Gemäß liturgischem Kalender der Diözesen Deutschlands wurde das Fest des Heiligen Josefmaria (26.6.) durch den Sonntag verdrängt. Am Vortag hatten in vielen Städten Deutschlands wie Augsburg, Berlin, Hannover oder Köln Gläubige der Prälatur des Heiligen gedacht und den Sterbetag als seinen Geburtstag für den Himmel gefeiert. In der Rheinmetropole waren am Samstag junge Familien in die Pfarrkirche St. Ursula in der Nähe des Doms gekommen, wo Professor Karl-Heinz Menke aus Bonn in seiner Predigt den Vorrang der Gnade im Denken des heiligen Josefmaria für das geistliche Leben herausstellte. Darin stellt er auch klar, dass er vor Jahren schon einer falschen Einschätzung des Büchleins „Der Weg“ vom Heiligen aufgesessen sei, die er inzwischen revidiert habe. 

Die Ausgangslage für viele Christen

„Es ist ziemlich lange her. Aber bestimmte Erlebnisse vergisst man nicht. Dazu gehört in meinem Gedächtnis ein Abend, zu dem ich vor der Erstbeichte und Erstkommunion die Eltern eingeladen hatte. Zunächst ging es – wie bei solchen Treffen üblich – um Äußerliches: Aufstellung, Rollenverteilung, Kleiderordnung und Ähnliches. Aber dann stand eine mir gut bekannte Mutter auf und redete sich ziemlich aufgeregt und mit hochrotem Kopf von der Seele, was offensichtlich lange in ihr angestaut war. Sinngemäß: „Sie kennen mich und meinen Mann. Wir gehen jeden Sonntag und oft auch werktags zur Messe. Wir gehen auch zur Beichte. Ich sammle von Haus zu Haus für die Caritas. Und mein Mann ist im Kolping-Vorstand. Wenn etwas anzupacken ist für das Pfarrfest oder Fronleichnam oder sonst ein Fest, wir sind dabei. Aber inzwischen werden wir ausgelacht – sogar von der eigenen Verwandtschaft.  Unsere Nachbarn haben mit ihren heranwachsenden Kindern keinen Krach, wenn es um den sonntäglichen Kirchgang geht. Die besorgen ihren heranwachsenden Töchtern die Pille und haben auch kein schlechtes Gewissen bei der Steuererklärung – geschweige denn, dass sie - wie ich jetzt schon zum vierten Mal – einem Achtjährigen erklären sollen, was Sünde ist und dass Jesus jeden Sonntag auf uns wartet.

Diese Frau hat ausgesprochen, was - schon vor Jahrzehnten! - viele gedacht oder empfunden haben: Wenn man aus der Gnade lebt, möchte man diese Aufgaben nicht missen. Wenn ich den heiligen Josefmaria Escrivá richtig verstanden habe, hatte er diese Antwort auf eben diese Fragen.  

Der heilige Josefmaria: Gottes Gnade ist notwendiger als alles andere

Was mich an der Escrivá-Biographie von Peter Berglar am meisten  fasziniert hat, war die Begabung des Heiligen, in jedem Menschen – auch in einem von den Ab- und Umwegen der Sünde tief verwundeten Menschen – Gnade [!!!] zu entdecken, die freigelegt und konsequent entfaltet, etwas Strahlendes (Licht der Welt und Salz der Erde) werden kann. Der hl. Josefmaria war zutiefst überzeugt: Jeder Mensch – und mag sein Leben in den Augen dieser Welt noch so unscheinbar und von allen möglichen Widrigkeiten und Einschränkungen behindert erscheinen – ist begnadet. Man muss diese Gnade nur erkennen und wecken, konsequent ermutigen und zur Entfaltung bringen. 

Der Gnadenweg mit Gott ist keine Einbahnstraße

Der von der Gnade gewiesene Weg ist selten identisch mit nur einer einzigen Möglichkeit. Einer, der Zahnarzt geworden ist, wäre möglicherweise auch ein guter Lehrer geworden. Kaum jemand ist auf Grund seiner Natur ausschließlich nur für einen einzigen Beruf geeignet. Gewiss, die Natur ist zu beachten; wer nicht reden kann, sollte nicht Redner werden; und wer zwei linke Hände hat, nicht Uhrmacher. Aber immer gilt: Wenn man entdeckt hat, was man sein soll, wenn man endlich weiß, was die Gnade des eigenen Lebens ist, dann ist der Rest Entfaltung.

Wie geht Heiligung des Alltags?

Der heilige Josefmaria rät, täglich die Eucharistie zu empfangen und täglich zwei halbe Stunden für das Gespräch mit dem Herrn zu reservieren. Nicht, um den vielen Pflichten des Alltags auch noch etwas Religiöses   beizufügen. Dann wäre die Beziehung zu Gott bzw. Christus so etwas wie ein zweites Stockwerk über dem Souterrain des Werktags. Nein! Es geht um den Primat des Empfangens der Gnade, die alles bestimmen soll, was wir reden, planen, denken und tun. 

Gnade setzt die Natur voraus

Gnade ersetzt die Natur nicht. Ein schlechter Arzt wird nicht dadurch ein guter, dass er täglich zur hl. Messe geht. Im Gegenteil: Wer Faulheit, Inkompetenz oder Unfähigkeit mit dem Deckmantel der Frömmigkeit zudeckt, ist eine der komischen Figuren, die Friedrich Nietzsche und Heinrich Heine mit beißendem Spott karikiert haben. Frömmigkeit ist kein Ersatz für mangelnde Kompetenz. Aber ein Arzt - zum Beispiel! -, der seine Arbeit als Geschenk Christi an seine Patienten versteht, wird sich zugleich bis zum Äußersten anstrengen. Eben das ist Heiligkeit: Heiligung der Arbeit.

Paulus weist auf den Vorrang von Liebe und Gnade hin

Ohne Gnade ist alles nichts. Aber mit der Gnade kann ich Berge versetzen. 

Paulus hat uns das mit einer Eindringlichkeit gesagt, die kaum zu toppen ist: „Wenn du mit allen Sprachen der Menschen und Engel reden könntest, wenn du prophetisch reden könntest und alle Geheimnisse wüsstest und alle Erkenntnis hättest, und wenn du alle Glaubenskraft besäßest und Berge damit versetzen könntest, hättest aber die Liebe - [Josefmaria Escrivá würde sagen: „die Gnade“] - nicht, du wärest wie dröhnendes Erz oder wie eine lärmende Pauke; du wärest nichts!“ (1 Kor 13,1f).

Nicht jeder versteht, dass Leben Gnade ist

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Erst wer verstanden hat, dass sein Leben – mag es das der eingangs zitierten Mutter, das des eben erwähnten Arztes, das eines Maurers oder einer Pflegerin sein – Gnade (Gefäß der Liebe) ist, versteht die Imperative des vom hl. Josefmaria verfassten „Weges“ (El Camino): „Du willst ein Durchschnittsmensch sein? Du kannst doch viel mehr! Setze also eine Spur! Du bist doch kein Sandsack; Raffe Dich auf! Stähle deinen Willen! (vgl. Der Weg, Nr.1, Nr. 257, Nr. 615)“

Ich muss leider eingestehen, lange Zeit der Kritik Hans Urs von Balthasars aufgesessen zu sein. Er hat diese Imperative als Marschbefehle und Fußtritte bezeichnet; aber dabei – obwohl einer der größten Theologen – das Entscheidende übersehen: Erst wenn ich meine Eltern, meine Erziehung, die Schicksalsschläge und Behinderungen, die Grenzen und  Begabungen meines Lebens als Gnade verstanden habe; erst wenn ich mit meiner ganzen Existenz verstanden habe, dass ich - ausgerechnet ich! -  Berge versetzen und Licht und Salz der Erde sein kann, darf und muss ich mir – möglicherweise jeden Tag - sagen lassen: „Du kannst mehr! Setze eine Spur! Du bist doch kein Sandsack! Raffe Dich auf! Stähle deinen Willen!“

Missionarisches Wirken geht auch im Alltag

Das dem Fest des hl. Josefmaria zugeordnete Evangelium vom reichen Fischfang erinnert uns an die Grundvoraussetzung jedes missionarischen Erfolgs: „Wirf Deine Netze zum Fang aus! Beneide nicht die Netze der anderen! Sei da, wo Du hingestellt bist, die Liebe beziehungsweise Gnade Christi!“ Missionarischer Erfolg – für viele Zeitgenossen ein nach Manipulation und Vereinnahmung riechender Begriff!  Aber Liebe vereinnahmt nicht: im Gegenteil, sie befreit. 

Ich stehe bis heute in Briefkontakt mit einem Mann, der – bei der Müllabfuhr beschäftigt – nach der Scheidung seiner Ehe zum Trinker wurde, obdachlos undsoweiter – jeder weiß, welche Karriere nach unten ich meine. Ein zwanzigjähriger Student – heute mit seiner ganzen Familie Mitglied des Opus Dei – hat ihn buchstäblich auf der Straße aufgelesen und ihn dann zwei Jahre lang mit bewundernswerter Treue begleitet – Schritt für Schritt und allen Rückschlägen zum Trotz. Heute besucht der aus seiner Hölle Befreite fast jeden Abend die hl. Messe; und er sammelt weggeworfenes Spielzeug aus dem Müll, repariert es in seinen vielen freien Stunden und schenkt das reparierte Spielzeug verschiedenen Kindergärten und Kinderheimen. Er hat dabei zwei Patente entwickelt und wurde im Mai des vergangenen Jahres mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.  

Ein Pfarrer, der seine Aufgabe als Gnade für andere versteht

Christoph Kardinal Schönborn (Die Freude, Priester zu sein, S. 50 f.) erzählt von einem seiner Priester: „Seit Jahrzehnten ist er jeden Tag um halb fünf Uhr früh im Beichtstuhl. Die Menschen in der gesamten Umgebung wissen, dass ‚der Herr Pfarrer‘ dort zu finden ist. Auf dem Weg zur Arbeit nach Wien oder in die Umgebung machen viele einen kleinen Umweg zu diesem Dorf, um zu beichten. Er ist immer da. Er hat sogar seinen Beichtstuhl etwas vergrößert, so dass er darin seine Morgengymnastik praktizieren kann. Er liest, betet und wartet – und ist einfach da. Er ist einer der besten Pfarrer auch für junge Menschen, und wird von ihnen geliebt. Ein Priester, der Gnade ist, weil er aus der Gnade lebt.“

Das Modus des Habens und der Modus der Liebe

Man kann alles im Modus des Habens und alles im Modus der Liebe (aus der Gnade) leben. Es gibt Wissenschaftler, die Tag und Nacht durcharbeiten, um zum Beispiel einen Impfstoff zu entdecken, der Hunderttausenden von Menschen das Leben rettet; und dabei nicht eine Sekunde an das Geld denken, das sie damit verdienen. Und es gibt Menschen, die sogar die evangelische Armut im Modus des Habens leben – nach dem Motto: „Sieh her; ich habe die Armut; du hast sie nicht!“

Christus empfangen heißt auch, sich selbst zu verschenken

Der hl. Josefmaria hat seine Priesterschaft „vom Heiligen Kreuz“ genannt, weil er aus der Eucharistie lebte. Wer aus der Eucharistie lebt, weiß, dass Gnade als Vollendung der Natur auch deren Kreuzigung ist. Man kann den sich buchstäblich selbst verschenkenden (opfernden) Christus nicht empfangen ohne die Bereitschaft, sich in diese Selbstverschenkung (in dieses Opfer) eingestalten zu lassen – je konkreter, desto besser. Gewiss: Das Entscheidende ist der Indikativ, nicht der Imperativ. Das Entscheidende wird jedem von uns auf je singuläre Weise gegeben. Aber wahr ist auch: wir sind nicht bloßes Objekt der Gnade. Wir sind auch Subjekt der Gnade. 

Ich vermute, der hl. Josefmaria hätte der Mutter, die sich bei dem Elternabend ihres Beicht- und Kommunionkindes Luft gemacht hat, wohl dies geantwortet: Christsein war noch nie bequem. Aber wenn man aus der Gnade lebt, möchte man es nicht mehr missen.

Wer sich selbst verschenkt, wird frei

Denn wer sich selbst verschenkt, wird frei. Kaum einer unter den zahlreichen Kritikern des Opus Dei weiß, dass es kein Thema gibt, über das der heilige Josefmaria öfter gesprochen hat. In einer seiner Homilien aus dem Jahre 1963 bekennt er: Ich liebe die Freiheit über alles, und gerade deshalb liebe ich so sehr die christliche Tugend des Gehorsams. Denn wenn ich dasselbe will, was Gott will, dann bin ich frei. Wenn ich mich entschließe, zu wollen, was der Herr will, dann bin ich befreit von allen Ketten, die mich an Dinge und Sorgen gefesselt haben […]. Der Geist des Opus Dei, den ich seit mehr als 35 Jahren zu leben und zu lehren trachte, hat mich diese Freiheit verstehen und leben gelehrt. (vgl. Christus begegnen, Nr. 17 und Freunde Gottes, Nr. 38)

Von daher erklärt sich – so vermute ich - die Auswahl der Lesung seines Gedenktags (Röm 8,14-17): „Denn ihr, die ihr Christus gehorsam seid, habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, […], sondern ihr habt den Geist der Sohnschaft empfangen.“ (8,15). 

QUELLE: Predigtmanuskript vom 25.6.2022, 10.30 Uhr, zum Gedenktag des hl. Josefmaria Escrivá in Köln, St. Ursula 

Karl-Heinz Menke, Jahrgang 1950, wurde 1974 zum Priester geweiht. Nach Berufstätigkeit als Theologieprofessor und Pfarrer war er von 1981 bis 1984 Sekretär des Bischofs von Osnabrück. 1990 erhielt er den Lehrstuhl für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. In den Jahren 2014-2019 war er auf Ernennung von Papst Franziskus Mitglied der Internationalen Theologenkommission. 2017 erhielt er den „Joseph Ratzinger“-Preis für Theologie.

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