6. Oktober 2020
Jede Handlung hat einen Grund. Dieser Grund ist das Handlungsziel, also der Zweck, den ich durch meine Handlung erreichen will. Wir können uns nun die Frage stellen: Gibt es ein letztes Handlungsziel, das allen Handlungen zugrunde liegt und bei dem jede Warum-Frage - sofern sie sich auf Handlungen bezieht - zur Ruhe kommt? Wir können uns ja vorstellen, dass wir auf jede Antwort, die uns jemand auf die Frage nach dem Grund seines Handelns gibt, wiederum mit der Warum-Frage reagieren: “Warum steigst du ins Auto?” - “Weil ich in die Stadt fahren will.” - “Warum willst du in die Stadt fahren?” - “Weil ich einkaufen will.” - “Warum willst du einkaufen?” usw. Solch stetiges Weiterfragen kann zwar nerven, aber bis jetzt waren diese Fragen durchaus sinnvoll. Gibt es einen letzten Zweck, der jedes weitere Fragen nach dem Grund sinnlos macht?
Robert Spaemann erzählte gerne einen Witz, in dem dieser Punkt erreicht wird: Der Vater bringt Einwände gegen die Absicht seines Sohnes, Fräulein Katz zu heiraten, aber der Sohn antwortet, er könne nur mit ihr glücklich werden. Die Frage nun: “Und warum willst du glücklich werden?”, ist sinnlos. Glück ist ein Zustand, der den Grund seiner Wünschbarkeit in sich selber trägt. In der Formulierung, die Spaemann der Frage gibt, wird dies noch deutlicher. Hier fragt der Vater: “Glücklichsein, und was hast du schon davon?” Spaemann schreibt dazu: “Der Witz liegt darin, dass der Vater die Grammatik des Wortes Glück nicht verstanden hat. Man kann in bezug darauf diese Frage nämlich vernünftigerweise nicht stellen” (Spaemann, Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben, in: Günther Bien, Hg., Die Frage nach dem Glück, Stuttgart 1978, s. 1).
Glück ist der Inbegriff dessen, was wir letztlich wollen. Es ist das letzte Ziel unseres Handelns. Aber ist es auch das einzige Ziel dieser Art? Meine These lautet: Nein! Es ist das letzte Ziel vieler, aber nicht aller unserer Handlungen. Es gibt noch einen weiteren Handlungsgrund, bei dem jedes Fragen nach dem Warum zur Ruhe kommt.
Stellen wir uns vor, jemand springt ins Wasser, um ein ertrinkendes Kind zu retten, und jemand fragt ihn: “Warum tust du das? Was hast du schon davon?” Daraufhin könnte der Andere antworten: “Die Frage, was ich davon habe, ist hier völlig fehl am Platz. Es geht in dieser Situation nicht um meinen Nutzen, meinen Vorteil, mein Glück, sondern allein darum, diesem Kind zu helfen.” Auf die Frage: “Und warum willst du diesem Kind helfen?”, könnte er antworten: “Weil ich es soll.” Dieses Sollen als Ausdruck eines moralischen Imperativs bringt ebenfalls jede Fragenreihe nach den Handlungsgründen zum Abschluss. Natürlich sind auch viele andere Formulierungen denkbar, die auf irgendeine Weise den moralischen Imperativ, dessen Selbstverständlichkeit und selbstgenügsame motivationale Kraft zum Ausdruck bringen, z.B. “Weil es gut ist, so zu handeln”, “Weil es sich so gehört”, “Weil sich das von selbst versteht”, “Weil es meine Pflicht ist”, “Weil es mir um das Kind geht, “Weil das Kind mir leid tut”, “Weil ich es liebe”, “Weil menschliches Leben wertvoll ist.” Und natürlich eröffnet sich durch die Bandbreite dieser verschiedenen Antwortmöglichkeiten ein breites Diskussionsfeld über ihr gegenseitiges Verhältnis.
Ist die Hilfe moralisch gut, weil sie gesollt ist, oder ist sie gesollt, weil sie gut ist? Mit anderen Worten: Begründet die moralische Norm den moralischen Wert, oder der Wert die Norm? Ersterer Meinung ist Immanuel Kant, letzterer viele Wertethiker. Aber diese Diskussionen tun an dieser Stelle nichts zur Sache. Wichtig ist im Moment nur die Erkenntnis, dass die moralische Antwort einen sinnvollen Abschluss jedes Fragens nach dem letzten Grund meines Handelns darstellt, und dass bei dieser Antwort die Frage nach dem eigenen Glück keine Rolle spielt.
Derjenige Helfer, der zunächst überlegen würde, ob seine Rettungstat irgendwie zu seinem eigenen Glück beiträgt, und der davon seine Entscheidung abhängig machen wollte, hätte gerade damit gezeigt, dass er sich dem moralischen Anspruch als solchem verschließt. Wer sich ihm öffnet, findet in ihm einen ausreichenden Grund für sein Handeln. Moralität besteht nicht zuletzt in der Fähigkeit, beim Handeln vom Gesichtspunkt des eigenen Interesses abzusehen und einen überparteiischen Gesichtspunkt einzunehmen. Sie besteht in der Fähigkeit, von der Glückstauglichkeit des geforderten Handelns zu abstrahieren und sich in der Motivation von ihr zu emanzipieren.
Es gibt somit grundsätzlich zwei mögliche Antworten, die so etwas wie eine Letztmotivation menschlichen Handelns darstellen: das Glück und die Moral.
Ich möchte diese Konzeption den Motivations- oder Zieldualismus nennen. Er ist in der Philosophie heftig umstritten und sieht sich mächtigen Strömungen eines Zielmonismus gegenüber. Zu ihnen gehört der Eudämonismus aristotelisch-thomistischer Tradition. Auf ihn wollen wir das nächste Mal eingehen.
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