Wahrscheinlich nicht, weil Josef Pieper die geschilderte Ungereimtheit eines Imperativs, der in einer Neigung begründet sein soll, spürt, sondern weil er einfach dem hl. Thomas folgt, bringt er dann doch den göttlichen Urheber des Gesetzes ins Spiel: “Das Ewige Gesetz, als göttlicher Befehl an die Allheit des Wirklichen, ist so sehr wirksam, dass alle naturhafte Seinsneigung in den Dingen nichts anderes ist als eben sein sich selbst bezeugender Ausdruck und seine Bestätigung; dieser göttliche Befehl ist dem Wirklichen so sehr inne, dass er geradezu mit der zuinnerst wirkenden Natur der Dinge identisch ist” (l.c. S. 70).

Das sind schöne Gedanken, und man braucht ihnen nicht jeden Wahrheitsgehalt abzusprechen. Der Schöpfungsgedanke macht es dem Christen leicht, einen Seinsbegriff zu etablieren, der normativ aufgeladen ist. An anderer Stelle wird Pieper, was die Abhängigkeit der teleologischen Wirklichkeitsdeutung vom Schöpfungsgedanken angeht, noch deutlicher: “Was «naturhaft» geschieht, das geschieht «von Schöpfungs wegen», auf Grund der Erschaffung; und das heißt, es geschieht einerseits aus dem innersten und eigensten Impuls der Kreatur, anderseits stammt der allererste Anstoß dieses Impulses nicht aus dem Herzen dieses gleichen geschaffenen Wesens, sondern aus dem alle Dynamik in der Welt in Gang bringenden Akt der creatio” (Alles Glück ist Liebesglück, Katholische Akademie Hamburg 1992).

Doch sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass der Gedanke der “naturhaften Seinsneigung” (inclinatio naturalis) in dieser Allgemeinheit als Ansatz für eine Ethik ungeeignet ist. Meine Pflicht, einem ertrinkenden Kind zu helfen, erkenne ich ohne jeden Rekurs auf eine “naturhafte Seinsneigung in den Dingen”. Ich brauche dazu keine Metaphysik, die Gott und die Creatio voraussetzt. Und so muss es ja auch sein, will man nicht dem Menschen als solchem die Moralfähigkeit absprechen und dieselbe nur dem Gläubigen zuerkennen. Auch der Ungläubige und Atheist kann grundsätzlich gut und böse unterscheiden. Sonst wäre er gar nicht schuldfähig. Deshalb muss ihm der sittliche Wert als solcher samt seinem unbedingten Anspruch zugänglich sein, und dass dies tatsächlich der Fall ist, genau dies besagt die Lehre von der Synderesis und dem Gewissen.

Jörg Splett zitiert Schelling, der das Gewissen den “einzigen offnen Punkt” nennt, “durch den der Himmel hereinscheint” (Splett, "Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt"? Zur theologischen Dimension des sittlichen Bewußtseins, in: W. Kerber (Hg.), Das Absolute in der Ethik, München 1991, S. 131-156). Die Möglichkeit, das im sittlichen Anspruch aufscheinende Unbedingte als den Reflex eines Absoluten zu deuten, wird durch den Umweg über eine den Anspruch begründende Neigung zunichte gemacht. Die im Gewissen erfahrene Unmittelbarkeit meines Verhältnisses zum unbedingt Guten schließt den Gedanken der Vermittlung über einen Begriff der Neigung, der allererst den Begriff des Guten ermöglichen soll, aus.

Aber wird nicht auch der in der letzten Folge geschilderte Gedankengang Newmans von dieser Kritik getroffen, wenn er die Stimme des Gewissens als Stimme Gottes interpretiert und folglich die Ethik mit einer theistischen Metaphysik verbindet? Setzt er dann nicht ebenfalls Gott und die Schöpfung voraus? Doch hier liegt der Fall ganz anders. Die Gedankenführung Newmans wie auch jede andere Form des “moralischen Gottesbeweises” setzt voraus, dass wir durch das Gewissen eine hinreichend klare Erkenntnis des sittlichen Wertes und der Verbindlichkeit seines Imperativs erlangen, um daraus erst auf einen personalen Urheber als seinen Ermöglichungsgrund schließen zu können. Jene Erkenntnis setzt keine Metaphysik voraus, sondern ermöglicht sie allererst.

Der Thomismus dagegen setzt die allgemeine teleologische Verfasstheit aller Wirklichkeit voraus. Er hat diesen Gedanken von Aristoteles übernommen und kann ihn aufgrund der christlichen Schöpfungslehre besser begründen als dieser selbst. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass der Gedanke einer “naturhaften Seinsneigung” aller Dinge den moralischen Imperativ weder begründen noch plausibel machen kann. Und dahinter steht schon wieder - oder immer noch - die Verbindung des aristotelischen bonum als appetibile, also als des natürlichen Ziels jener Seinsneigung, mit dem moralisch Guten, sei es in Form einer Identifizierung, sei es in Form eines synthetischen Urteils. Im ersten Fall handelt es sich um den naturalistischen Fehlschluss, im zweiten Fall um Theologie, und wenn um Philosophie, dann um eine solche, die sich die Beweislast für die Existenz Gottes aufbürdet, um überhaupt die Begriffe von gut und böse und ihren rechten Gebrauch klären zu können.

Damit wäre die Idee einer Philosophie, die zu einer Phänomenologie des Sittlichen und des Rechts ohne schwergewichtigen metaphysischen Überbau fähig ist, dahin - und damit auch die katholische Idee des Naturrechts. Die katholische Lehre vom Naturrecht erhob stets den Anspruch, das Gute und Rechte auch ohne Rekurs auf einen Gottesglauben plausibel machen zu können. Dieser Anspruch verträgt sich aber nicht mit einer Koppelung des Begriffs des Guten an eine teleologische Struktur der Wirklichkeit, die den Schöpfungsgedanken voraussetzt.

Dieser Problemkomplex ist eng verbunden mit der Frage, ob und wie mir diese naturhafte Seinsneigung, in der sich das Ewige Gesetz angeblich offenbart, empirisch gegeben ist. In dem schon erwähnten Artikel der Summa theologica (I–II 94, 2) unterscheidet Thomas im Menschen drei Arten von natürlichen Neigungen: Neigungen, die er mit allen Substanzen gemeinsam hat, solche, die er mit den Tieren teilt, und solche, die seiner Vernunftnatur entsprechen (secundum naturam rationis). Zur ersten Gruppe gehört der Trieb zur Selbsterhaltung, zur zweiten die Sexualität (coniunctio maris et feminae) und die Erziehung der Kinder, zur dritten die Erkenntnis Gottes und das Leben in der Gesellschaft; in den Worten Ludger Honnefelders: “das Streben nach Selbsterhaltung, nach Arterhaltung und nach Kommunikations-, Wahrheits- und Transzendenzbezug” (Die Wahrheit des praktisch Guten, in: PhJB 2/09, S. 348-361, hier: 356).

Das hört sich ganz prosaisch an im Vergleich zu Josef Pieper, der von einer “Wesensbewegung des Wirklichen” spricht (S. 68) und von einer “ethische[n] Notwendigkeit der bewußten Selbst-Einordnung des Menschen in die Bewegungsrichtung der Gesamtwirklichkeit” (S. 69). So wird durch Ontologisierung aus einer Strebensethik eine Seinsethik.

Während Pieper ausdrücklich alles Sollen im Sein gründen lässt (S. 11), und zwar dieses Sein durchaus gefasst als gegenständliches Sein unseres Erkennens, verortet ein anderer Thomaskenner, Ludger Honnefelder, die Quelle des Sollens in der Vernunft. Er interpretiert den erwähnten Artikel I–II 94, 2 so, dass für Thomas die “Verpflichtungskraft” der “Ziele der naturalen Strebungen” “nicht einfach aus der appetitiven Natur des Lebewesens, das der Mensch ist, sondern aus der Verpflichtungskraft des vernünftigen Wollens, das den Menschen kennzeichnet”, stammt, nämlich insofern die Vernunft sie erkennt als Ermöglichungsbedingungen ihres Selbstvollzugs (S. 356 f).

Damit dreht Honnefelder im Vergleich zu Pieper das Verhältnis von Vernunft und Inclinatio um. Für Pieper verhält sich die Vernunft gegenüber der Wirklichkeit rezeptiv, und sie gibt an den Willen als Norm nur weiter, was sie als Strebung in der Wirklichkeit entdeckt. Honnefelder dagegen meint: “Die Verpflichtungskraft des praktisch Guten komme ‘aus dem Diktat der Vernunft (ex dictamine rationis)’”: STh I–II 104, 1: “praeceptorum cuiuscumque legis quaedam habent vim obligandi ex ipso dictamine rationis, quia naturalis ratio dictat hoc esse debitum fieri vel vitari.”

Allerdings halte ich diese Stelle aus der Summa theologica für ungeeignet, die These Honnefelders zu stützen. Es geht hier bei Thomas gar nicht um das Verhältnis der Vernunft zu den inclinationes, sondern um den Unterschied zwischen Naturrecht und positivem Gesetz. Rechtssatzungen (praecepta cuiuscumque legis), will Thomas sagen, beziehen ihre Verbindlichkeit aus der Vernunft, wenn es sich um moralische Normen (moralia) handelt, im anderen Fall aus einer göttlichen oder menschlichen Einsetzung (ex aliqua institutione divina vel humana).

Auffällig bei Pieper ist allerdings, dass er in seinem Werk Die Wirklichkeit und das Gute den Glücksgedanken außer Acht lässt. Im Gegensatz dazu etwa stellt Hanns-Gregor Nissing ausdrücklich heraus, dass die “umfassende Naturteleologie” bei Thomas ganz unter dem Zeichen der beatitudo als dem letzten Ziel steht, auf welches jedes menschliche Handeln hinzielt, und er meint sogar: “Gegen einen Großteil späterer Interpretationen ist dieser eudämonistische Grundzug der thomanischen Ethik eigens hervorzuheben” (Christlicher Eudaimonismus: Thomas von Aquin, in: Nissing/Müller Hg., Grundpositionen philosophischer Ethik, Darmstadt 2009, 53-82, hier: 58).

Wie man sieht, können sich sowohl Vertreter einer Seinsethik (Pieper), einer Vernunftethik (Honnefelder) und einer Glücksethik (Nissing) bei Thomas bedienen. Dass es keinen Konsens gibt, welcher Aspekt bei Thomas als der grundlegendere zu gelten hat, ist nicht zuletzt der literarischen Form der Quaestio geschuldet, aus der sich die scholastischen Summen zusammensetzen. Es wird in den einzelnen Quaestionen und Artikeln Frage für Frage abgehandelt, aber zwischen den in ihnen abgehandelten Themen und Aspekten existieren nicht explizierte Zusammenhänge, deren Entdeckung und Deutung der Detektiv- und Deutungskunst des Lesers überlassen bleibt. Wir werden sehen, dass wir Thomas sogar für eine Liebesethik in Anspruch nehmen können, die zu seinem Eudämonismus nicht nur in einem Verhältnis harmloser Komplementarität steht. 

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