Bonn - Mittwoch, 15. November 2023, 8:00 Uhr.
Die Entfremdung vom christlichen Glauben und die Entkoppelung von der Kirchenmitgliedschaft erfolgt weit schneller als erwartet. Bereits im Jahr 2040 – und nicht erst, wie bisher vermutet, im Jahr 2060 – wird sich die Zahl der Mitglieder in der katholischen Kirche halbieren. Dies ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der christlichen Kirchen bzw. Gemeinschaften, die am Dienstag von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) vorgestellt wurde.
Nachdem die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) bereits seit 1972 regelmäßig Umfragen durchführt, beteiligte sich daran nun erstmals die DBK. Die Zahlen sind alarmierend, können aber leichter eingeordnet werden, wenn die religiöse „Großwetterlage“ in Deutschland betrachtet wird, die in den 160 gestellten Fragen der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) ebenfalls ausgeleuchtet wurde.
Die Mehrheit der Bevölkerung interessiert sich demnach überhaupt nicht mehr für einen Gottesglauben – insgesamt 56 Prozent. Unter den Säkularen gelten 36 Prozent als „geschlossen“ und somit überhaupt nicht zugänglich; weitere 14 Prozent sind teilnahmslos-gleichgültig, sechs Prozent der Säkularen werden immerhin als „offen“ eingestuft.
Ihnen stehen aber nur 13 Prozent kirchlich-religiöse Menschen in der Bevölkerung gegenüber. Weitere 25 Prozent zeigen einerseits ein wenig Kirchennähe, sind aber gleichzeitig distanziert. Weitere sechs Prozent sind alternativ gläubig.
Von den Katholiken besuchen insgesamt 42 Prozent häufiger als ein Mal jährlich einen Gottesdienst. Die Glaubenssubstanz ist gleichzeitig gering. Nur 19 Prozent der deutschen Bevölkerung glauben, „dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat“. Abstrakt von einem „höheren Wesen“ gehen weitere 29 Prozent aus. Wirklich ungläubig sind 33 Prozent, und unentschieden, was sie glauben sollen, immerhin 20 Prozent.
Auch bei katholischen Kirchenmitgliedern betrachten sich nur vier Prozent als gläubig und zugleich eng mit der Kirche verbunden. Bischof Peter Kohlgraf, der Vorsitzende der DBK-Pastoralkommission, zeigte sich bei der Vorstellung der Umfrage wenig überrascht. „Wir kennen den Rückgang der kirchlichen Bindung seit den 60er Jahren. Das ist nichts Neues“, sagte er zur Negativtendenz.
„Die Studie zeigt ein ungeschminktes und sehr facettenreiches Bild der aktuellen Lage von Religion und Kirche in Deutschland. Sie liefert uns die häufig beschworenen Zeichen der Zeit, die es im Lichte des Evangeliums zu deuten gilt,“ so der Mainzer Bischof.
Immerhin 43 Prozent der katholischen Kirchenmitglieder müssen derzeit als austrittsgeneigt angesehen werden. Als häufigster Grund werden Skandale, etwa in Sachen sexueller Missbrauch und seiner Vertuschung, genannt. Annähernd zwei Drittel der Katholiken geben an, früher stärker mit der Kirche verbunden gewesen zu sein. Bei den Protestanten ist es nur knapp ein Drittel.
Die Umfrage ermittelte: Vom Kirchenaustritt würden sich 82 Prozent der Katholiken und 70 Prozent der Protestanten abhalten lassen, wenn ihre Kirche bzw. Gemeinschaft deutlicher bekennen würde, wie viel Schuld sie auf sich geladen habe. Dabei blieb offen, wie sehr die Glaubwürdigkeit der Kirchen und Konfessionen eine Rolle spielt.
Die Reformerwartungen sind groß. 96 Prozent der Katholiken und 80 Prozent der Protestanten erwarten „grundlegende Veränderungen, wenn die Kirche eine Zukunft haben will“. Darin kommt möglicherweise der gesellschaftliche Konformitätsdruck zum Ausdruck. So besteht unter allen – Katholiken, Protestanten und Konfessionslosen – zu über 90 Prozent die Erwartung, dass die katholische Kirche die Heirat von Priestern erlauben soll. Die Segnung homosexueller Partnerschaften erwarten 86 Prozent aller Befragten. Mehr als 90 Prozent der befragten Katholiken erwarten die demokratische Wahl der Führungspersönlichkeiten.
Derweil hatten 60 Prozent der Katholiken und 34 Prozent der Konfessionslosen in den letzten zwölf Monaten Kontakt zu einer Person, die in der Kirche tätig ist, sowie 47 bzw. 21 Prozent zu einer kirchlichen Einrichtung.
Welche Schlussfolgerungen ziehen die Bischöfe aus den Umfrageergebnissen? „Es gibt eine Kernbotschaft, die wir nicht aufgeben“, sagte Kohlgraf bei der Vorstellung der Umfrage. „Wir werden weiter am Osterfest über die Auferstehung Jesu predigen und nicht über Parteipolitik.“
Er rechne nicht damit, dass sich der „Schub der Säkularisierung“ aufhalten lasse: „Die Kirche wird auch nicht gerettet, wenn der Zölibat aufgegeben wird.“ Wenn er sich als Bischof für Reformen einsetze, was er durchaus tue, dann nicht aufgrund des Drucks einer Statistik, „sondern weil ich der Überzeugung bin, dass diese aus der Herleitung meines Glaubens richtig sind“. Es komme nicht auf das Abfragen von Mehrheiten an, sondern auf die inhaltliche Motivation. Entscheidend sei, dass die Reformen dem Evangelium gemäß seien.
Tobias Kläden, Koordinator für die katholische Beteiligung an der Umfrage, betonte, dass es keine Wanderbewegungen gebe, keinen religiösen Markt, auf dem ein Konfessions- oder Religionswechsel aufgrund von individuellen Bedürfnissen stattfinde. Er hielt einen Zusammenhang der Rückgänge mit den ab 2010 bekannt gewordenen Missbrauchsfällen für wahrscheinlich: „Darin liegt aber nur ein Beschleuniger, nicht die eigentliche Ursache. Die Säkularisierung würde es auch ohne Missbrauch und Vertuschung geben.“
Kohlgraf wollte keine spontanen Schlussfolgerungen ziehen, denn die Ergebnisse sagten wenig über die Ursachen aus, betonte er. Dieser Nebensatz stand nicht in seinem Manuskript. Der Hinweis war ihm aber offenbar wichtig: „Die Umfrage zeigt nicht nur eine Krise der Institution. Auch die christliche Botschaft, das Evangelium, verliert für immer mehr Menschen an Lebensrelevanz.“ Er kündigte an, die Frühjahrs-Vollversammlung 2024 der Bischofskonferenz werde sich intensiv mit den Ergebnissen der KMU befassen.
Ein Ergebnis wollte der Mainzer Bischof aber dennoch vorweg nehmen: Wenn die Kirche kleiner werde, solle sie sich nicht schmollend zurückziehen und zu einer Sekte mit Schwarz-Weiß-Schema über Gut und Böse verkommen. Mehrfach thematisierte er in seiner Kommentierung die Frage, ob die Kirche stärker der Gesellschaft entsprechen oder mehr eigenes Profil zeigen solle. Zu einer eindeutigen Antwort kam er dabei nicht.