Jede Religion gründet auf der Theologie und der Philosophie. Nur wenn dieses Fundament vorhanden ist, kann sich eine Unverwechselbarkeit herauskristallisieren – nur dann kann das Eigentliche erwachsen, das, was die Religion von anderen abgrenzt. Wird dieses Fundament aufgeweicht, wird es anderen Religionen angeglichen, ist dies der erste Schritt zur Aufgabe der Einzigartigkeit der Religion und damit zur schleichenden Auflösung. Wird in der von Jesus Christus selbst eingesetzten Römisch-Katholischen Kirche darüber nachgedacht, die von Gott aufgestellten Grundsätze, die als Sakramente bezeichnet werden, abzuändern, dann liegt eine Kirchenspaltung, ein Schisma, in der Luft. Aus diesem könnte eine vollkommen neue, eine andere Kirche hervorgehen – so wie es in der Reformation der Fall war. Die römische Kirche ist nicht nur eine, die von Menschen durch menschliche Gesetze ausgeformt worden ist, sie ist vielmehr eine, die, da Jesus Christus sie selbst eingesetzt hat, auf göttlichem Recht basiert – auf einem Recht, das dem menschlichen Vollzug entzogen ist. Das, was Jesus Christus selbst eingesetzt hat, darf nicht in Frage gestellt oder sogar aufgehoben werden. Die Gottesdienstordnung kann zwar geändert werden, wie es auch durch das Zweite Vatikanische Konzil erfolgt ist, doch das Sakrament, das der Gottesdienstordnung zu Grunde liegt, das Sakrament der Eucharistie, hingegen nicht. Durch die Hl. Schrift ist nicht der vollständige Ablauf der Hl. Messe überliefert worden, doch die Sakramente, die Jesus Christus selbst eingesetzt hat, sind dokumentiert worden. Das göttliche Moment scheint in ihnen auf und macht sie dadurch unangreifbar. Diese Sakramente bilden somit den Sinn und Zweck der römischen Religion ab – sie sind essentials, um es modern auszudrücken, Bausteine, die, wenn auch nur ein Stein entfernt würde, die Religion in sich zusammenfallen lassen würde.

Der ehemalige Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre und Professor an der Universität München, Gerhard Ludwig Kardinal Müller, hat sich diesen Bausteinen zugewandt und die Frage „Was ist katholisch?“ der Öffentlichkeit vorgelegt. In fünf Kapitel nähert er sich der Beantwortung der von ihm gestellten Frage. Wie in einem Glasperlenspiel umkreist er mit seinen Gedanken die Grundlagen der Römisch-Katholischen Kirche und weist damit auf das, was die Kirche Christi ausmacht. Schon im Motto, das dem Text vorangestellt ist, lässt er dem Leser wissen, wie er sich die Antworten vorstellt, indem er auf die Inschrift auf dem Grabstein in der Kirche S. Maria Trastevere für den 1579 verstorbenen Kardinal Stanislaus Hosius hinweist. Als Vermächtnis hat dieser Kardinal die vorweggenommene Antwort auf Müllers Frage gegeben: Katholisch kann nur derjenige sein, „wer mit der Glaubenslehre der Römischen Kirche übereinstimmt.“

An diese Feststellung hält sich der Autor. Immer wieder führt er den Leser mit verständlichen Worten in die Tiefen der katholischen Theologie und Philosophie, um ihm vor Augen zu führen, dass die Kirche auf Grundsätzen basiert, auf unabänderlichem göttlichem Recht. Dieses göttliche Recht ist die conditio sine qua non der Kirche, es ist die Grundlage, ohne die die römische Kirche nicht existieren würde. In diesem ständigen Rekurs auf die Prinzipien wendet sich der Autor inzidenter gegen die Beliebigkeit, gegen die Aufgabe von Glaubenswahrheiten, um die Kirche stromlinienförmig umzudeuten, damit sie dem genius temporis angepasst werden kann. Für ihn ist es ein Kampf für die Wahrheit, die Jesus Christus nicht nur selbst ist, sondern die er auch in die Welt getragen hat. Kardinal Müller steht gewissermaßen an der Seite Jesu Christi, um ihm nachzufolgen und um dessen Gedanken der Welt aufzuzeigen. Der Autor geht einer Sendung und einem Auftrag nach, die er vor Gott und vor der Geschichte zu verantworten hat. 

Dieser Auftrag findet seine Rechtfertigung freilich nicht in der Beliebigkeit, und diese mangelnde Fundierung wird ihm zum Vorwurf gemacht. Jede Seite des Buches widerspricht dem modernistischen mainstream, der alles als gleich bewertet, um eine una sancta ecclesia konstruieren zu können. Durch die Selbstverpflichtung auf die Wahrheit des Wortes Gottes und damit auf das Fundament der römischen Kirche eckt Müller mit den Vorstellungen modernistischer Theologen und Bischöfen an, ja, er hat sogar seine Funktion als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre verloren – übrigens vier, fünf Stunden vor Ablauf der Frist von fünf Jahren, für die jeder Präfekt bestellt und die regelmäßig bis zum 75. Lebensjahr verlängert wird. „Ab Mitternacht sind Sie nicht mehr mein Präfekt. Aber beten Sie für mich,“ gab ihm Papst Franziskus beim Abschied nach einer Sitzung mit, nachdem der Präfekt Kardinal Müller immer wieder gezwungen war, Äußerungen des Papstes, die mit der Lehre der Kirche nicht im Einklang standen, vor der Weltöffentlichkeit zu deuten und zurechtzurücken.

Auch wenn Kardinal Müller durch seine unbeirrbare Prinzipienfestigkeit als konservativ verurteilt wird, um ihn vor der Welt als Mann von gestern anklagen zu können, ist ihm die Reform der Kirche nicht fremd. Doch seine Reformvorstellungen zielen nicht auf die Überwindung göttlichen Rechtes und damit auf eine neue und andere Kirche, sie sind nicht in der „bequemen Anpassung an den Geist dieser Welt“ zu finden – er sieht die Erneuerung der Kirche ausschließlich in der Nachfolge des gekreuzigten und auferstandenen Christi. Nur die Wahrheit der Kirche führe für ihn zum Leben, wie er es ausgedrückt hat. In diesem Bewusstsein nimmt er die gegen ihn persönlich geführten Angriffe hin. Das Bewusstsein, in der Nachfolge Jesu Christi zu stehen und seine Wahrheit zu verkünden, immer wieder, auch gegen Widerstände, gibt ihm die Kraft, die ihm als Priester von Gott gestellte Aufgabe zu erfüllen.

Kardinal Müller wollte mit diesem Buch kein weiteres Lehrbuch der Dogmatik vorlegen, dieser Aufgabe ist er schon nachgekommen, und es liegt in 10. Auflage vor – er wollte vielmehr die Fundamente des Katholizismus in auch theologischen und philosophischen Laien verständlichen Worten vorlegen, um den Gegenentwurf zum „mainstream-Glauben“ der Welt aufzuzeigen. Katholizismus ist mehr als Beliebigkeit, mehr als das so modernistische anything goes. Katholizismus als eine zweitausend Jahre alte Religion kann nicht zu einer creatio ex nihilo reformiert werden, ohne in ein Schisma zu münden. Jeder Reformgedanke muss sich aus Gedanken herleiten, die schon Teil der Lehre sind. Jede Reform muss das Bestehende weiterentwickeln und dabei immer die von Jesus Christus aufgestellten Regeln beachten. Reform darf, damit es nicht in eine erneute Reformation mündet, keine Neuschöpfung verkörpern, sie muss das Bestehende fortführen und sie darf nie die Wahrheit missachten. Dieser Weg kann Zukunft für die Kirche eröffnen. Wenn der Leser diesen Weg mitgehen will, diesen Weg in der Nachfolge Jesu, sei ihm die Lektüre empfohlen. Er kann sich durch sie der eigenen Religiosität vergewissern und das verstehen, was den Katholizismus ausmacht. Das Buch ist aber auch den Gegnern von Kardinal Müller ans Herz zu legen, damit sie sich selbst von dem Theologen, Philosophen und vor allen Dingen Priester, von der Tiefe und Stringenz seines Denkens und von der Überzeugungskraft seiner Argumente ein Bild machen können – von seinen Gedanken, die in der veröffentlichten Anschauung oft entstellt und tendenziös dargestellt werden, um ihn und sein Werk zu desavouieren. Kardinal Müller hat der Welt etwas zu sagen. Es lohnt sich, seine Gedanken zu studieren, um auf diese Weise erkennen zu können, was jenseits der Beliebigkeit den Katholizismus ausmacht – was die Kirche Christi ist.

Kardinal Gerhard Ludwig Müller, "Was ist katholisch? Klärung und Wegweisung", ist bei Herder erschienen und hat 320 Seiten.

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