Die "Kultur des Verschweigens und Verschiebens und der Schutz der Täter aus den eigenen Reihen lässt sich endlich keinen Tag länger mehr verteidigen": Das schrieb der heutige EWTN-Romkorrespondent Paul Badde im Jahr 2010 in einem Kommentar für die "Welt", der sich heute, im Jahr 2018, wie eine gespenstische Prophezeiung der Glaubenskrise und ihrer Folgen liest.

Karte des Missbrauchs

Die katholische Kirche war immer schon eine Bande von Sündern – manche Päpste eingeschlossen, wie etwa Alexander VI. mit seiner "reifen erotischen Persönlichkeit”, wie es heute vielleicht heißen würde. Das Wunder der Kirche war hingegen, dass diese Bande von Sündern es auch immer wieder schaffte, große und kleine Selige und Heilige hervorzubringen, von Generation zu Generation, vom heiligen Stephanus über Franz von Assisi bis zu Kardinal Newman oder Mutter Teresa.

Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Das bleibt auch von dem ungeheuren Schock unberührt, mit dem nun ausgerechnet in dem vom Papst Benedikt XVI. ausgerufenen Priesterjahr schwere Verbrechen und teuflische Sünden von vielen Priestern in der Vergangenheit wie in einem Vulkanausbruch auf die Kirche herabregnen. Da hilft alles Entschuldigen nichts mehr, und das weiß wohl keiner besser als der Papst, wie sein Brief an die Bischöfe Irlands deutlich machen wird – aus der Wiege des christlichen Europa! –, den er heute in Rom unterschreibt.

Doch nicht nur das: Auch die naive Kultur des Verschweigens und Verschiebens und der Schutz der Täter aus den eigenen Reihen lässt sich endlich keinen Tag länger mehr verteidigen. Auch alles Relativieren hilft da nichts, erst recht nicht bei der Kirche, die sich ja wie keine Institution sonst dem Absoluten verschrieben hat. Es nutzt nichts, darauf hinzuweisen, dass über 80 Prozent solcher Delikte in Familien stattfinden, dass sich die Missbräuche in der Kirche im Promille-Bereich bewegen, dass sich solche Verbrecher immer wieder warme Vertrauensräume suchen, in Internaten, in Kibbuzim, in Kindergärten, wo auch immer Nestwärme vorherrscht.

Die Scham und der Holocaust

Es hilft nicht, darauf hinzuweisen, dass früher vor allem eine öffentliche Scham solchen Missbrauch geschützt hat, die jener kollektiven Scham nicht unähnlich war, mit der in den 50er-Jahren selbst ein Jahrtausendverbrechen wie der Holocaust zehn Jahre zuvor vor allem beschwiegen wurde in Deutschland. Es war eine Schande, ein atavistisches Tabu, das jedermann zu berühren fürchtete, um nicht selbst davon verschlungen zu werden. Schluss damit. Nun kommt all dies an ein Ende, und dass bei all dem die katholische Kirche nun eine fatale Vorreiterrolle spielt, obwohl sie prozentual wohl die wenigsten Kinderschänder in ihren Reihen hat, ist nicht nur schlecht. Das ist bei allem Unheil auch gut so.

Denn der Anspruch ist ja hier viel höher. Priester, die Kinder schänden, sind noch schlimmer als Väter, die sich an ihren eigenen Söhnen vergehen. Eine größere Gotteslästerung ist nicht denkbar. Das ahnen selbst hartgesottene Schwerverbrecher und Mörder in ihren Zuchthäusern, unter denen Kinderschänder überall den schäbigsten Rang einnehmen – und darum besonders geschützt werden müssen, weil sie hier oft an Leib und Leben bedroht werden. Da ist es nur gerecht, dass die überfällige Aufklärung in der katholischen Kirche nun am meisten schmerzt – unbesehen aller archaischen Instinkte zur allgemeinen Hexenjagd, die dabei auch noch wie nebenbei geweckt werden mögen.

Es ist eine Operation am offenen Leib, ohne Narkose. Es ist – endlich! – das Skalpell jener "Reinigung der Erinnerung”, die schon Papst Johannes Paul II. so dringend für die Kirche insgesamt angemahnt hat. Da ist es im Moment wirklich kein Vergnügen, katholisch zu sein. Aber als Vergnügen pur war die Nachfolge Christi ja auch nie gedacht. Im Gegenteil, wer zeigt besser, wohin es führt, wenn das Vergnügen pur zur obersten Leitlinie des Handelns wird als jene Priester, deren Untaten sie nun noch nach Jahrzehnten einholen – oder als der explodierende Markt für Kinderpornos in unserer Zeit.

Ein faules Ei verdirbt die ganze Pfanne

Was nun für viele in Deutschland aber schon als das Ende der Kirche erscheinen mag, weil ihre Aura praktisch über Nacht erloschen scheint, wird und muss de facto ein Neubeginn sein, unter Gott sei Dank völlig veränderten Bedingungen. Denn die Kirche ging ja noch nie ganz auf in dieser Welt. Neben dem Glanz Gottes ist ihr auch das "Mysterium des Bösen” wohl vertraut. Deshalb versteht sie sich seit jeher auch als semper reformanda: als immer reformbedürftig.

Wäre die Kirche ein Omelette, müssten wir sie jetzt endlich in die Tonne treten wie vergifteten Fisch, weil ja schon ein einziges faules Ei in der Pfanne die ganze Chose ungenießbar verdirbt. Das ist in der Kirche grundsätzlich anders. Hier kann ein einziger Schweinepriester den Ruf aller Katholiken zwar nachhaltig beschädigen, nicht aber die Substanz der Kirche, die sich aus den Wunden Christi am Kreuz speist – und wo deshalb bis heute der überwältigend große Anteil an Priestern ihre Lebensform als Weg zur Heiligkeit gewählt haben.

Rund um den Erdball leisten sie dabei täglich bewundernswert Wunderbares – und natürlich auch weiterhin in Deutschland oder Irland, wo sie plötzlich zu Parias geworden sind: zur verachtetsten Zunft, vor deren Vertretern Eltern ihre Kinder von der Straße holen. Es ist eine Katastrophe in ihrem dramatischen griechischen Wortsinn, als "Umkehrung der Ordnung”.

Der Papst ist kein Zauberer

Darauf kann die Antwort nur eine radikale Umkehr zu Gott hin sein, als Buße im klassischen Sinn in dieser vorösterlichen Bußzeit – und das sieht in der katholischen Kirche heute wahrscheinlich keiner klarer als der Papst selbst. Eine Steuerung in genau diese Richtung darf deshalb auch jeder von ihm in den kommenden Tagen erwarten: als riskantes Umkehrmanöver des Schiffes Petri in höchst stürmischer See, für einem Umkehrschub der Kirche auf ihren Ursprung hin.

Denn Benedikt XVI. ist ja kein Zauberer oder Magier, Wunder gehen ihm so wenig leicht von der Hand wie uns. Er ist aber auch kein Bundeskanzler oder Leitartikler. Wenn er am kommenden Sonntag also wieder an sein Fenster zum Angelus tritt, wird er auch diesmal mit den Menschen auf dem Petersplatz zuerst und zuletzt wieder den "Angelus” beten, das Gebet vom "Engel des Herrn”, mit dem hier seit Jahrhunderten Sonntag für Sonntag neu die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus in Erinnerung gerufen wird.

Sein Brief an die irischen Bischöfe (dem er wohl keinen Brief an die Deutschen folgen lässt) wird höchst strenge Richtlinien für eine rückhaltlose Aufklärung und zur Vermeidung jedes weiteren Missbrauchs haben, sowie klare Vorgaben zum rechten und gerechten Umgang mit den Opfern enthalten. Vor allem aber wird er auch in diesem Schreiben wieder tun, was er versucht, seit er vor fünf Jahren das Amt des Petrus "wie das Messer einer Guillotine” auf sich zustürzen sah: nämlich all die Asche wegzuschaufeln, die die Glut der Kirche zu ersticken droht.

Missbrauch als Glaubenskrise

Denn es ist ja auch jedem Laien einsichtig, dass erst ein Erlöschen des spirituellen Feuers jedem Missbrauch von Geistlichen vorausgegangen sein muss. Dass ein Priester, der sich an Kindern vergeht, die Worte Jesu schon lang nicht mehr ernst genommen hat, wo es etwa heißt: "Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworden würde” (Markus 9,42).

Wie sollte dies dem Papst verborgen sein? Deshalb kann er gar nicht anders, als hinter allen Missbräuchen auch eine fast noch tiefer reichende erschreckende Glaubenskrise monströsen Ausmaßes zu erkennen. Einen Abfall vom Evangelium. Eine Verhöhnung Gottes selbst unter Theologen. Keiner wird deshalb erwarten dürfen, dass der Papst die Ehelosigkeit der Priester auch nur im Traum zur Disposition stellen wird.

Vielmehr wird er gerade den Zölibat katholischer Priester neu zu stärken versuchen, der ja nicht anders verstanden werden kann als sichtbarster Ausdruck ihrer persönlichen Liebesbeziehung zu Gott, dem sie sich mit diesem Schritt doch einmal mit Haut und Haar verschrieben haben. Sicher wird der Papst das Feuer dieser Liebe noch einmal neu zu entfachen versuchen. Verstörend bleibt dennoch dies: Jetzt fallen die Sünden der 50er-, 60er- und 70er-Jahre auf uns zurück. Wie lange wird dieser Prozess wohl für jene neuen Sünden dauern, die wir heute unter uns verschweigen?

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