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Peter Seewald: Mit Marx und Engels im Gefängnis, mit Benedikt XVI. zurück zur Kirche

Peter Seewald präsentiert dem emeritierten Papst die Biographie über Papst Benedikt XVI.
Vor dem zwischenzeitlichen Glaubensabfall: Peter Seewald bei seiner Firmung im Jahr 1964.
Ein junger Peter Seewald, um 1974.
Peter Seewald als junger Reporter im Jahr 1976.
Der spätere Papst-Biograf Peter Seewald bei seinen ersten schriftstellerischen Versuchen.
Peter Seewald am Tag nach der Wahl von Papst Benedikt XVI., aufgenommen in Rom.
Peter Seewald (links) und Paul Badde im Jahr 2010
Peter Seewald im Gespräch mit Papst Benedikt XVI.
Peter Seewald

Am heutigen Mittwoch feiert Peter Seewald seinen 70. Geburtstag. Einst landete er als kommunistischer Straßenkämpfer im Gefängnis, wurde Journalist bei renommierten Zeitungen und fand auch durch die Gespräche mit Kardinal Joseph Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., zurück zur Kirche. Im Gespräch mit Rudolf Gehrig blickt Seewald auf sein bewegtes Leben zurück.

Das nachfolgende Interview erschien zuerst im VATICAN-Magazin. CNA Deutsch veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung die ungekürzte Langfassung des Gesprächs.

Lieber Peter Seewald, Sie sind gefeierter Journalist, Bestseller-Autor und außerdem der Papst-Biograph. Wenn Sie mit einem Journalistenkollegen über Ihre Leben sprechen müssen, welche Interviewfrage hören Sie am häufigsten?

Der Fragen-Katalog mir gegenüber hat sich zumeist verengt auf den „Papst-Biographen“, der ich im Übrigen nie sein wollte. Schon nach dem ersten Artikel über Ratzinger und nach dem Gesprächsband „Salz der Erde“ war für mich klar: Das reicht jetzt. Ich bin politischer Journalist. Ich schreibe über gesellschaftlich relevante Themen. Kirchliches ist nicht mein Ding. Aber es ging dann irgendwie immer weiter.

Inzwischen haben Sie den „Job“ wohl angenommen.

Ja. Das ist ja auch eine wichtige und ehrenvolle Aufgabe. Kollegen aus säkularen Medien wollen dann zumeist wissen: „Wie ist Ratzinger wirklich?“ Oder auch: „Wie ist sein Verhältnis zu Papst Franziskus?“ Danach geht es um sexuellen Missbrauch. Und das war’s dann auch schon wieder.

Wie verbringen Sie normalerweise Ihren Tag?

Mit Arbeit. Es gibt noch immer Projekte, die zu erledigen sind. Und Arbeit tut mir auch gut. Noch. Hinzu kommen in meinem Alter vermehrt Arzttermine. Ständig ist was Anderes.

Wie entspannen Sie nach einem langen Arbeitstag?

Mit Zeitunglesen. Allerdings ist das, wenn ich die „Süddeutsche“ in Händen halte, nicht immer ein Vergnügen. Ansonsten freue ich mich auf ein ausgedehntes Abendessen in unserer kleinen Küche und auf Serien wie „Yellowstone“. Oder eine Wiederholung der frühen Folgen der schrägen britischen Krimi-Serie um Inspector Barnaby.

Sie haben früher als Journalist bei renommierten Medien gearbeitet und irgendwann den Glauben verloren. Wie ist das passiert?

Ich bin mit 18 aus der Kirche ausgetreten. Kirche und Glauben waren mit meiner linken Gesinnung nicht vereinbar. Gott hat mich nicht mehr interessiert. Den gab’s ja in Wirklichkeit auch gar nicht. Die Heilige Schrift tauschte ich gegen die Mao-Bibel. Morgens stand ich nicht mehr im Gottesdienst, wie früher als Ministrant, sondern als Marxist vor Fabriktoren, um Flugblätter und Betriebszeitungen an den Mann zu bringen. Ich organisierte Anti-Vietnam-Demos mit „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“-Rufen und gründete ein Anti-Strauß-Komitee. Immerhin lernte ich, dass man auch mit wenigen, aber überzeugten Mitstreitern einiges in Bewegung setzen kann.

Wieso haben Sie Gott dennoch nochmal eine Chance gegeben?

Es war wohl eher umgekehrt. Und es war ein langer Prozess. Intellektuell wie seelisch. Aus der Kirche auszutreten, geht sehr einfach, einem Wiedereintritt stehen tausend Fragen im Weg. Als Journalist machte es mich allerdings früh nachdenklich, beobachten zu müssen, was die Gesellschaft verliert, wenn sie sich von ihren angestammten religiösen Wurzeln trennt. An Ethik, an Moral, an erprobten Regelwerken, an Kultur. Auch an weiterführendem Denken und an einem transzendenten Bewusstsein, ohne das der Mensch nicht leben kann.

Irgendwann ließen meine Frau und ich unsere beiden Heidenkinder taufen. Ich fing wieder an, in Messen zu gehen, frühmorgens vor der ersten Redaktionssitzung. Ich hatte großen Respekt vor dem einfachen Glauben der sogenannten „kleinen Leute“, alten Mütterchen oft, die neben mir in der Kirchenbank knieten.

Später fiel mir eine frühe Begegnung ein, die womöglich viel mit meiner Rückkehr zur Kirche zu tun hatte. Es war auf einer Festveranstaltung zur Eröffnung der „Europäischen Wochen“ in Passau, über die ich berichten wollte. Als die Macher einer frechen linken Wochenzeitung waren wir so etwas wie Schmuddelkinder, nicht gesellschaftsfähig. Die Honoratioren mieden mich wie einen Aussätzigen. Ein einziger jedoch machte es anders. Er ging zwischen all den feinen Leuten auf mich zu und streckte mir demonstrativ die Hand entgegen. Es war der Bischof von Passau, Antonius Hoffmann. Als mir diese Geste bei einem Rom-Besuch erstmals wieder in Erinnerung kam, hatte ich Tränen in den Augen. Und habe sie heute noch jedes Mal, wenn ich daran denke.

(Die Geschichte geht unten weiter)

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Wie hat Ihre Familie reagiert, als Sie sich damals bekehrt haben?

Na ja, es war ja keine Blitzbekehrung. Es ging step by step. Man geht immer weiter. Hinter jedem Raum kommt der nächste. Und einer ist spannender als der andere. Ich sehe noch die verdutzten Gesichter meiner Kinder und meiner Frau vor mir, als ich dann eines Tages in unserer Küche ein Kruzifix und ein kleines Weihwassergefäß anbrachte, wie ich es aus meiner Kindheit kannte. Der Ausdruck war: Jetzt ist Papa verrückt geworden. Das hat sich aber schnell gelegt. Die Kinder erlebten, dass hier kein Prediger oder Sektenführer eingezogen war und dass Katholizismus eine progressive Geschichte ist, mit der man in der Schule die angepassten Typen weit hinter sich lassen konnte.

Wenn Sie mit Gott sprechen, wie hört sich das an?

Jedenfalls nicht wie das Krächzen in einem Schamanengesang. Nichts gegen Schamanen, aber ich bin nicht sonderlich begabt darin, zu improvisieren. Schon ein frei gesprochenes Tischgebet würde mich überforderdern. Um Gott nicht durch mein Gestammel und vor allem durch Unkonzentriertheit zu belästigen ­– ständig fallen einem beim Beten andere Sachen ein –, greife ich auf die großen Gebete der Kirche zurück – Vaterunser, Credo, Rosenkranz –, um in der Kommunikation mit dem Überirdischen gewissermaßen die Antenne auszufahren, mit der man sowohl senden als auch empfangen kann.

Wann haben Sie zuletzt mit Gott gestritten?

Mit Gott streiten? Dem Allmächtigen, Unergründlichen, dem ganz Anderen? Wir beide sind nicht unbedingt auf Augenhöhe. Auch wenn wir im Glauben wissen, dass Gott ein „Du“ ist, der einem nahe ist, der sich ganz klein machen kann, damit wir uns nicht verängstigt in einer Ecke verstecken. Klar, ich frage mich schon auch, warum er so viel zulässt im Wahnsinn dieser Welt. Oder warum er einen nicht beisteht, wenn Not am Mann ist. Doch dann erfährt man, dass Hilfe da war, auch wenn sie anders aussah, als man das erwartet hatte. So Vieles fliegt einem zu und hat nichts mit dem eigenen Können zu tun. Eine andere Erfahrung ist: Wenn etwas fast unerträglich schwer auf den Schultern lag, gibt es stets Tröstungen, die das Dasein wieder leichter machen.

Am 31. Dezember 2022 ist Papst Benedikt XVI. verstorben, zu dem Sie eine besondere Beziehung hatten. Sprechen Sie heute noch manchmal mit ihn?

Nein. Aber gelegentlich bitte ich ihn dann doch, mich beim Zustandekommen eines Buchprojektes zu unterstützen. Nach unserem Glauben sind die Toten nicht tot, sondern hineingeboren in eine neue Sphäre, aus der sie weiter wirken können. Was würde es sonst für einen Sinn machen, etwa meinen Namenspatron oder den guten Bruder Konrad von Altötting anzurufen?

Als Sie Joseph Ratzinger zum ersten Mal interviewt haben, war dieser noch Chef der Glaubenskongregation. Wie haben Sie in der Nacht davor geschlafen? Welche Erwartungen hatten Sie?

Mein Schlaf war hervorragend. Das lag vermutlich an der Flasche Chianti, die ich am Abend vor dem Interview auf der Dachterrasse meines Hotels in Rom geleert hatte.

Ich war 38 Jahre alt. Der Kardinal hatte zugestimmt, mir für meinen Artikel im SZ-Magazin 45 Minuten zur Verfügung zu stehen. Dass ich als ehemaliger Spiegel-Autor dem katholischen Kirchenfürsten dabei nicht sonderlich nahestand, verstand sich von selbst. Entgegen meiner Erwartung fand ich in Ratzingers Predigten, Kommentaren und Büchern allerdings nichts, was undemokratisch, rassistisch, populistisch oder wie auch immer reaktionär hätte empfunden werden können. Er verglich Gott mit Atem, mit Liebe, mit Nahrung und mit Freundschaft. Gleichzeitig erntete kaum jemand so viel Widerstand. Führende Medien malten ihn brutal als „Panzerkardinal“. Studenten an katholischen Fakultäten drohte Punkteabzug, sollten sie es wagen, sich in ihren Arbeiten auf den Konzilstheologen zu berufen.

Um es kurz zu machen: Ich nahm die vielen DIN-A4-Seiten mit den vorbereiteten Fragen und riss sie in kleine Stücke. Vergiss alles, was du über diesen Mann gelesen hast, sagte eine Stimme in mir. Mach dir selbst ein Bild. Ohne eigene Anschauung keine echte Erkenntnis.

Der Ansatz machte sich jedenfalls bezahlt. Wir kamen ins Gespräch, und der vermeintliche „Großinquisitor“ war dankbar, einfach auch einmal nur aus seinem Leben erzählen zu können, mitzuteilen, wie es ihm geht, und dass er sich zu müde und erschöpft fühle, seine Aufgabe weiter erfüllen zu können.

Jahre später führten wir das Gespräch fort. Daraus entstand der schon erwähnte Interviewband „Salz der Erde“, der, übersetzt in 30 Sprachen, weltweit Millionen von Menschen und nicht zuletzt kirchlichen Autoritäten half, ein zutreffendes Bild des bayerischen Denkers und Theologen zu bekommen. Unzählige Leser wandten sich durch das Buch wieder dem Christentum zu oder begannen, es zu entdecken. Obendrein führte es zu nicht wenigen Priesterberufungen.

Wie haben Sie den Moment der Papstwahl von Ratzinger erlebt?

Ich hatte vom „Stern“ den Auftrag, vorbereitend einen biografischen Artikel über den Kardinal zu schreiben. Niemand in der Redaktion glaubte wirklich daran, dass der verrufene Deutsche Papst werden würde. Aber man könne ja nie wissen. Bei der Arbeit an dem Beitrag bekam ich immer stärker das Gefühl, Ratzingers Sendung sei noch nicht abgeschlossen. Kurzerhand griff ich zum Telefon, ergatterte einen letzten freien Sitz im Flieger nach Rom.

Als am Abend des 19. April 2005 weißer Rauch aus dem Kamin der Sixtinischen Kapelle puffte und bald danach Joseph Ratzinger als Benedikt XVI auf der Loggia des Petersdomes erschien, stand ich inmitten der riesigen Menge auf dem Petersplatz, jubelnden, begeisterten Menschen aus aller Welt, die den neuen Oberhirten der katholischen Kirche frenetisch feierten. In mir fühlte es sich an, als würde in dem Moment ein Stromstoß von hunderttausend Volt meinen ganzen Körper entmaterialisieren. In einer nie gekannten Erregung purer Freude.

Leider konnte ich den Abend nicht richtig genießen. Die vielen Interviews, die angefragt wurden, dauerten bis Mitternacht. Die „All brothers“, mein Stamm-Café an einer hässlichen Straßenkreuzung in der Nähe des Petersplatzes hatten dann gottlob noch geöffnet, um in der bizarren Stimmung dieser Nacht unzählige Biere und Grappas in mich hineinzuschütten. Der „Stern“ machte anderntags meine Ratzinger-Story zur Titelgeschichte. Es wurde das mit am besten verkaufte Heft seit Bestehen des Magazins.

Ist es etwas anderes, auf einmal Benedikt XVI. zu interviewen statt Joseph Ratzinger?

Als wir in Castel Gandolfo an „Licht der Welt“ arbeiteten, war ich in der Tat sehr gespannt, wie es sein würde, mein Aufnahmegerät nicht mehr vor einem Kardinal aufzustellen, sondern vor dem Oberhaupt von 1,2 Milliarden Katholiken weltweit, einem Superstar voller Glanz und Glorie. Kleider machen Leute, sagt man, und das Amt eines Papstes gibt einen unvergleichlichen Nimbus.

Kurz und gut: Die Tür ging auf – und ich stand vor dem unveränderten Menschen, den ich zuvor als Kardinal getroffen hatte. Wie immer streckte er seinen Arm zu einem weichen Händedruck aus. Gleichzeitig entschuldigte er sich. Es sei leider nicht mehr so fit wie früher, meint er, und sein Gedächtnis habe stark nachgelassen. Er hoffe, er könne meine Fragen einigermaßen gut beantworten.

Nein, nichts, rein gar nichts hatte sich geändert. Nichts im Auftritt, nichts in der Liebenswürdigkeit, nichts in der Demut, die ich von ihm kannte. Wir hatten konzentriert gesprochen, aber auch viel gelacht. Zu meiner Freunde sprach er mir in einer Pause einen Text für die Handys meiner Jungs aufs Band: „Hier ist Papst Benedikt für Paul bzw. Jakob Seewald. Nachrichten bitte nach dem Pieps.‘“

„Licht der Welt“ wurde ein internationaler Bestseller mit einer Auflage von einer Million. In Deutschland startete es auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, obwohl es doch überall hieß, niemand würde sich mehr für den reaktionären Pontifex interessieren.

Als Sie an den Interviewbüchern gearbeitet haben, saßen Sie oftmals auch beim Mittagessen mit Benedikt XVI. zusammen. Wie hält man vernünftig Smalltalk mit einem Papst?

Als Papst hat mich Ratzinger nie zum Mittagessen eingeladen, noch nicht einmal zu einer Tasse Kaffee. Er wollte vermutlich vermeiden, dass die professionelle journalistische Distanz, die für unsere Interviews grundlegend waren, auch nur den geringsten Schaden leidet. Dass die Plauderei zu Beginn eines Treffens nur kurz ausfiel, lag dann an mir. Ich wollte nicht unnötig Zeit verlieren, um in der einen Stunde, die ich hatte, soviel als möglich von den Fragen aus meiner Liste abhacken zu können.

Und wie war das in der Zeit zuvor?

Für unsere erstes Buchprojekt „Salz der Erde“ hatte ich zwei Tage Zeit bekommen, verbunden mit Frühstück, Mittag- und Abendessen. Da spricht man nicht über Theologisches, sondern über Privates und allenfalls über Vorkommnisse in der Kirche. Ratzinger kann gut zuhören und erzählt auch gerne mal einen Witz aus dem klerikalen Umfeld. Bei einer Autofahrt mit dem damaligen Sekretär Clemens saß ich im Fond des Golfes, während Clemens am Steuer und der Kardinal auf dem Beifahrersitz heftig zu einer Musikkassette trällerten, als würden sie für die Scala von Mailand proben.

Welche Fragen haben Sie sich nie getraut dem Papst zu stellen?

Solche, bei denen es die Diskretion und der Respekt verboten haben. Allerdings habe ich, wie man nachlesen kann, auch sehr persönliche Dinge von ihm wissen wollen und ihn auch mit kritischen Einwänden nicht verschont.

Die Gespräche mit dem Papst waren sicher eines der großen Highlights Ihrer Karriere. Wie sind Sie aber mit den Tiefpunkten in Ihrer Laufbahn umgegangen?

Es gab auch bei den Projekten mit dem Kardinal und späteren Papst Tiefpunkte und kritische Momente, die mir an die Nieren gingen. Im Grunde musste um jedes Buch hart gerungen werden. „Salz der Erde“ scheiterte zunächst an meinem Streit mit der „Katholischen Integrierten Gemeinde“, deren Theologen das Projekt nach einem gesundheitlichen Rückschlag Ratzingers begleiten sollten. Der Kardinal hat dann persönlich das Projekt wieder zurückgeholt. Bei „Gott und die Welt“ kündigte der damalige Leiter des Pattloch-Verlages unmittelbar vor dem Interview mit Ratzinger in Castel Gandolfo den Vertrag. Ich hatte auf das ursprüngliche Konzept bestanden und mich seiner Bubble-Version entgegengestellt. Der Verleger hatte hinter meinem Rücken noch versucht, auch selbst am Interview mitzuwirken, was Ratzinger vehement zurückwies. Es folgte ein vom Verlag initiierter Prozess über zwei Instanzen. Erhebliche Probleme gab es auch bei „Licht der Welt“ und den „Letzten Gesprächen“. Es stand Spitz auf Knopf.

Wenn Sie in der Rückschau eine berufliche Entscheidung ändern könnten, welche wäre das?

Vieles ergab sich, weil vermutlich die Zeit dafür reif war. Anderes kaum aus jugendlichem Übermut oder Gereiztheit. Im Nachhinein wäre es vielleicht besser gewesen, nicht schon nach sechs Jahren und einer sehr erfolgreichen Zeit beim „Spiegel“ gekündigt zu haben. Und auch viel zu früh das „Magazin der Süddeutschen Zeitung“ wieder verlassen zu haben, ohne überhaupt zu wissen, wie es beruflich weitergehen soll. Andererseits hätte es sonst keines der Bücher mit Ratzinger/Papst Benedikt gegeben.

Es ist sicher nicht die leichteste Frage, aber wenn Sie Ihr Leben in zwei Sätzen zusammenfassen müssten: Wie wurden Sie zu dem, der Sie heute sind?

Da kommt, wie bei jedem anderen Menschen auch, einiges zusammen: Eltern, die einem das Leben schenken, rebellische Jugendjahre, Begabung, Fleiß, Kampfgeist, eine Portion Unverschämtheit, Durchhaltevermögen, Leidensbereitschaft, Unerschrockenheit, gute Mitstreiter und Förderer, eine verständnisvolle Ehefrau und aufgeweckte Kinder, gesellschaftliches Engagement, ein cooles Understatement und so weiter. Natürlich auch die Wiederentdeckung des Katholizismus, ohne die die zweite Hälfte meines Lebens anders verlaufen wäre. Und alles in allem eine kosmische Vorsehung, von der man bekanntlich erst im Nachhinein erkennen kann, welche Erkenntnisse sie einem geschenkt und welche Wege sie einem geöffnet hat.

Was würde Peter Seewald heute tun, wenn er nicht Journalist und Schriftsteller geworden wäre?

Es hat mich schon früher gereizt, etwas anderes zu machen. Mit „Gutes aus Klöstern“ gründete ich ein Unternehmen, das heute zur Manufactum-Gruppe gehört. Kartons zu packen und hinter der Ladentheke zu stehen hilft gegen journalistische Betriebsblindheit und die Arroganz, die in der Branche weit verbreitet ist. Anstrengend, aber auch sehr befriedigend war im vergangenen Jahr die Herausgabe der „Bibliothek katholischer Klassik“, die es auf zehn wunderbar Titel brachte, mit bester Ausstattung, bestellbar unter „edition-credo.de“. Leider ist es nicht gelungen, die Reihe bekannter zu machen und fortzuführen.

Als Sie Ihre Karriere begonnen haben: Wer war damals Ihr Vorbild?

Eigentlich niemand. Ich war von der Schule geflogen, arbeitete am Bau, fuhr Coca-Cola aus und machte kurzzeitig eine Lehre als Werkzeugmacher. Bis der Boss der örtlichen IG Metall dafür sorgte, dass ich auf die Straße flog. Nach meinem Ausstieg aus der kommunistischen Zelle gründete ich eine linksliberale Wochenzeitung. Ich besorgte mir drei Bücher: eines über Journalismus, eines darüber, wie eine Zeitung funktioniert, und ein drittes mit Reportagen von Egon Erwin Kisch. Das war meine Ausbildung. Wir sorgten für anständig Wirbel in der Stadt. Nach zwei Jahren ging das Blatt allerdings Pleite und mein Kompagnon und ich blieben auf einem Berg von Schulden sitzen.

Wer ist heute Ihr Vorbild?

Leute, die klar denken und anständig schreiben können. Die bereit sind, auch mal gegen den Strich zu bürsten und nicht schweigen, wenn die Dinge im Argen liegen. Ich meine damit nicht die üblich gewordenen Aufschrei-Hashtags, die nichts kosten.

Als Autor hat mir Isaak B. Singer sehr gutgetan; mit seiner wunderbaren Art zu Schreiben und der Selbstverständlichkeit, mit der er in seinen jüdischen Erzählungen Gott ins Spiel brachte. Von Georges Simenon habe ich alle Maigret-Krimis gelesen. Ich verehre ihn für die Kunst, stets den richtigen Ton anzustimmen und den Leser mit wenigen Pinselstrichen in eine ganze Szenerie einzuführen. Als geistlichen Schriftsteller konnte ich eben erst den 1981 verstorbenen Ladislaus Boros entdecken, ein radikaler, messerscharf denkender und metaphysisch begabter ungarischer Theologe und Philosoph, der freilich hie und da ziemlich steil geht.

Seit Ihrer Bekehrung vor vielen, vielen Jahren hat sich Einiges geändert. Inwiefern hat das Ihre Arbeit als Journalist beeinflusst?

Mir war immer wichtig, den eigenen Blick und die journalistische Unabhängigkeit zu bewahren. Die katholische „Denke“ ist da kein Hemmnis, im Gegenteil. Katholizismus impliziert Freiheit. Leider war ich in Deutschland als Autor, der im deutschen Papst nichts Verwerfliches sieht, vorwiegend damit beschäftigt, richtigstellen zu müssen, zu verteidigen. Auch deshalb, weil sich das katholische Establishment um Kardinal Marx gerne wegduckte, wenn es gegolten hätte, den Landsmann auf dem Stuhl Petri gegen ungerechtfertigte Angriffe in Schutz zu nehmen. Nicht selten waren es gerade auch deutsche Bischöfe, die als erste Steine auf Benedikt warfen, sobald sich auch nur die geringste Möglichkeit dazu bot.

Als katholischer Autor ist man vor einer gewissen Portion „Haltungsjournalismus“ nicht gefeit. Wo und vor allem wie ziehen Sie da die Grenze?

Wie gesagt, der klare und unabhängige Blick auf das, was geschieht, ist unerlässlich. Gradmesser ist, die Wahrheit zu schreiben, auch wenn das manchem wehtut, auch wenn es – wenn wir beispielsweises an den skandalösen sexuellen Missbrauch denken – einem auch selbst wehtut. Hofberichterstattung hilft niemandem. Die Dinge aus der christlichen Weltanschauung zu betrachten, ergibt in der Regel mehr Klarheit als der Blick durch die ideologische Brille, der in sogenannten Leitmedien angeboten wird. Dass katholische Medien über Ereignisse berichten, die von säkularen Medien bewusst verschwiegen werden, halt ich für eine Selbstverständlichkeit. Und nicht zuletzt verdienen auch die Verfolgten und Unterdrückten im Glauben eine Stimme, die für gewöhnlich an den Rand geschoben werden zugunsten der zwei oder drei Theologen, die Gewehr bei Fuß stehen, um zu liefern, was von Zeitgeist-Redaktionen bestellt wird.

Es gibt immer zwei Typen von Erzählern, schrieb Henning Mankell. Der eine schaufelt zu und verbirgt. Der andere gräbt auf, um zu enthüllen. Zu letzteren gehört sicher auch die stets neu notwendige Enthüllung über die Botschaft des Evangeliums.

Wenn Sie eines Tages vor dem Schöpfer stehen und gezwungen werden, auf Ihr Leben zurückzublicken, an welcher Stelle sollte der Herr besser mal ein Auge zudrücken?

Oh Gott, hier sprechen wir nicht von irgendeiner „Stelle“, sondern von einem ganzen Bündel von „Stellen“. Und über Dinge, die man besser in der Beichte vorbringt. Beichten gewissermaßen als Weg der Selbstreflektion und der Selbstoptimierung, um ein besserer Mensch zu werden. Was bekanntlich selten gelingt. Ich kann also nur auf einen barmherzigen Schöpfer hoffen, der nicht richtet, sondern gerade-richtet.

Rein hypothetisch: Wie würden Sie das Gespräch beginnen, wenn Sie nach Ihrem Tod im Jenseits plötzlich sowohl Papst Benedikt XVI, als auch den früheren bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß gegenüberstehen würden? Den einen haben Sie mehrfach interviewt, den anderen haben Sie – zumindest auf Plakaten – mit Farbbeuteln beworfen.

Wir wissen nicht, auf welche Weise man im Jenseits kommunizieren wird. Es gibt dann vermutlich keine offenen Fragen mehr, nichts, was uns im Diesseits noch widersprüchlich erschien. Alles ist einsichtig. Also pure Heiligkeit und Erleuchtung und erfüllte Freude.

Papst Benedikt würde ich bitten – wir sind dann ja wirklich alle auf Augenhöhe –, seinen Lieblings-Sketch von Karl Valentin vorzuspielen, mit dem er als Kardinal den früheren Münchner Oberbürgermeister Christian Ude bei einem Besuch im Vatikan so begeisterte. Dann würde ich ihn noch einmal zu seiner mystischen Seite befragen, die er in unseren Gesprächen auf Erden immer verneint hatte.

Bei Strauß würde ich mich entschuldigen. Und ich würde ihm sagen, dass das Flugblatt mit der Karikatur, die ihn mit einem kleinen Hitler zeigt, der aus seinem Mund spricht, nicht von mir stammte. Ich zeichnete in unserer kommunistischen Gruppe ganz einfach auf fast allen Flugblättern als presserechtlich Verantwortlicher.

Und Sie mussten sich dann nicht auch tatsächlich dafür verantworten? 

Doch. Strauß hatte mich angezeigt. Sein Anwalt führte einen aufsehenerregenden Prozess vor dem Passauer Landgericht. Die Strafe hatte ich an vier Wochenenden in Form von „Strengen Tagen“, wie das offiziell hieß, in einem Jugendgefängnis abzusitzen. Bei Wasser und Brot. Allerdings konnte ich ein Buch von Friedrich Engels in die Zelle schmuggeln, das den Aufenthalt erträglicher machte.

Sie haben mehrere Bücher mit dem Stellvertreter Christi auf Erden gemacht. Wenn Sie jetzt aber die Möglichkeit hätten, nicht nur den Stellvertreter, sondern das Original, Jesus Christus selbst, zu interviewen, wie würden Sie sich vorbereiten? Was wäre Ihre Einstiegsfrage in einem Interviewgespräch mit Jesus Christus?

Wie schon gesagt, im Jenseits wird es vermutlich keine offenen Fragen mehr geben. Alles ist klar, einsichtig, nachvollziehbar. Falls das nicht so sein sollte, ist eine gründliche Vorbereitung stets das A und O für eine gute Story. Wir haben über Jesus überzeugende historische Dokumente und die zeitnahen Aufzeichnungen verlässlicher Zeugen. Allerdings müssen wir neue Bilder entwickeln. Jesus hockt nicht irgendwo im Weltraum fest und Gott ist kein alter Mann mit einem weißen Bart. Hinter Dreifaltigkeit muss man nicht unbedingt einen High-Tech-Gott vermuten, aber eine Intelligenz und Energie, die jegliche menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Mit dem Wissen unserer Zeit, etwa aus den Entdeckungen der Quantenforschung, dem gewachsenen Verständnis für Omnipräsenz und der Wirklichkeit des Geistes können wir heute neu an die Kunst der Lectio Divina anknüpfen, der göttlichen Lesung, die es vermochte, im Evangelium auch zwischen den Zeilen lesen zu können – um damit Bereiche einzusehen, die der oberflächlichen Betrachtung verborgen bleiben.

Danach würde ich im Interview mit Jesus auf das Tagebuch der 1938 verstorbenen heiligen Sr. Faustyna Kowalska zu sprechen kommen, der Jesus angeblich auftrug, sie solle die Menschheit auf seine für jedermann sichtbare Wiederkehr vorbereiten. Und nachfragen, ob die zunehmenden Erscheinungen der Gottesmutter, wie etwa in Medjugorje, etwas damit zu tun haben. Spannendes Thema.

Herr Seewald, was macht Ihnen Freude?

Die katholisch korrekte Antwort wäre: Ein guter Gottesdienst bei den Dominikanern in der Theatinerkirche in München. Und das entspricht auch der Wahrheit. Gleichwohl macht es Freude, mit meiner Familie, mit den Enkeln zusammen zu sein oder mit einem guten Freund gemeinsame Erinnerungen auszutauschen, über den Lifestyle abzulästern und uns dabei halbwegs betrinken und ungestört rauchen zu können. Sehr große Freude natürlich auch, wenn mir Leser schreiben, dass ihnen eines meiner Bücher in ihrem Glauben geholfen hat.

Mit welcher Persönlichkeit aus der Kirchengeschichte würden Sie sich gerne mal auf eine Zigarette treffen?

Mit der furchtlosen Theresa von Avila oder mit Thomas Morus, dem mit bedeutendsten Humanisten seiner Zeit, der bekanntlich für seine Treue zur katholischen Kirche hingerichtet wurde. Morus soll gesagt haben: „Herr, schenke mir einen Witz. Aber gib mir auch die Gnade, ihn zu verstehen.“

Als junger Revolutionär wollten Sie die Welt ein bisschen besser machen. Ist Ihnen das nach 70 Jahren gelungen?

Als Kommunist hatte man Dinge nicht bloß ein wenig besser zu machen, sondern die ganze Welt zu retten. Als Katholik dagegen genügt schon, wenigstens einen Menschen, eine Seele zu retten. Insofern wäre die Aufgabe überschaubarer geworden.

Im Ernst: Manche Gesetzmäßigkeiten sind so stark, dass wir ihnen hilflos gegenüberstehen. Die Welt geht ihren eigenen Weg, und retten können wir sie ohnehin nicht aus eigener Kraft. Wir erleben heute, in einer angeblich hochentwickelten Zivilisation, weltweit dramatische Problemlagen. Das gilt auch für die Kirche. Fast scheint, als hätten Piraten das Schiff Christi geentert und nichts anderes im Sinn, als Chaos zu verursachen und das Schiff abzutakeln. Da fragt man sich, was eigentlich geblieben ist, von dem großartigen Wirken eines Jahrtausendpapstes wie Johannes Paul II. und eines theologischen Genies wie Benedikt XVI.

Fest steht: Was nur Fassade war, stürzt zusammen. Kirche sieht sich, wie in den Anfängen, heute einer heidnischen Umwelt gegenübergestellt. Sie ist in großen Teilen längst selbst säkularisiert und von diesem neuen Heidentum durchdrungen. Zumindest können wir daran mitarbeiten, neue Anfänge zu schaffen. Jammern hilft nicht. Back to the roots? Zurück in die Zukunft? Warum nicht? Das ist kein Fundamentalismus, sondern das Schöpfen frischen Wassers aus Quellen, die gottlob nie austrocknen.

Was macht Ihnen Hoffnung? Gibt es überhaupt noch einen Anlass zur Hoffnung?

Den gibt es immer. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, lautet eine gängige Redensart. Die Wahrheit ist: Die Hoffnung stirbt nie. Die wenigsten wissen heute, dass der Mensch sterblich, aber gleichzeitig unsterblich ist. Der Tod ist dem christlichen Glauben nach nichts anderes als die Geburt in eine neue Dimension der Vervollkommnung. Christus hat uns zwar nicht das Paradies auf Erde zugesichert, aber eine neue Erde und einen neuen Himmel – für ein ewiges Leben. „Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt“, lautet die spektakuläre Verheißung Christi. Dies sei, lehrte Papst Benedikt, „die größte Revolution der Weltgeschichte, der entscheidende Sprung in ganz Neues hinein“.

Wenn es also eine Vision der Hoffnung gibt, die wirklich tragen kann, dann liegt sie in unserer so von Zukunftsangst geschwängerten Zeit in der Zusage Jesu, die wir nicht von ungefähr als „frohe Botschaft“ bezeichnen.

Sie sind jetzt 70 Jahre alt. Was bedeutet da die „frohe Botschaft“ konkret für Sie?

Dass ich mich in absehbarer Zeit auf die letzte Reise vorzubereiten habe. Mehr als auf jede andere Reise zuvor. Das ist ein eigener, sehr spannender Lebensabschnitt, den ich bewusst erleben möchte. Der Tod macht deutlich, dass es noch etwas anderes, etwas Größeres gibt. Er sei gekommen, sagt Jesus laut Johannesevangelium, „um das wahre Leben zu bringen – das Leben in seiner ganzen Fülle“. Wer oder was könnte diese Verheißung toppen?

Von Peter Seewald erscheint 2025 im Herder-Verlag sein neues Buch über das Altern, das Sterben und das ewige Leben. Das Interview mit ihm erschien im VATICAN-Magazin (07/2024). Veröffentlicht bei CNA Deutsch mit freundlicher Genehmigung und Unterstützung.

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