Mit etlichem, was Kardinal Schönborn am 2. Februar in dem vierstündigen, vom Bayerischen Rundfunk auszugsweise wiedergegebenen Gespräch mit dem Missbrauchsopfer Doris Reisinger, geb. Wagner sagte, bin ich nicht einverstanden. Dennoch finde ich es gut, dass er zu diesem Gespräch bereit war. Das verdient unseren Respekt.

Viel zu oft und viel zu lange sind Opfer spirituellen oder sexuellen Missbrauchs auf taube Ohren gestoßen!

Es war höchste Zeit, dass sich ein so hochgestellter Repräsentant der Kirche einem Opfer stellt. Es gibt dazu keine Alternative. Und natürlich hat er richtig gehandelt, als er zu Frau Reisinger sagte: "Ich glaube Ihnen!" Denn das ist ja das Schlimme, dass die Opfer zum zweiten Mal zum Opfer gemacht werden, wenn ihnen nicht geglaubt wird: Sie werden Opfer einer Vertuschungsstrategie. Es ist sicherlich nicht unangebracht, bei dieser denkwürdigen Begegnung in Doris Reisinger gewissermaßen auch die Repräsentantin der Opfer zu sehen.

Dass in ihrem speziellen Fall das Opfer Mitglied einer eher konservativen, glaubenstreuen Gemeinschaft war, macht die Sache nicht besser, sondern schlimmer. Dem sexuellen Missbrauch war der spirituelle vorausgegangen. Ich kann mich gut erinnern, wie P. Andreas Hönisch, der seine geistliche Heimat in der alten Jesuitenspiritualität hatte, einmal aus der Zeit seines Noviziats erzählte. Als er dort eintrat, war er bereit, auf seine geliebte Gitarre zu verzichten. Aber dann bekam er zu seiner Freude von seinen Vorgesetzten nicht nur die Erlaubnis, sondern sogar die Weisung zum Gitarrenspiel. Und er erklärte diesen Vorgang so: Gerade weil der Gehorsam bei den Jesuiten so groß geschrieben wird, haben die Vorgesetzten die größte Verantwortung dafür, die Schwächen und Stärken, die Fähigkeiten und Talente der Novizen kennen zu lernen, um ihnen später möglichst jene Aufgaben anzuvertrauen, die auf sie zugeschnitten sind und in denen sie ihre Persönlichkeit entfalten können.

Dies nicht zu tun, sondern ohne Rücksicht auf die persönlichen Stärken und Bedürfnisse eine sich selbst verleugnende Gehorsamsbereitschaft einzufordern, gerade darin besteht der geistliche Missbrauch. Er bricht die Persönlichkeit.

Nach allem, was Doris Wagner ausführlich schilderte, war das bei ihr der Fall. Mit 19 Jahren trat sie ein: mit jugendlichem Idealismus und dem Glauben, dass sie durch den Mund ihrer Vorgesetzten den Willen Gottes erfahren werde. An diesem Glauben hielt sie trotz der sie belastenden Erfahrungen jahrelang fest. Wie ihr Idealismus ausgenutzt wurde, kann jeder selber ihrer Schilderung entnehmen. Das fängt mit solch scheinbaren Kleinigkeiten an, dass sie, die intelligente Abiturientin, jahrelang keine Bücher lesen durfte, bis hin zum Verbot, persönliche Beziehungen oder Gespräche über eigene Probleme zu führen. Erst nach Jahren, und zwar dann, als sie offenbar sexuell missbraucht wurde, fing sie an, ihren Glauben daran zu verlieren, dass alles, was die Oberen anordnen, richtig sei. Und erst im Nachhinein erkannte sie immer mehr die Manipulation, deren Opfer sie geworden war.

Kritiker haben Kardinal Schönborn die skeptische Frage entgegengehalten, ob er den von Frau Reisinger nun angeklagten Personen auch glauben würde, wenn sie ihre Sicht der Dinge schildern würden. Natürlich gilt in diesem Fall der Grundsatz: "Audiatur et altera pars."

Frau Reisinger zu glauben bedeutet nicht, ihr Unfehlbarkeit in allen Details zuzuschreiben. Es ist nicht auszuschließen, dass sie im Rückblick vielleicht das eine oder andere Detail ihrer spirituellen Ausbildung zu Unrecht nur noch im Lichte ihrer Missbrauchserfahrung interpretiert. Aber das ändert nichts an ihrem Opferstatus. Im Gegenteil: Es erhöht den Schaden, für den ihre Ausbildung die Verantwortung trägt.

Wenn Selbstlosigkeit, Hingabe, Demut, Gehorsam missbraucht werden, um das Gewissen eines Menschen zu isolieren und sein Selbstwertgefühl zu untergraben, dann geraten diese wertvollen Tugenden auch dort in Verdacht, wo sie ihren berechtigten Platz haben. Und den vorzüglichsten Platz, das will ich hier gleich hinzufügen, haben sie dort, so sie gerade der Verhinderung des Machtmissbrauchs dienen, nämlich als Tugenden der Mächtigen. Denn diese haben es nötig, von ihrer Macht einen selbstlosen, demütigen und dienenden Gebrauch zu machen. Demut und Selbstlosigkeit einseitig von den Untergegebenen einzufordern, bedeutet ihre Korruption.

Das "Werk" hat einige konkrete Anschuldigungen Frau Reisingers zurückgewiesen, die Berechtigung anderer, nicht näher genannter Kritikpunkte eingeräumt, ihr dafür gedankt und beteuert, bereits einige Änderungen vorgenommen zu haben. Das darf Frau Reisinger als Erfolg verbuchen. Außerdem kann man hoffen, dass das Werk zusätzlich auch in seiner Theologie Ressourcen zur Eigenkorrektur findet, denn es hat sich der Erforschung der Theologie des seligen John Henry Newman verschrieben. Für dieses Engagement habe ich das "Werk" immer geschätzt. Die Theologie Newmans ist in hohem Maße menschlich, ausgewogen und vernünftig.

Frau Reisinger erweckt mir nicht den Eindruck, eine Rachekampagne zu führen, sondern vielmehr das Schweigen durchbrechen und für das Missbrauchsthema in der Kirche überhaupt sensibilisieren zu wollen. Dokumentationen, die von ihr und von anderen zusammengetragen wurden, zeigen auf erschreckende Weise, dass sie bei weitem kein Einzelfall ist. Jeder normal empfindende Mensch, der mit solchen Fällen konfrontiert wird, ist entrüstet - und er ist zusätzlich darüber entrüstet, dass die Entrüstung bei jenen ausbleibt, die die Macht hätten einzuschreiten. Das scheint mir es zu sein, was Frau Reisinger antreibt, und ich verstehe es und fühle ebenso.

Wenn es um die Bekämpfung von Missbrauch geht, spielt es keine Rolle, ob er im konservativen, liberalen oder modernistischen Umfeld geschieht. Dass Progressisten aus dem Aufdecken von Missbrauchsfällen in konservativen Milieus Kapital schlagen, darf nichts an unserem Aufklärungswillen ändern. Missbrauch ist Missbrauch. Diesem muss unser Zorn gelten, nicht dem Überbringer der schlechten Botschaft, egal, ob er Doris Reisinger oder Carlo Maria Viganò heißt. Eine ehrliche Aufarbeitung und ideologiefreie Bekämpfung des Missbrauchs darf vor keiner kirchlichen Ebene halt machen: Das erwarte ich mir vom vatikanischen Gipfeltreffen zum Missbrauchsthema in den kommenden Tagen - wenn auch mit geringer Hoffnung.

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