13. April 2025
Der Titel des vorliegenden Buches, „Der Verrat der Seelenführer“, das im Jahr 2021 in Frankreich und 2023 in deutscher Sprache erschienen ist, klingt bedrückend. Der Inhalt lässt den Leser gelegentlich erstarren. Die Berichte von „Macht und Missbrauch in Neuen Geistlichen Gemeinschaften“ sind aufwühlend und erschütternd.
Die Autorin Céline Hoyeau, Journalistin der französischen katholischen Zeitung La Croix, schreibt über das schmerzhafte Thema des Missbrauchs von Spiritualität, Autorität, Macht, aber auch von sexuellem Missbrauch durch die Gründer von sogenannten „Neuen Geistlichen Gemeinschaften“, also jenen Gruppierungen, die überwiegend im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils entstanden sind.
Zwar konzentriert sich Hoyeau hauptsächlich auf französische Bewegungen wie – um nur einige zu nennen – die „Gemeinschaft vom heiligen Johannes“ (Communauté Saint-Jean), gegründet vom Dominikaner Marie-Dominique Philippe, „Die Arche“, die von seinem Bruder, dem Dominikaner Thomas Philippe, sowie von Jean Vanier gegründet wurde, dem „Foyer de Charité“ mit dem Priester Georges Finet oder die „Gemeinschaft der Seligpreisungen“ mit Bruder Ephraim an der Spitze. Sie alle galten als „heilige Erneuerer der Kirche“, doch wie sich herausstellte, begingen sie, in ihrer eigenen vermeintlichen Größe gefangen, ungestraft Missbrauch und stießen weder auf Gegenwehr noch auf wirksame kirchliche Kontrolle.
Allerdings betrifft dieses Phänomen nicht nur die Kirche in Frankreich. An ähnlichen Gründern und „geistlichen Vätern“ mangelt es auch in anderen Ländern der Welt nicht. Erwähnenswert sind hier der Mexikaner Marcial Maciel von den „Legionären Christi“, Enzo Bianchi mit seiner monastisch-ökumenischen Gemeinschaft von Bose in Norditalien und Josef Kentenich mit der „Schönstatt-Bewegung“.
Die Buchautorin führte, um die Ursachen dieses Phänomens verstehen zu können, zahlreiche Interviews sowohl mit Opfern (meist ehemaligen Mitgliedern dieser Gemeinschaften) als auch mit Experten verschiedenster Fachrichtungen: Historikern, Soziologen, Kirchenrechtlern, Psychiatern, Theologen und Bischöfen.
Hoyeau weist darauf hin, dass diese Gemeinschaften durch ihre Führer in einer Krisensituation der Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil entstanden seien und mit ihren enthusiastischen Gründern in den 1960er und 1970er Jahren, die bereits von der heute noch viel weiter um sich greifenden Säkularisierung und Entchristlichung geprägt waren, große Erfolge erzielten, wo doch gleichzeitig die Kirche an Autorität und Anziehungskraft verlor, während Pfarreien, Priesterseminare und Klöster sich leerten.
Die „Neuen Geistlichen Gemeinschaften“ wurden von den Bischöfen als vorbildlich für die Zukunft der Kirche angesehen. Ihre Gründer galten als „Männer der Vorsehung“, denn sie schienen offenbar in der Lage, das sinkende Schiff Kirche zu retten. Diese charismatischen Persönlichkeiten entsprachen, wie die Autorin schreibt, auch den Erwartungen des Kirchenvolkes, also jener Katholiken, die nach klaren Bezugspunkten in der Glaubenslehre, nach einem Sinn für das Heilige suchten und in einer schönen und feierlichen Liturgie nach einer persönlichen Beziehung zu Gott strebten. Weitere anziehende Aspekte für viele Katholiken waren ein starkes Ideal von Gemeinschaft und ein brüderliches Leben.
Die Genialität der Gründer dieser Gemeinschaften bestand in ihrem Talent und ihrem Wissen, wie sie diese Menschen erreichen und ihre spirituelle Suche befriedigen konnten. Offenbar waren sie in der Lage, zeitgemäße Formen der Glaubenserfahrung umzusetzen, die nicht nur verpflichten und gebieten, sondern auch Emotionen erzeugten. Sie gaben offensichtlich auch anderen Bedürfnissen der Menschen Raum, wie der Zärtlichkeit, dem Leiblichen, der Akzeptanz der eigenen Schwäche usw.
Diesen Gründern – den Seelenführern, die einen engen Bezug zu den Mitgliedern hatten – sei es nicht nur aufgrund ihrer manipulativen Persönlichkeit gelungen, sondern auch aufgrund der mangelnden Kontrolle innerhalb ihrer Gemeinschaft und von außerhalb, damit durchzukommen. Diesen Eindruck hat die Autorin, und sie ist sich sicher, dass die Bischöfe angesichts der galoppierenden Entchristlichung froh gewesen seien, diese Gemeinschaften in ihren Diözesen willkommen heißen zu können, denn sie schätzten deren karitatives und seelsorgerisches Engagement.
Leider fehlte den verantwortlichen Bischöfen ein ausreichendes Urteilsvermögen. Hoyeau ist überzeugt, dass die Gründer dieser Gemeinschaften die zuständigen Stellen der Diözesen häufig manipulierten. So wurden solche Diözesen für eine Niederlassung ausgewählt, deren Bischof ihnen wohlgesonnen war, oder es wurde gar die Diözese gewechselt, um neue Unterstützung zu finden.
Auch ist sich die Autorin sicher, dass die römische Kurie vom Erfolg dieser Gemeinschaften geblendet war. Der Vatikan sei fasziniert davon gewesen, wenn Hunderte junger Brüder der „Gemeinschaft vom heiligen Johannes“ Jahr für Jahr mit ihrem Gründer auf Pilgerfahrt zum Grab des Heiligen Petrus kamen. Ähnlich verhielt es sich mit dem überfüllten Seminar der Legionäre Christi in Rom. Dem Vatikan galten die Priester und Seminaristen als Herolde der Neuevangelisierung.
Die mangelnde Kontrolle seitens der Kirche erkläre sich auch daraus, so Hoyeau, dass diese Gemeinschaften einen eigenen Rahmen und neue Formen der Gestaltung des Gemeindelebens forderten, etwa wenn Männer und Frauen zusammen in einem Ordenshaus lebten. Auch wurden anderweitige Sicherheitsvorkehrungen nicht beachtet, die in der Kirche schon immer zum üblichen Weisheitsprinzip gehörten.
Offensichtlich waren die Gründer Persönlichkeiten, die suchende Menschen durch ihre Emotionalität fesseln konnten. Sie verfügten über große rednerische, ja manipulative Talente. Außerdem war ihnen laut Hoyeau gemeinsam, dass sie unter dem Deckmantel der Bescheidenheit eine Art Personenkult pflegten und sich beispielsweise eine bevorzugte Behandlung in der Gemeinschaft vorbehielten. Sie waren die einzigen Herren im Hause. Die meisten von ihnen seien von einem „starken narzisstischen Fehler“ geprägt gewesen. Manche hätten sich nicht immer unter Kontrolle gehabt, hätten leichte perverse Charakterzüge gezeigt und andere Personen für ihre eigenen Zwecke benutzt: intellektuell, spirituell, finanziell und sexuell.
Hoyeau schreibt im Bewusstsein, dass Kriminelle „angesichts der großen Mehrheit der Priester nur einen kleinen Prozentsatz ausmachen“: „Im Fall der Gründer neuer Gemeinschaften und spiritueller Figuren, die in den letzten 60 Jahren die Erneuerung der Kirche verkörpert haben, scheint das Verhältnis jedoch umgekehrt zu sein: Zwar gibt es in der Kirche viele hervorragende Figuren, aber nur wenige der bekanntesten Gründer scheinen dem Absturz zu entgehen, und man geht heute sogar so weit, jede etwas zu charismatische Persönlichkeit, jede kirchliche Erfolgsgeschichte zu verdächtigen.“
Das vorliegende Buch, zu dem die Theologin Hildegund Keul eine Einleitung und Johanna Beck als „Vertreterin des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz“ ein Nachwort beigesteuert haben, lässt den Leser trotz aller Enthüllungen von Missbrauch, die in der Kirche seit Jahrzehnten erfolgen, betroffen zurück. Immerhin: In vielen der betroffenen „Neuen Geistlichen Gemeinschaften“ wurde längst mit der Aufarbeitung begonnen. Allen Gemeinschaften ist dabei zu wünschen, dass eine wirkliche Reinigung erfolgt, andernfalls müssen sie verschwinden.
Angesichts dieser Problematik sei noch das Zitat eines Kurienkardinals erwähnt, welches die Autorin dem Buch „Verheissung und Verrat. Geistlicher Missbrauch in Orden und Gemeinschaften der katholischen Kirche“ des Ordensgenerals der Kartäuser, Dysmas de Lassus, entnommen hat: „Wenn man eine neue Gründung kommen sieht, sagt man sich schnell, wenn man es nicht besser weiß, dass der Gründer ein Perverser sein muss… Und man irrt sich selten.“
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Céline Hoyeau ihrerseits betont zurecht: „Ich liebe die Kirche und ich bin davon überzeugt, dass man ihr nicht ‚schadet‘, wenn man ihr dabei hilft, die Wahrheit über sich selbst herauszufinden.“
Céline Hoyeau: Der Verrat der Seelenführer. Macht und Missbrauch in Neuen Geistlichen Gemeinschaften; Verlag Herder; 296 Seiten; 30 Euro; ISBN 9783451394218
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