Sterbehilfe: Sozialwissenschaftler Spieker warnt vor tödlicher Falle der Selbstbestimmung

Manfred Spieker
Manfred Spieker
Martin Grünewald
Schwester Justina Metzdorf OSB
Schwester Justina Metzdorf OSB
Martin Grünewald
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Euthanasie (Sterbehilfe) und Suizidbeihilfe (Beihilfe zur Selbsttötung) können eine Gesellschaft tiefgreifend verändern. Darauf hat Manfred Spieker, Sozialwissenschaftler und emeritierter Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück, bei der Menschenwürde-Tagung der Kölner Hochschule für Katholische Theologie (KHKT) hingewiesen.

Mit insgesamt 18 Vorträgen und Diskussionen vertieften die KHKT und die Joseph-Höffner-Gesellschaft die vor einem Jahr veröffentliche Erklärung des Vatikans Dignitas infinita.

„Gegenüber einem suizidwilligen Menschen besteht solidarische Hilfe nicht darin, der Suizidabsicht mit einer tödlichen Tablette den Weg zu ebnen, sondern darin, ihm zu helfen, die Verzweiflung zu überwinden durch menschliche Nähe, kluge Hilfen und die Stärkung der eigenen Resilienz“, sagte Spieker. Eine Gesellschaft, die den Tod auf Rezept ermögliche, öffne dem sozialen Druck und der Entsolidarisierung die Tür.

„Wo das Weiterleben nur eine von zwei rechtmäßigen Möglichkeiten ist, wird jeder Schwerkranke rechenschaftspflichtig, der anderen die Last seines Weiterlebens aufbürdet“, so Spieker. Es entstehe ein psychischer Druck, den medizinischen, pflegerischen und finanziellen Aufwand zu vermeiden und sich dem Trend eines „sozial- oder generationenverträglichen Frühablebens“ anzuschließen.

Nicht der Patient dürfe dann das Mitleid der Gesellschaft erwarten, sondern die Gesellschaft erwarte umgekehrt das Mitleid des Patienten. Aus der Suizidbeihilfe werde eine Sterbehilfe auf Verlangen und aus der Sterbehilfe auf Verlangen eine Sterbehilfe ohne Verlangen.

Manfred Spieker sprach von einer tödlichen Falle der Selbstbestimmung, die in Selbstentsorgung münde. Das zeigten die Erfahrungen in allen Ländern, die die Suizidbeihilfe legalisiert haben. Dort sehe man deutliche Anstiege und Vervielfachungen der Fallzahlen.

Suizidversuche seien oft Hilfeschreie an die Personen, die dem Verzweifelten nahestehen. Zudem verursache jeder Suizid eine Verletzung der sozialen Beziehungen und erzeuge Leid bei Angehörigen, Bekannten und Freunden. Von jedem Suizid seien durchschnittlich 135 Personen betroffen, so das Ergebnis von US-Forschungen.

Dramatisch seien Euthanasiefälle, in denen ein dementer Patient zu verstehen gibt, dass er doch nicht getötet werden will, obwohl er es zuvor gewünscht oder verbindlich festgelegt hatte, in solchen Situationen euthanasiert zu werden.

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Worin besteht die Alternative? Zunächst empfahl Spieker, sich bewusst mit dem Sterben zu befassen: „Wer den eigenen Tod nicht verdrängt, sondern als Teil seines Lebens bejaht, lebt bewusster, gelassener und glücklicher.“ Außerdem hob er die Bedeutung von Palliativstationen, stationären Hospizen sowie ambulanten Hospizdiensten hervor. Hospize bezeichnete er als „Inseln der Humanität“.

Vertreter der Kirche hätten die Menschen in der Endphase des Lebens mit Empathie, Mitleid, Liebe und Trost zu begleiten. Die Priester hätten ihnen die Sakramente der Buße, der Krankensalbung und der Eucharistie anzubieten.

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„Der Mensch ist selbst im Leiden, so Dignitas infinita, Träger einer Würde, die immer geachtet werden muss, die nicht verloren gehen kann und deren Achtung bedingungslos bleibt“, so Manfred Spieker. „Im Sterben verwandelt sich die Selbstbestimmung des Menschen zur Selbsthingabe.“

Der sterbende Mensch wolle keine Tablette, um dann alleingelassen zu werden, sondern echte Hoffnung, menschliche Nähe und eine haltende Hand. „Wirksame Schmerzlinderung, vertraute Umgebung, pflegerische, ärztliche und seelsorgerliche Begleitung gehören ebenso zur Sterbebegleitung wie die Gewissheit, dass der Sterbeprozess nicht durch therapeutischen Übereifer gegen den Willen des Sterbenden hinausgezögert wird“, betonte Spieker.

Wie soll ein Pflegeheim reagieren, wenn sich ein Bewohner mit Hilfe eines Arztes oder eines Vereins zum Suizid entschlossen hat und Hilfe beansprucht? Im Schweizer Kanton Zürich habe der Kantonsrat Alten- und Pflegeheime gesetzlich verpflichtet, den Bewohnern Suizidbeihilfe zu ermöglichen und externen Organisationen Zutritt zu gewähren. „Belgien zwingt seit März 2020 alle Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, die Euthanasie zu akzeptieren“, berichtete er. Das Thema „Was heißt in Würde sterben?“ könne für diakonische Einrichtungen der Kirche herausfordernd sein. Aber: „In Deutschland wären solche Verpflichtungen verfassungswidrig. Sie würden gegen das Grundgesetz verstoßen.“

Schwester Justina Metzdorf OSB aus der Abtei Mariendonk am Niederrhein ist Dozentin für Neues Testament an der KHKT. Sie berichtete, dass die Erkenntnis der Würde des Menschen in der Bibel aufs Engste, ja untrennbar mit der Gotteserkenntnis zusammenhänge: „Da, wo Gott als Herr der Welt und Schöpfer des Menschen missachtet wird, werden auch die Menschen verachtet, misshandelt und ausgebeutet. Umgekehrt wird die Würde der Menschen da respektiert, wo Gott als Schöpfer und damit die eigene Geschöpflichkeit anerkannt wird.“

Nach Paulus könne der Mensch seine eigene Würde ohne den Bezug zu Gott und ohne Gotteserkenntnis nicht wahrnehmen und schon gar nicht realisieren. Bereits das Alte Testament berichte: Das gestörte Verhältnis zu Gott brachte ein gestörtes Verhältnis der Menschen untereinander mit sich. Das Blut Abels sei sozusagen der „rote Faden“, der sich durch die Menschheitsgeschichte ziehe.

Metzdorf sagte: „Die Bibel erzählt aber nicht nur die Geschichte des Verlusts der Würde des Menschen, sondern auch ihre Wiederherstellung. Dadurch, dass Gott selbst ein Mensch geworden ist, wurden Gottheit und Menschheit in einer Tiefe verbunden, die über das, was der Mensch bei seiner Erschaffung war, hinausgeht.“ Jesus Christus sei der „neue Mensch“.

Glaube bedeute für Paulus immer die existenzielle Verbundenheit mit Jesus Christus. Das drücke er mit seiner Lieblingsformel „in Christus sein“ aus. Die Gotteskindschaft bedeute eine Steigerung der menschlichen Würde. Damit habe der christliche Glaube eine radikale Veränderung in das antike Menschenbild gebracht. Nun seien „alle einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). „Bei Gott gibt es kein Ansehen der Person.“ Aus dem Sklaven werde der „geliebte Bruder“ durch das gemeinsame, und zwar gleiche Verhältnis zu Gott. Und: „Ihr seid zur Freiheit berufen.“

„Die Christen werden also zunächst nicht dazu aufgefordert, äußere Rahmenbedingungen zu verändern, sondern vielmehr dazu ermutigt, sich in ihrem Verhalten und in ihrer Haltung entschieden von dem abzugrenzen, was in ihrem gesellschaftlichen Umfeld das Übliche war“, betonte Metzdorf.

Der christliche Blick auf den Menschen und seine unverlierbare Würde, unabhängig von seinem Charakter und seinen Taten, werde auch deutlich an der Aufforderung Jesu: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“