Laut Weltgesundheitsorganisation gehören Depressionen zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Erkrankungen. Die Corona-Pandemie und jetzt der Ukraine-Krieg, wirtschaftliche Herausforderungen, Existenzangst – viele Menschen haben Angst oder sind deprimiert.

Papst Franziskus sagte in einem Interview für das Buch „Angst als Geschenk“, das übermäßige Angst nicht christlich sei. Verschiedenen Studien zufolge ist etwa jeder fünfte bis sechste Erwachsene im Leben mindestens einmal von einer Depression betroffen. Frauen erhalten eine Depressionsdiagnose doppelt so häufig wie Männer.

Laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe wird Depression oft als Begriff gebraucht, um alltägliche Schwankungen unseres Befindens zu beschreiben. Aber eine Depression im medizinischen Sinne ist etwas anderes. Aus medizinischer Sicht ist eine Depression eine ernste Erkrankung.

Der Schirmherr der Stiftung ist seit 2008, der Entertainer, Schauspieler und Katholik Harald Schmidt. Er umschrieb das Thema in seiner bekannten Art: „Fünf Millionen Depressive in Deutschland – das kann nicht nur am Fernsehprogramm liegen!“

Prof. Dr. med. Ulrich Hegerl, der Vorsitzende der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, der hauptberuflich bei der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Goethe-Universität in Frankfurt tätig ist, sagte dazu: „Ja, wir sind sehr, sehr froh, dass er unser Schirmherr geworden ist. Ich hatte ihn damals angeschrieben, und es kam ein ganz einfaches, schnelles Schreiben zurück: ‚Ja, mach ich. Wann treffen wir uns?‘ Und so ist diese sehr schöne Kooperation entstanden. Harald Schmidt haben wir sehr, sehr viel zu verdanken, denn in der Anfangsphase wussten wir kaum, wie wir uns über Wasser halten können. Und da hat er sogar den Geldbeutel aufgemacht und uns über mehrere Jahre hinweg eine ganze Stelle finanziert. Es ist ein sehr selbstloser Einsatz hier für die Belange der Menschen mit Depressionen.“

Hat Harald Schmidt einen direkten Bezug zum Thema Depression?

Nein, ich denke, er hat den Eindruck, dass Menschen mit Depressionen keine laute Stimme haben und eher hinten runterfallen in der öffentlichen Wahrnehmung. Und da, glaube ich, hat er eben das Gefühl gehabt, sich dafür einzusetzen macht Sinn.

Depression ist keine neuartige Krankheit. Selbst der griechische Philosoph Plato, der von 427 bis 347 vor Christus lebte, hat sich mit der Thematik auseinandergesetzt. Zu seiner Zeit war die Depression als Melancholie geläufig. Heutzutage sind die verschiedensten Formen der Depression bekannt. Laut einer Umfrage der Stiftung Deutsche Depressionshilfe wird sie als Krankheit verstanden und nicht als Charakterschwäche.

 Herr Professor, es wird seit kurzem viel darüber berichtet, welche körperlichen Schäden beispielsweise die Corona-Impfung angerichtet hat und anrichtet, oder aktuell der furchtbare Krieg in der Ukraine, oder wirtschaftliche Krisen. Kann die Sorge, die nackte Angst, Depressionen bei den Menschen verursachen?

Viele Menschen glauben, dass Depressionen vor allem eine Reaktion auf schwierige Lebensumstände ist. Wenn es Schicksalsschläge gibt, Einsamkeit, Bitternis, Partnerschaftsprobleme, Berufsüberforderung. Das ist die Vorstellung, welche die Menschen haben. Aber das stimmt nicht. Denn Depression ist eine ziemlich eigenständige Erkrankung. Wenn jemand die Veranlagung hat dazu, dann rutscht er meistens nicht nur einmal, sondern mehrfach im Leben in diesen speziellen Zustand der Depression. Und häufig hat er auch erkrankte Angehörige. Denn diese Veranlagung kann vererbt sein, sie kann aber auch erworben sein. Etwa durch Traumatisierungen oder Missbrauchserfahrungen in der frühen Kindheit kann sich das Risiko erhöhen, dass man später im Leben an einer Depression erkrankt.

Die Tatsache, dass die meisten Menschen glauben, es sind die Bitternisse des Lebens, die zu einer Depression führen, erklärt auch, warum Antidepressiva so einen schlechten Ruf haben. Denn wenn jemand glaubt, dass es eine Überforderung ist im Beruf, die ihn jetzt in die Depression getrieben hat, dann wird sicher nicht einleuchten, warum man hier Psychopharmaka einnehmen soll. Man muss dann das Leben in Ordnung bringen. Die Leute verstehen oft nicht, dass Depression auch eine richtige Hirnerkrankung ist. Das versteht man erst, wenn man das Privileg hat, wie ich es eben hatte, dass man viele, viele hundert Menschen mit Depressionen über Jahre hinweg begleitet hat. Dann erlebt man, dass ein Mensch mit einer Depression, die eine Episode hat, wieder rauskommt und wieder genuss- und leistungsfähig ist, dann doch mal in eine Depression rutscht und dann plötzlich macht es „Klick“. Dann kippt es in eine Manie. Und Manie ist so etwas wie das Gegenteil einer Depression. Und alles, was man sich vorher zurechtgelegt hat an Erklärungen für die Depression passt einfach nicht mehr, denn es hat irgendwo im Gehirn „Klick“ gemacht und über Nacht kann ein Mensch von der Depression in die Manie kippen, wo es sich ganz großartig vorkommt und voller Energie ist, überhaupt nicht mehr müde und erschöpft.

Oder man erlebt den Effekt von Schlafentzug. In meiner Klinik wurde das vielen Menschen angeboten, die kamen in die Klinik, häufig nach einem Suizidversuch zum Beispiel, also oft mit schweren Depressionen, die oft seit Monaten schon bestand. Und dann, wenn man die Menschen dazu überreden kann, es auszuprobieren, dann wurden sie geweckt um Mitternacht und blieben dann den Rest der Nacht wach. Durch Spiele und Videos und andere Dinge wurde ihnen das Wachbleiben erleichtert. Und dann haben diese Menschen zu ihrer großen Überraschung bemerkt, dass plötzlich das erste Mal seit langem das Frühstück wieder schmeckt. Die Hoffnung kommt zurück. Sie können wieder lächeln. Ein sehr eindrücklicher Effekt, dieser Schlafentzugseffekt. Allerdings vorübergehend, denn wenn Sie in der darauffolgenden Nacht wieder schlafen, kommt die Depression zurück. Aber das kann trotzdem natürlich diagnostisch genutzt werden. Und vor allem auch vermittelt es Hoffnung, weil die Patienten sehen, dass man allein mit diesem Manöver diese Depression wieder durchbrechen kann. Das heißt, sie wird nicht bleiben, sondern es ist eben eine Krankheitsphase. Depression ist eben auch eine Gehirnerkrankung, und das wissen die meisten Leute nicht.

Sie setzen sich seit mehr als 30 Jahren mit großem Engagement für die bessere Erforschung und Aufklärung über Depression und in dem Zusammenhang auch die Suizidprävention ein. Was sagen Sie als Arzt: Sind Tabletten der einzige Ausweg aus der Depression?

Nein, natürlich nicht, sondern da gibt es eine ganze Liste von Behandlungen, die in den offiziellen Behandlungsleitlinien auch genannt sind. Die beiden wichtigsten Behandlungssäulen sind Antidepressiva und Psychotherapie. Bei der Psychotherapie ist vor allem das Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie das am besten untersuchte Verfahren. Hier geht es sehr um Tagesstrukturierung, um Beeinflussung von negativen Gedankenkreisen, um Zusammenhang zwischen Bewegung, Schlaf und Stimmung, um solche Dinge.

Das ist also eine Behandlung, die mit Abstand von allen Psychotherapieverfahren die besten Wirksamkeitsbelege hat. Antidepressiva ist das Behandlungsverfahren, das am häufigsten eingesetzt wird, von Hausärzten und von Fachärzten, das heißt den Psychiatern.

Neben den Antidepressiva ist die zweite Hauptsäule die Psychotherapie. Und hier hat das Verfahren der sogenannten kognitiven Verhaltenstherapie mit weitem Abstand die besten Belege. Dies ist ein Verfahren, da geht es sehr ums Hier und Jetzt. Da geht es um Tagesstrukturierung, Vermeiden von Selbstüberforderungen, auch soziale Kompetenz, dass man auch mal im richtigen Moment sich abgrenzen kann und „Nein“ sagt. Denn Menschen mit Depressionen sind oft sehr liebenswürdige, verantwortungsvolle und hilfsbereite Menschen und manövrieren sich deswegen oft auch in Selbstüberforderungen, weil sie oft für andere da sind und die eigenen Interessen nicht ausreichend wahrnehmen.

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Also Antidepressiva und Psychotherapie sind die beiden Hauptsäulen. Dann gibt es aber auch noch Hirnstimulationsverfahren. Die Elektrokrampfbehandlung ist vor allem bei sehr schweren, therapieresistenten Depressionen hochwirksam und wird in allen guten Fachkliniken auch eingesetzt. Dann haben wir auch noch über Magnetstimulation die Möglichkeit, die Depression zu beeinflussen. Das ist aber eher ein ergänzendes Verfahren. Auch Sport ist etwas, das unterstützend mit angeboten werden sollte. Das heißt, wir haben eine ganze Palette. Aber Antidepressiva und Psychotherapie sind die beiden wichtigsten Behandlungsansätze.

Als Christ glaube ich, das man durch das Gebet für andere und sich selbst Menschen helfen kann. Ist das Gebet, neben den medizinischen Hilfen, wenn es um die Behandlung von Depressionen geht, für Sie als Psychiater eine Option?

Das ist natürlich keine evidenzbasierte, durch Studien belegte Intervention. Aber ich könnte mir auch vorstellen, dass Menschen, zumindest wenn die Depression nicht ganz so schwer ist, über diesen Weg vielleicht etwas Halt finden, vielleicht etwas Orientierung finden, vielleicht auch etwas geschützt sind von suizidalen Impulsen und Handlungen. Das könnte ich mir schon vorstellen. Aber natürlich ist es keine etablierte Behandlung, die irgendwo in den Behandlungsleitlinien auftauchen kann.

Der Papst sagt zum Thema Angst: „Menschen beistehen, sich mit ihnen austauschen, gemeinsam etwas unternehmen ist ein wahres Medikament gegen Angst.“ Herr Professor, Zwischenmenschlichkeit, das Kümmern um den Nächsten fehlt uns das heutzutage, und könnte es so manche Angst und daraus resultierende Depression vielleicht verhindern?

Ich glaube, da stimmen Ihnen die allermeisten Menschen zu, dass wir durch unseren Individualismus sehr viel auch in eine Orientierungslosigkeit geraten sind, viele Menschen auch in Einsamkeit, kleine Familien. Da ist sicherlich sehr vieles, was die Qualität des Lebens in unserer Zivilisation beeinträchtigt, neben den vielen Vorteilen, die es auch gibt.

Die Vorstellung, dass man damit Angsterkrankungen behandeln kann, indem man sich zum Beispiel in der Gemeinde engagiert. Das ist auch wieder etwas, wo einfach die Belege fehlen. Es ist ja sogar so, dass in Kriegszeiten Angststörungen eher abnehmen, möglicherweise sogar auch Depressionen. Das ist also nicht so einfach, wie man sich das vorstellt, dass man denkt, es gibt irgendwelche Ängste, der Krieg zum Beispiel, und das kriegen die Menschen Angsterkrankungen. Das ist vielleicht sogar eher umgekehrt. Ich erinnere mich an einen Patienten, den ich wegen einer Angststörung behandelt hatte. Zu Beginn der Corona-Geschichte. Und den habe ich beim Bäcker getroffen und habe gefragt, wie es ihm geht. Und es ging ihm jetzt eigentlich besser.

Ich habe jetzt zwar Angst vor diesem Coronavirus, aber die krankhaften Ängste, die ich vorher hatte, sind nicht mehr da. All diese Zusammenhänge sind leider komplizierter und auf keinen Fall ist es ein Medikament gegen Depressionen. Da wird man der Erkrankung nicht gerecht. Das ist viel weniger eine Reaktion auf die sozialen Gegebenheiten als eben eine eigenständige Gehirnerkrankung, die es auch bei den alten Griechen schon gab und in allen Kulturen gibt. Wir haben ja in den letzten 40 Jahren eher eine günstige Entwicklung. Vor 40 Jahren hatten wir 18.000 Suizide in Deutschland, jetzt haben wir 9.000. Das heißt, die Zahl der Menschen, die sich das Leben nehmen, in der Regel in Verbindung mit psychiatrischen Erkrankungen, hat abgenommen – drastisch. Eine ganze Kleinstadt weniger nimmt sich heute das Leben als vor 40 Jahren. Und der Hauptgrund dürfte sein, dass Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen, vor allem auch mit Depressionen, sich heute häufiger Hilfe holen, häufiger die Diagnose bekommen, häufiger auch behandelt werden und aus der Isolation rauskommen. Die Entwicklung ist, wie gesagt, kompliziert, und man muss immer genau überlegen: Was meint man?

Meint man unspezifische, allgemeine Lebensängste? Dann würde ich unserem Papst zustimmen. Aber natürlich ist das kein Medikament, sondern es ist einfach gesunder Menschenverstand. Das es natürlich für jeden etwas ist, was ihm auch sehr viel gibt, wenn er sich auch für andere Menschen engagiert und sich nicht nur permanent um sich selber dreht.

Wer im Alter regelmäßig in die Kirche geht, wird seltener depressiv. Das ist das Ergebnis einer Studie des Trinity College im irischen Dublin. Für die Studie wurden zwischen 2010 und 2016 über 6.000 Menschen untersucht, die älter als 50 Jahre sind. „Die religiöse Praxis und das psychische Wohlergehen sind in sehr komplexer Weise miteinander verbunden“, sagte die leitende Forscherin Joanna Orr. Die Ergebnisse seien vor allem vor dem Hintergrund wichtig, dass vielen Menschen Religion wichtig sei, deren Ausübung jedoch abnehme. „Es ist wichtig“, sagte Orr, „dass religiöse Praxis möglich ist. Dadurch entstehen soziale Netzwerke und soziale Partizipation.“ Dies seien die Hauptgründe, aus denen Kirchgänger weniger häufig depressiv werden.

Original-Interview aufgenommen in Leipzig von Kameramann Thomas Beckmann | Deutscher Sprecher: Matthias Ubert | Redaktionelle Bearbeitung, Moderation und Schnitt: Christian Peschken für Pax Press Agency im Auftrag von EWTN Deutschland und CNA Deutsch.

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