Ist die Kirche krank? Die Diagnosen sind zahlreich. 1989 stellte Eugen Drewermann den katholischen Kleriker als Täter und Opfer in einem repressiven System dar. 1999 beschrieb Manfred Lütz in seinem Buch „Der blockierte Riese“ die katholische Kirche als heillos zerstrittene Familie. Auch Papst Franziskus diagnostiziert kirchliche Pathologien. 2013 kritisierte er in der Enzyklika „Evangelii Gaudium“ diejenigen, die sich „anderen überlegen fühlen, weil sie bestimmte Normen einhalten oder weil sie einem gewissen katholischen Stil der Vergangenheit unerschütterlich treu sind“, und warf ihnen ein „narzisstisches und autoritäres Elitebewusstsein“ vor. In seiner berüchtigten Weihnachtsansprache 2014 listete er dann gleich 15 Krankheiten der römischen Kurie auf, darunter „spirituelles Alzheimer“ und „existenzielle Schizophrenie“. 2017 sprach er vom „Krebsgeschwür“ der Cliquen und Bürokraten im Vatikan, die durch „Selbstbezogenheit“ und „Eitelkeiten“ korrumpiert seien. Im Gegenzug schilderte der englische Historiker Henry Sire in seinem zunächst unter Pseudonym veröffentlichten Werk „Dictator Pope“ (2017) den Pontifex als rachsüchtigen, autoritären und manipulativen Herrscher auf dem Papstthron – mithin als klassischen Psychopathen.

Franziskus wiederum nannte erst kürzlich den Klerikalismus eine „sehr ansteckende Krankheit“. Sie befalle nicht nur Priester und Bischöfe, warnte der Papst: „Noch schlimmer sind klerikalisierte Laien. Sie sind eine Pest in der Kirche. Der Laie muss Laie bleiben.“ Manche Beobachter wollten in diesen Worten einen Kommentar des Pontifex zum Synodalen Weg in Deutschland erkennen, wo Laienfunktionäre die Einrichtung neuer Gremien anstreben, in denen sie über den Kurs der Kirche bestimmen können. Indessen wurde auch beim Synodalen Weg fleißig diagnostiziert. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Bischof Georg Bätzing, sagte bei der Abschluss-Pressekonferenz zur fünften und letzten Synodalversammlung in Frankfurt Mitte März 2023: „Wir haben Menschen überall, die sich schwertun mit den Beschlüssen. Mein Punkt ist immer: Was nehmen wir ihnen? Das sind mehr psychologische Gründe als echte theologische Gründe oder Fragen der Frömmigkeit.“ Dass auch Papst Franziskus zu denjenigen gehört, die sich „schwertun mit den Beschlüssen“, erwähnte Bätzing nicht. Der DBK-Vorsitzende versteht offenbar nicht, warum es Leute gibt, die etwas gegen die beim Synodalen Weg angestrebten Veränderungen der kirchlichen Lehre und Praxis haben. Dass da theologische Überlegungen eine Rolle spielen, kann er sich nicht vorstellen. Es muss etwas Psychologisches sein. Aber was?

Eberhard Tiefensee, Priester und emeritierter Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt, holte bei der Vollversammlung historisch weit aus: „Offensichtlich leben wir in einer katholischen Kirche, die durch die Reformation und die Französische Revolution schwer traumatisiert ist, sodass bestimmte Worte regelrechte Triggerreaktionen auslösen: Demokratie, Moderne, Selbstbestimmung, Säkularisierung, Gender und neuerdings auch Synodaler Rat.“ Eine „vernünftige Diskussion“ sei darum nicht möglich. „Das sind eigentlich fast – ich sage es so hart – psychopathische Reaktionen“, so Tiefensee. Wer sich beim Synodalen Weg gegen die Mehrheit stellt, ist für Tiefensee kein ernstzunehmender Gesprächspartner mehr: Er ist krank, steht noch unter dem Einfluss eines uralten kollektiven Traumas. Für diesen Beitrag erhielt der Philosophieprofessor einen Ordnungsruf der Versammlungsleitung.

Ein paar solcher „Ordnungsrufe“ habe auch ich mir eingefangen, nachdem ich in der „Herder Korrespondenz“ einen kleinen Text über die europäische Kontinentalversammlung des von Papst Franziskus ins Leben gerufenen Synodalen Weltprozesses in Prag veröffentlicht hatte. Ich meinte, grosso modo im deutschen Katholizismus die Überzeugung wahrgenommen zu haben, etwas ganz Besonderes zu sein: theologisch international führend und kirchenpolitisch an vorderster Front des Fortschritts. Die Prager Versammlung erschien mir wie eine narzisstische Kränkung des deutschen Katholizismus, weil er dort mit seiner vermeintlichen Führungsrolle nicht durchgedrungen war: Einige Teilnehmer äußerten zwar ähnliche Auffassungen, wie sie in Deutschland mehrheitlich vertreten werden, manche setzten aber auch gänzlich andere Schwerpunkte oder äußerten gar konträre Meinungen. Das bockige Auftreten deutscher Wortführer bestätigte den Eindruck, dass das grandiose Selbstbild des deutschen Katholizismus in Prag einige empfindliche Kratzer erlitten haben musste. Bei einigen Lesern sorgte der Artikel für Empörung. Andere – auch hochrangige Beobachter und Teilnehmer der Versammlung – ließen mich amüsiert wissen: „Genauso war es!“

In der politischen Diskussion werden psychologische Zuschreibungen gern eingesetzt, um Andersdenkende zu diskreditieren. Man erklärt den Gegner für verrückt – und muss sich mit seinen Argumenten nicht weiter auseinandersetzen. Nun gibt es aber Menschen, die wirklich verrückt sind. Mit denen sind Gespräche tatsächlich ziemlich anstrengend. Und auch Gruppen, Organisationen und ganze Gesellschaften können verrückt sein. In der Psychologie jedenfalls ist von gesellschaftlichen Pathologien, kollektiven Neurosen und Massenpsychosen die Rede.

Doch das Urteil darüber ist nicht neutral. Was man für eine Krankheit hält, hat immer auch mit den Werten zu tun, die man bei der Definition zugrunde legt. Ein amerikanischer Südstaaten-Arzt beschrieb Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Begriff „Drapetomanie“ den krankhaften Drang von Sklaven, aus der Gefangenschaft zu fliehen. Als Heilmittel empfahl er Züchtigungen mit der Nilpferdpeitsche. Vielleicht sind also die deutschen Ambitionen, die Kirche umzubauen, ganz berechtigt – und kommen mir nur deshalb narzisstisch vor, weil ich ein repressives System internalisiert habe…?

Ist die Kirche krank? Der Zustand der zerstrittenen Familie Gottes, den Manfred Lütz vor bald 25 Jahren beschrieben hat, hat sich jedenfalls verschlimmert. Das Familienoberhaupt, Papst Franziskus, hat die Idee, dass alle noch einmal unvoreingenommen miteinander sprechen sollen; dann würden sich schon Auswege aus der Krise auftun; außerdem sei er selbst der beste Garant für den Familienzusammenhalt. Doch den Fraktionen innerhalb der Familie fällt es zunehmend schwer, sich aufeinander einzulassen, denn beide Seiten glauben, dass die anderen nicht mehr alle Tassen im Schrank haben. Die eine Fraktion hofft auf eine Trennung, besser heute als morgen. Die andere Fraktion spekuliert darauf, sich langfristig durchsetzen und ihre Gegner an den Rand schieben zu können.

Währenddessen ist ein lang verdrängtes Familienproblem ans Licht gekommen: Kleriker haben die Aura ihres Amtes missbraucht und sich an Kindern und Jugendlichen sexuell vergangen; Bischöfe waren um das Ansehen der Kirche so besorgt, dass sie versucht haben, die Taten vor den Augen der Öffentlichkeit zu verbergen. Doch der innerkirchliche Konflikt ist so dominant, dass er das Thema vollständig absorbiert hat. Man betrachtet die Missbrauchsproblematik bevorzugt durch die eigene kirchenpolitische Brille. Konservative, vor allem in den USA, verweisen auf den Fall des US-amerikanischen Ex-Kardinals Theodore McCarrick: Für sie hat das Problem mit dem Niedergang der Nachkonzilszeit zu tun und mit der sexuellen Revolution der Siebzigerjahre; sie machen insbesondere homosexuelle Kleriker für die Vorfälle verantwortlich. Progressive meinen hingegen, dass sexueller Missbrauch nur verhindert werden kann, wenn das Frauenpriestertum eingeführt, der Zölibat abgeschafft und die Macht der Bischöfe durch ein Rätesystem begrenzt wird.

Helfen kann nur der heilige Arzt

Wie schlimm steht es wirklich um die Mutter Kirche auf dem Krankenbett? Muss sie auf die Intensivstation verlegt werden? Gibt es Hoffnung für sie? Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer geht von einer Art Gendefekt aus: Der Machtmissbrauch stecke „in der DNA der Kirche“ sagte er 2018 in einem Interview. Von der „Heiligkeit der Kirche“ könne man nur noch sprechen, wenn man gleichzeitig anerkenne, dass in ihr „Strukturen des Bösen“ wirksam seien. Klingt nach einem hoffnungslosen Fall.

Die Äußerung hat auch Widerspruch hervorgerufen – am eindrücklichsten vielleicht durch den evangelischen Theologen Notger Slenczka, der in einem langen Artikel in der „Herder Korrespondenz“ das katholische Verständnis von der Heiligkeit der Kirche erläuterte (ohne es selbst zu teilen). Die Kirche ist heilig, so Slenczka, „ohne Makel und Runzeln“ (Epheser 5,27), nicht, weil all ihre Glieder oder auch nur die Angehörigen des geistlichen Standes in ihr heilig wären. Alles, was in der Kirche heilig genannt wird, ist dies nur, weil und insofern es auf „die selbstlose Menschenliebe, die Gottes Wesen ist“ verweist. Dieser Schatz, der in der Kirche niedergelegt ist, ihr Thesaurus, ist „unverlierbar“. Slenczka schreibt: „Die Kirche soll nicht nur heilig sein, sondern in erster Linie ist sie heilig: Ort der Gegenwart und Ort der ergreifenden Mitteilung der Selbstlosigkeit der Liebe zum Menschen. Ort der Gegenwart Jesu Christi. Das ist der Grund dafür, dass hier die Enttäuschung über Verfehlungen am größten ist. Es ist aber auch der Grund, der Kirche nicht den Rücken zu kehren.“

Die Kirche mag derzeit wie ein völlig zerrütteter, mit sich selbst beschäftigter Verein erscheinen, der außerstande ist, seine eigentliche Mission zu erfüllen. Aber das Herz schlägt noch. Denn in Wirklichkeit wird die Kirche in ihrem Wesen von allen den abgründigen Sünden ihrer Diener und deren grotesken Streitigkeiten überhaupt nicht berührt. In ihr lebt die Wahrheit. Dieser Schatz ist unverlierbar. Gott ist treu, er widerruft seine Gaben nicht (Römer 11,29). Er ist in Jesus Christus Fleisch geworden und hat sich an die Welt gefesselt. Er hat gewollt, dass seine Heiligkeit in dieser Kirche bewahrt wird. Ganz konkret. Noch einmal Slenczka: „Der Kirchenraum, den der Gläubige mit dem Kreuzeszeichen am Eingang als heilig anerkennt, ist nicht selbst heilig, sondern in ihm ist das Heilige, die selbstlose Liebe zum Menschen, gegenwärtig: zunächst die Heiligkeit der Bilder und der Reliquien. Aber auch diese Bilder und die Reliquien sind, wie gesagt, nur Relikte der Heiligen, Zeugnisse ihres Lebens; und ihr Leben war selbst wieder heilig nur als Zeugnis der selbstlosen Menschenliebe, des Lebens und Sterbens Jesu, der in der Hostie gegenwärtig ist. Erst hier, mit der Hostie, ist der Punkt erreicht, in der das Heilige, die selbstlose Menschenliebe, vom Medium seiner Gegenwart ununterscheidbar und selbst gegenwärtig ist: unfassbar und ungreifbar, aber doch gegenwärtig.“

Hier ist der Arzt, hier die Medizin: Christus lebt in seiner Kirche. Von dieser Heiligkeit in ihrem Zentrum muss sich die Kirche in all ihren Gliedern ergreifen lassen und sie neu zum Strahlen bringen. Aus dieser Quelle muss sie schöpfen. Dann kann sie die selbstlose Menschenliebe Gottes auch wieder glaubwürdig bezeugen.

Benjamin Leven, geboren 1981, Theologe und Journalist, Redakteur der „Herder Korrespondenz“

Dieser Artikel erschien zunächst im Vatican-Magazin (April 2023). Er ist hier bei CNA Deutsch mit freundlicher Genehmigung veröffentlicht. Das Vatican-Magazin kann HIER abonniert werden.

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