Die mediale Kontroverse über die Aussage von Bischof Dr. Heiner Wilmer über die "DNA der Kirche" hält an. Jüngst äußerte sich der Theologe Sebastian Moll auf "Kath.net" zu den umstrittenen Aussagen zur Heiligkeit und Unheiligkeit in der Kirche von heute. Moll pflichtete dem theologisch begründeten, präzise formulierten und vollkommen berechtigten Widerspruch von Kardinal Woelki bei. Er selbst führte sodann den heiligen Augustinus als Gewährsmann gegen die Aussagen des Hildesheimer Bischofs über Heiligkeit und Unheiligkeit in der Kirche an.

Die mehr als unglückliche Metapher von der "DNA der Kirche" hat Bischof Dr. Wilmer wahrscheinlich bedenkenlos verwendet. Die ekklesiologisch sinnwidrige Redewendung machte er im Rahmen des Interviews vom 14. Dezember 2018 mit dem Kölner-Stadtanzeiger öffentlich. Die Metapher "DNA der Kirche" stammt jedoch ursprünglich nicht vom Hildesheimer Bischof. Am 23. August 2018 wählte nämlich die Erfurter Kirchenrechtlerin Myriam Wijlens, die sich mit der Thematik Missbrauch in der Kirche wissenschaftlich auseinandersetzt, im Zusammenhang mit den Missbrauchsaffären in US-amerikanischen Bistümern und anderswo die plastische, schwierige und berechtigterweise nun massiv angefochtene Metapher. Sie wählte diese Wendung sachlich graduell abweichend und nur beiläufig: "Ich glaube in der Tat, dass in der Kirche – weltweit betrachtet – der Mechanismus, den Schutz der Kinder an die erste Stelle zu setzen, noch in einer Entwicklungsphase ist. Das ist noch nicht in die DNA der Kirche übergegangen." Meines Wissens bildete also die Kirchenrechtlerin im vergangenen August diese Metapher. Aus dem Kontext wird die Bedeutung ersichtlich: Die katholische Kirche in ihrer weltlichen Gestalt hat, nach Auffassung von Frau Professorin Wijlens, die Bedeutung der absoluten Priorität des Opferschutzes noch immer nicht vollständig verstanden und umgesetzt.

Wahrscheinlich wäre die Redefigur auch vergessen worden, wenn Bischof Dr. Wilmer sie sich nicht angeeignet und dann offensiv kommuniziert hätte. Nachzulesen ist das Interview mit Myriam Wijlens im Internet beim "Domradio".

Die Kirchenrechtlerin kritisierte Vertuschungspraktiken und sah im August 2018 in erster Linie die "jüngeren Bischöfe" gefordert: "In Deutschland ist eine besondere Situation: In den vergangenen Jahren gab es in unglaublich vielen Bistümern neue Bischöfe. Da wird sich nun zeigen müssen, welche Mechanismen diese jüngeren Bischöfe entwickeln, um mit dem Problem Missbrauch umzugehen. Sie sind vermutlich unbefangener, die Vergangenheit aufzuarbeiten, weil sie ja nicht für diese Altfälle verantwortlich gemacht werden können." Die Vermutung, dass die jüngeren Bischöfe "vermutlich unbefangener" sein könnten, scheint aber problematisch zu sein. Ich bin und bleibe fest davon überzeugt, dass alle Bischöfe in Deutschland, wie lange sie auch amtieren mögen, ihren Dienst verantwortlich wahrgenommen haben und bis heute wahrnehmen – und das hat nichts mit dem Lebensalter oder der Dienstzeit zu tun. Wenn begründete Verdachtsfälle gegenüber Personen bestehen – ganz gleiches, welches Amt sie ausgeübt haben oder ausüben –, müssen die entsprechenden Vorwürfe geprüft und juristisch geklärt, nicht bloß kirchenrechtlich untersucht werden.

Bis Schuld aber nachgewiesen ist, gilt, meiner begrenzten Auffassung nach, für Lebende und Verstorbene gleichermaßen, rechtlich die Unschuldsvermutung.

Schuldig werden können nur Personen, nicht Institutionen. Ob bestehende "Strukturen der katholischen Kirche" den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen begünstigen, wurde Myriam Wijlens vor wenigen Monaten auch gefragt. Die Kirchenrechtlerin verneint das: "Das glaube ich nicht unbedingt. Man müsste erst einmal wissen, wie viele katholische und wie viele evangelische Christen es etwa in Chile gibt, um zu wissen, von welchem Proporz man spricht. In den USA gibt es durchaus Missbrauch durch protestantische Geistliche – aber durch die Zersplitterung der einzelnen evangelischen Kirchen wird das Phänomen nicht so geballt publik."

Über das bedrückende, schmerzhafte Thema Missbrauch werden wir weiterhin theologisch, juristisch, politisch und gesellschaftlich diskutieren müssen – am besten unter Verzicht auf problematische Wendungen wie "DNA der Kirche". Solche Metaphern sind einfach nur untauglich und nutzlos. Dies zeigt uns auch: Der theologische Sprachgebrauch von heute ist nicht nur gewöhnungs-, bisweilen auch korrekturbedürftig. Wer indessen ein kluges, unbestreitbar katholisches Wort zur "DNA des Christentums" vernehmen möchte, dem sei eine vorzügliche Weihnachtspredigt von Pater Engelbert Recktenwald empfohlen – hier veröffentlicht bei "Soundcloud" – unbedingt hörenswert, nicht nur zur Weihnachtszeit.

Was die Aufgabe des Bischofs betrifft, so sei an eine der letzten Predigten von Papst Benedikt XVI. erinnert. Er sagte am 6. Januar 2013 in der Homilie im Petersdom über den bischöflichen Dienst: "Die Demut des Glaubens, des Mitglaubens mit dem Glauben der Kirche aller Zeiten wird immer wieder in Konflikt geraten mit der herrschenden Klugheit derer, die sich ans scheinbar Sichere halten. Wer den Glauben der Kirche lebt und verkündet, steht in vielen Punkten quer zu den herrschenden Meinungen gerade auch in unserer Zeit. Der heute weithin bestimmende Agnostizismus hat seine Dogmen und ist höchst intolerant gegenüber all dem, was ihn und seine Maßstäbe in Frage stellt. Deshalb ist der Mut zum Widerspruch gegen die herrschenden Orientierungen für einen Bischof heute besonders vordringlich. Er muss tapfer sein. Und Tapferkeit besteht nicht im Dreinschlagen, in der Aggressivität, sondern im Sich-schlagen-Lassen und im Standhalten gegenüber den Maßstäben der herrschenden Meinungen. Der Mut des Stehenbleibens bei der Wahrheit ist unausweichlich von denen gefordert, die der Herr wie Schafe unter die Wölfe schickt. … Auch die Nachfolger der Apostel müssen damit rechnen, dass sie immer wieder auf moderne Weise verprügelt werden, wenn sie nicht aufhören, das Evangelium Jesu Christi hörbar und verständlich zu verkündigen. Und dann dürfen sie sich freuen, dass sie gewürdigt wurden, für ihn Schmach zu erleiden. Natürlich wollen wir wie die Apostel die Menschen überzeugen und in diesem Sinn Zustimmung gewinnen. Natürlich provozieren wir nicht, sondern ganz im Gegenteil laden wir alle ein in die Freude der Wahrheit, die den Weg zeigt. Aber die Zustimmung der herrschenden Meinungen ist nicht der Maßstab, dem wir uns unterwerfen. Der Maßstab ist ER selbst: der Herr. Wenn wir für ihn eintreten, werden wir gottlob immer wieder Menschen für den Weg des Evangeliums gewinnen. Aber unweigerlich werden wir auch von denen, die mit ihrem Leben dem Evangelium entgegenstehen, verprügelt, und dann dürfen wir dankbar sein, dass wir gewürdigt werden, am Leiden Christi teilzuhaben." Treffender, so scheint mir, lassen sich die Aufgaben des Bischofs im Leben der Kirche und der Welt von heute nicht beschreiben. Solche Bischöfe werden dringend gebraucht.

Dr. Thorsten Paprotny lehrte von 1998 bis 2010 am Philosophischen Seminar und von 2010 bis 2017 am Institut für Theologie und Religionswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover. Er publizierte zahlreiche Bücher im Verlag Herder. Gegenwärtig arbeitet er an einer Studie zum Verhältnis von Systematischer Theologie und Exegese im Werk von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. Er publiziert regelmäßig in den "Mitteilungen des Instituts Papst Benedikt XVI.".

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