Kardinal Kurt Koch, der Präfekt des Dikasterium zur Förderung der Einheit der Christen, hielt die nachfolgende Predigt am frühen Abend des Gründonnerstags in der Kirche des Campo Santo Teutonico, des deutschen Friedhofs im Vatikan.

Gegenwart als erinnerte Vergangenheit

„Diesen Tag sollt ihr als Gedenktag begehen. Feiert ihn als Fest zur Ehre des Herrn! Für die kommenden Generationen macht euch diese Feier zur festen Regel!“ Diese Anweisung Gottes an das Volk Israel haben wir am Schluss der ersten Lesung aus dem alttestamentlichen Buch Exodus gehört. Spontan werden wir an eine ähnliche Anweisung denken, die wir in jeder Eucharistiefeier nicht nur hören, sondern auch mit unserem Glauben beantworten: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ Die inhaltliche Nähe der beiden Anweisungen zeigt, wie tief der christliche Glaube in der jüdischen Religion verwurzelt ist. Jesus hat uns am Abend vor seinem Leiden beim Letzten Abendmahl die Eucharistie geschenkt. Gemäss der Überzeugung der drei ersten Evangelisten hat Jesus dies im Rahmen eines Paschamahles getan, das die Juden noch heute in der „Nacht aller Nächte“ feiern. Bei diesem nächtlichen Mahl hat sich Israel, das auserwählte Volk Gottes, an das Handeln Gottes erinnert, als er Israel aus der langen Sklaverei in Ägypten befreit hat. Israel hat sich dabei vor allem an das nächtliche Abschiedsmahl erinnert, das es vor der Flucht aus Ägypten zu sich genommen hat. Deshalb musste es in Eile vollzogen werden: „So sollt ihr es essen: eure Hüften gegürtet, Schuhe an den Füssen, den Stab in der Hand. Esst es hastig! Es ist die Paschafeier für den Herrn – das heißt: der Vorübergang des Herrn.“

So feiern die frommen Juden noch heute das Pascha. Sie feiern es nicht einfach als ein Geschehen in der Vergangenheit. Indem sie sich daran erinnern, wird es zugleich Gegenwart. Dieses Verständnis von Erinnern ist freilich um eine Welt verschieden von unserem heutigen Begriff. Wenn wir uns an etwas erinnern, ist es und bleibt es für uns vergangen. Für die Juden hingegen wird durch das Erinnern Vergangenheit Gegenwart, wird Vergangenes vergegenwärtigt. Deshalb heißt es in der Pascha-Haggada: „Jeder, der jetzt mitfeiert, betrachte sich als einer, der jetzt aus Ägypten auszieht.“ Beim feierlichen Seder-Mahl ziehen sie selbst mit aus Ägypten aus.

Wir Christen verhalten uns genau so. In der Messe vom Letzten Abendmahl am Hohen Donnerstag wird im eucharistischen Hochgebet bewusst eine kleine Notiz eingeschoben: „In der Nacht, da er verraten wurde – das ist heute –, nahm er das Brot und sagte Dank.“ Oder an Weihnachten singen wir in der Magnifikat-Antiphon: „Hodie Christus natus est“ – „Heute ist Christus geboren“. Oder in der Magnifikat-Antiphon an Pfingsten heißt es: „Heute erschien der Heilige Geist im Zeichen des Feuers.“ All dies steht im Hintergrund, wenn der eucharistische Einsetzungsbericht mit dem kleinen Satz endet: „Tut dies zu meinem Gedächtnis.“ Jedesmal, wenn wir Eucharistie feiern, sind wir gleichsam im Jerusalemer Abendmahlssaal dabei, in dem Jesus mit seinen Jüngern das Abschiedsmahl vor seinem Leiden hält, uns als Testament das Geschenk der Eucharistie hinterlässt und uns so seine bleibende Gegenwart in den sakramentalen Zeichen von Brot und Wein schenkt.

Anbetung als Ziel der Befreiung

Wenn Vergangenheit durch Erinnerung Gegenwart wird, müssen wir noch genauer fragen, was denn damals geschehen ist. Fragen wir zunächst, was mit dem Volk Israel bei seinem nächtlichen Abschiedsmahl geschehen und was das Ziel der Befreiung aus Ägypten gewesen ist. Darauf gibt es in der Heiligen Schrift zwei Antworten, wobei die eine uns allen bekannt ist: Das Ziel der Befreiung ist das Erreichen des Gelobten Landes, in dem Israel endlich auf eigenem Grund und Boden und damit innerhalb von gesicherten Grenzen als eigenes Volk in Freiheit und Unabhängigkeit leben kann. Der ursprüngliche Befehl Gottes an den Pharao aber heißt: „Lass mein Volk ziehen, damit sie mich in der Wüste verehren können“ (Ex 7, 16). Dieser Befehl wird bei allen Verhandlungen zwischen Moses und Aaron einerseits und dem Pharao andererseits noch viermal wiederholt und zugespitzt: „Wir wollen drei Tagesmärsche weit in die Wüste ziehen und dem Herrn, unserem Gott, Schlachtopfer darbringen, wie er uns gesagt hat“ (Ex 8, 23). Israel wird aus Ägypten befreit, damit es Gott in rechter Weise anbeten kann. Selbst das verheißene Land wird gegeben, damit Israel einen Ort der Verehrung des wahren Gottes hat.

Die Befreiung des in Ägypten geknechteten Volkes Israel hat die wahre Verehrung Gottes zum Ziel. Müsste uns Christen dies nicht zu denken geben? Ist das Verständnis der Eucharistie als Anbetung Gottes in den letzten Jahren nicht arg in Vergessenheit geraten? Nach dem Konzil ist vor allem der Gedanke der Partizipation, der Teilnahme aller Getauften an der Eucharistie in den Vordergrund getreten. Dies ist ohne Zweifel eine wichtige Entwicklung gewesen, weil das versammelte Volk Gottes an der Liturgie innerlich und äußerlich teilnehmen soll. Aber in der Folge sind der Mahlcharakter der Eucharistie und die Anbetung Gottes immer mehr als Gegensätze betrachtet und mit dem oberflächlichen Argument begründet worden, das Brot sei zum Essen und nicht zum Anbeten da. Dass es sich dabei aber um eine schiefe Alternative handelt, hat bereits der Heilige Augustinus mit seiner tiefen Aussage erkannt, dass niemand „von diesem Fleisch“ essen soll, „wenn er nicht zuvor angebetet hat“: „Nemo autem illam carnem manducat, nisi prius adoravit.“

Mit der Anbetung ist freilich mehr gemeint als die Praxis der eucharistischen Anbetung außerhalb der Eucharistiefeier. Es geht vielmehr elementar darum, dass die Feier der Eucharistie selbst der größte Anbetungsakt der Kirche ist und deshalb die Feier der Eucharistie nur im Klima der Anbetung ihre Größe und Kraft wiedergewinnen kann, wie Papst Benedikt XVI. mit Recht betont hat: „Nur im Anbeten kann tiefes und wahres Empfangen reifen. Und gerade in diesem persönlichsten Akt der Begegnung mit dem Herrn reift dann auch die soziale Sendung, die in der Eucharistie enthalten ist und nicht nur die Grenze zwischen dem Herrn und uns, sondern vor allem auch die Grenzen aufreißen will, die uns voneinander trennen.“

Letztes Abendmahl und Kreuz

Der tiefe Ernst der Eucharistie tritt dann vor unsere Augen, wenn wir bedenken, dass Jesus sein Letztes Abendmahl im Vorblick auf den Karfreitag vollzogen hat. Wie Paulus uns in der zweiten Lesung überliefert, spricht Jesus beim Letzten Abendmahl nicht nur von seinem Leib, sondern bewußt von seinem Leib, der für euch hingegeben wird, und von seinem Blut, das für euch vergossen wird. Jesus vollzieht damit beim Letzten Abendmahl sein Sterben am Kreuz voraus und verwandelt es von innen her in ein Geschehen der Hingabe und der Liebe. Denn an sich und von außen betrachtet ist der Kreuzestod Jesu ein profanes Ereignis, nämlich die Hinrichtung eines Menschen in der grausamsten der von Menschen ersonnenen Arten. Die Heilige Schrift aber ist überzeugt, dass Jesus diese erbärmliche Gewalttat der Menschen gegen ihn in einen Akt der Hingabe für die Menschen, in einen Akt der Liebe, umgewandelt hat, und zwar von innen her.

Damit wird die untrennbare Einheit zwischen dem Letzten Abendmahl Jesu und seinem Tod am Kreuz sichtbar: Ohne den Tod am Kreuz wären die Abendmahlsworte Jesu letztlich eine Währung ohne Deckung. Umgekehrt aber wäre ohne die Abendmahlsworte Jesu der Kreuzestod eine bloße Hinrichtung ohne jeden erkennbaren Sinn. Sinn hat der Kreuzestod Jesu vielmehr nur aufgrund der Wandlung des Todes in Liebe von innen her. Dass Jesus bei seinem Letzten Abendmahl seinen Tod am Kreuz in geistiger Weise vorweg vollzogen hat, zeigt zudem, dass Jesus eine völlig neue Form von Gottesdienst in die Welt gebracht hat. Ihm genügt es nicht mehr, dass die Menschen irgendwelche materiellen Opfer darbringen, Tieropfer oder Sachopfer, wie dies im Jerusalemer Tempel der Fall gewesen ist. Jesus bringt nicht irgendetwas dar, sondern sich selbst. Die Hingabe seines Lebens ist das Opfer, das Jesus vollzieht, um uns seine Liebe zu zeigen, die ohne Grenzen ist.

Damit hat Jesus auch alle Tempelopfer abgelöst. Sein Leib, hingegeben für uns Menschen, ist der neue Tempel. Und der neue Gottesdienst, den Jesus in die Welt gebracht hat, findet zunächst nicht in einer liturgischen Gestalt statt. Die wahre Liturgie vollzieht Jesus vielmehr am Kreuz in der Hingabe seines Lebens. Darauf weist vor allem der Evangelist Johannes hin. Für ihn ist es wichtig, dass Jesus genau in jener Stunde am Kreuz gestorben ist, in dem im Jerusalemer Heiligtum die Paschalämmer geschlachtet worden sind. An deren Stelle tritt Er, der Gute Hirt, der selbst Lamm wird, um auf der Seite der bedrängten Lämmer zu sein. Nun zählt auch der steinerne Tempel nicht mehr; der Herr selbst ist zum Tempel geworden und damit zum Ort, an dem Gott wohnt und wir ihn anbeten. An die Stelle des Tempels ist die Eucharistie getreten, in der sich Christus als das wahre Osterlamm uns Menschen schenkt.

Christliche Liturgie des Lebens

Von daher können wir auch verstehen, warum das heutige Evangelium mit den lapidaren Worten beginnt: „Es war vor dem Paschafest.“ Johannes weist ferner darauf hin, dass ein Mahl stattfand, bei dem er aber nicht von der Einsetzung der Eucharistie berichtet, sondern von der Fußwaschung Jesu. In dieser Zeichenhandlung fasst Jesus sein ganzes Leben zusammen und offenbart seine grenzenlose Liebe, die uns zur Gemeinschaft mit Gott fähig macht.

Dies wird vor allem deutlich in der Antwort Jesu auf den Protest des Petrus, der sich von Jesus nicht die Füße waschen lassen will: „Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir.“ Zur Gemeinschaft mit Gott fähig werden, dies setzt voraus, dass wir – ausnahmslos alle – uns die demütige Geste Jesu gefallen lassen müssen, dass er uns die Füße wäscht. Denn wir alle sind irgendwie unrein und müssen uns von Jesus waschen lassen, weil wir nur so Anteil an ihm erhalten können. Wie Petrus müssen auch und besonders wir Priester, denen Jesus beim Letzten Abendmahl die Feier der Eucharistie anvertraut, uns die Demut Jesu gefallen lassen.

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Da Jesus seine Eucharistie am Kreuz vollzogen hat, lädt uns der Hohe Donnerstag ein, in neuer Weise des tiefen Ernstes der Eucharistiefeier ansichtig zu werden. Sie ist nicht einfach ein Ritual, mit dem wir menschliche Gemeinschaft feiern und Brot miteinander teilen. Die Eucharistie hat Jesus vielmehr das Leben gekostet. Sie ist Tod-ernst – für Jesus, aber auch für uns. Wir sind deshalb eingeladen und herausgefordert, uns in die Hingabebewegung Jesu, die wir in der Eucharistie feiern, hinein nehmen zu lassen und selbst eine lebendige Opfergabe in Christus zu werden, wie wir es im eucharistischen Hochgebet zum Ausdruck bringen.

Wir bitten Gott, dass das Opfer Jesu Christi, das wir in der Eucharistie sakramental feiern, uns nicht einfach äußerlich und uns gleichsam nur gegenüber anwesend sei und uns bloß als objektives und materielles Opfer erscheine, das wir dann anschauen könnten wie die dinglichen Opfer in früheren Zeiten und anderen Religionen. Dann freilich hätten wir den Überstieg ins Christliche noch nicht gewagt. Aber wir bitten Gott, dass die Hingabe Christi an Gott und die Menschen, die wir in der Eucharistie feiern, uns innerlich werde und dass wir selbst hinein genommen werden in die Bewegung der Hingabe Jesu selbst. Oder mit anderen Worten: Wir bitten Gott, dass wir selbst wie Christus und mit Christus Eucharistie und so für Gott wohlgefällig und für die Menschen genießbar werden.

Jesus hat beim Letzten Abendmahl die Eucharistie eingesetzt, vollzogen hat er sie aber am Karfreitag am Kreuz. Die Messe vom Letzten Abendmahl führt uns diesen Ernst vor Augen. Wir wollen ihn uns zu Herzen gehen lassen, wenn wir in dieser Nacht mit Jesus Wache halten und beten – erfüllt von tiefer Dankbarkeit für das kostbare Geschenk seiner Gegenwart in der Eucharistie, die auch in der tiefen Nacht standhält. Amen.