich in dem Sinn, dass Gott die Menschen den Konsequenzen ihres eigenen Fehlverhaltens preisgegeben sein lässt, und dass insofern die Menschen sich selbst strafen, wenn sie die Lebensweisungen Gottes nicht beachten, und von daher zur Umkehr gerufen werden. In diesem Sinn ist es durchaus angebracht, auch in religiöser Sicht danach zu fragen, was Gott uns wohl mit der heutigen Krise sagen möchte und was wir aus der Krise zu lernen haben. Zeiten der Krise sind auf jeden Fall immer auch Stunden der Wahrheit, die an den Tag bringen, wie es um die Prioritäten in unserem menschlichen Leben und im Leben des Glaubens steht.

Dabei drängt sich mir eine Lektion in den Vordergrund, die wir zu beherzigen hätten. Angesichts der steigenden Infektionsrate und der vielen Toten, die das Corona-Virus kostet, haben verschiedene Regierungen in unseren Breitengraden zum Notrecht gegriffen, harte Maßnahmen erlassen und die Freiheitsrechte der Menschen sehr stark eingeschränkt bis dahin, dass sie außer Kraft gesetzt worden sind. Die Feststellung ist nicht übertrieben, dass seit dem Ende der totalitären Regime im vergangenen Jahrhundert die Grund- und Freiheitsrechte der Menschen nie derart massiv angetastet worden sind wie in der jetzigen Corona-Krise. Diese Einschränkungen wurden mit der Begründung legitimiert, der Staat habe die Verantwortung, das Leben, die Gesundheit und die körperliche Unversehrtheit der Bürger zu schützen, und dass folglich die Freiheiten hinter das Recht auf Leben zurücktreten müssen. Darin zeigt sich die hohe Verantwortung, die die Regierungen in der Zeit der Corona-Krise übernommen haben.

Die Regierungen haben damit freilich Entscheidungen getroffen, die quer stehen zu vielen anderen Entscheidungen und Gesetzeserlasse, die in der Zeit vor der Corona-Krise vollzogen worden sind. Denn als allgemeine Tendenz ist festzustellen, dass immer mehr das hohe Recht des Menschen auf das Leben im Namen von Freiheiten in Frage gestellt worden ist. Medizintechnische Eingriffe in das vorgeburtliche menschliche Leben wie beispielsweise dessen Selektion in der Präimplantationsdiagnostik werden stets deutlicher mit der Forschungsfreiheit begründet. Die Frage der Abtreibung wird in der breiten Öffentlichkeit weitgehend als in der Freiheit der Frau gelegen beurteilt, und diese Mentalität wirkt auf die Gesetzgebung ein. Auf derselben gefährlichen Linie liegt das Urteil des Deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020, mit dem das bisherige "Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung" als Verstoß gegen das Grundgesetz beurteilt worden ist, das dieses Verbot außer Kraft gesetzt und entschieden hat, dass der Mensch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben habe. Diesen Entscheid des höchsten deutschen Gerichts hat der katholische Theologe und Bioethiker Ralph Weimann mit Recht als "totalen Dammbruch" und dementsprechend den 26. Februar 2020 als "dunklen Tag für die Deutsche Rechtssprechung" beurteilt. Muss es nicht zu denken geben, dass die von diesem Gerichtsentscheid, der unmittelbar vor Ausbruch der Corona-Krise gefällt worden ist, gepriesene Autonomie des Menschen im Blick auf sein eigenes Sterben kurz danach von der Corona-Krise, die so vielen Menschen den Tod bringt, massiv in Frage gestellt worden ist?

Diese wenigen Beispiele bestätigen die in unseren Gesellschaften bestehende Tendenz, das menschliche Leben im Namen von Freiheiten immer mehr zur Disposition zu stellen, vor allem, wenn es sich um ungeborenes, behindertes, schwaches, altes und sterbendes Leben handelt. Müssten die Regierungen, die während der Corona-Krise dem Leben der Menschen einen so hohen Wert geben und dazu ganz massiv in die Freiheitsrechte eingreifen, jetzt nicht auch ihre bisherige Linie überdenken und zu einer Revision ihrer Freiheitsprioritäten kommen? Und müssten jene Bischöfe, die bereitwillig die harten staatlichen Restriktionen der Freiheitsrechte, auch und vor allem des fundamentalen Rechts auf freie Religionsausübung, übernommen haben, indem sie selbst öffentliche Eucharistiefeiern verboten haben, die ersten sein, die auch bei anderen Fragen des gesellschaftlichen Lebens und Zusammenlebens dem Leben des Menschen die Priorität geben und jene "Kultur des Lebens" entschieden fördern, die Papst Johannes Paul II. so sehr am Herzen gelegen hat? Auch diesbezüglich sind Zeiten der Krise Stunden der Wahrheit.

(Die Geschichte geht unten weiter)

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Zuerst erschienen im Vatican Magazin. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung.

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