Melbourne - Dienstag, 7. Januar 2020, 13:14 Uhr.
Simon Overland ist für seine robust-australische Ausdrucksweise bekannt. Als der ehemalige "Top Cop" im Kampf der Polizei gegen einen blutigen Bandenkrieg vor wenigen Tagen jedoch zugab, dass seine Beamten "wahrscheinlich" Rechtsbeugung begangen und auf jeden Fall "f***ing unethical" gehandelt haben, um eine als Polizeispitzel agierende Mafia-Anwältin zu schützen, platzte eine Bombe, die auch die dicken Gefängnismauern erschüttern könnte, hinter denen Kardinal George Pell weiter in Einzelhaft sitzt.
Overlands Kraftausdruck war begleitet von der Enthüllung, dass sich führende Beamte der Polizei von Victoria darüber ausgetauscht haben, wie Ermittlungen gegen Kardinal George Pell von einem eigenen Skandal historischen Ausmaßes ablenken konnten, der nun als "Lawyer X"-Affäre die Öffentlichkeit und Justiz erschüttert.
Sollte Pell von Polizei-Skandal ablenken?
E-mails aus dem Jahr 2014 belegen, dass sich Victorias damaliger stellvertretender Polizeichef Graham Ashton und sein Pressesprecher Charlie Morton darüber austauschten, wie die Presse sich auf den Kardinal stürzen würde – statt auf einen Skandal aus den eigenen Reihen der Polizei. In einer auf den 1. April 2014 datierten E-mail empfiehlt Morton dem damaligen Deputy Commissioner Ashton ausdrücklich, zum Fall "Lawyer X" nicht vor die Presse zu treten, da bevorstehende Ankündigungen über Kardinal Pell die Aufmerksamkeit der Medien und Öffentlichkeit auf sich ziehen werden.
"Morgen kommt das Pell-Zeugs. Das fegt (das Thema ,Lawyer X‘) von allen Titelseiten", schreibt Morton im gleichen Zeitraum an Ashton: Wenn die Medien erst einmal mit dem katholischen Kirchenmann beschäftigt sind, so der Pressesprecher des stellvertretenden Polizeichefs, muss schon ein prominenter, verurteilter Verbrecher eine Aussage machen, um überhaupt noch Aufmerksamkeit zu erregen.
Wie ein schier unglaublicher Krimi
An die Öffentlichkeit gelangt ist diese Email jetzt dank Aussagen der Verantwortlichen vor einer Royal Commission, einer eigens eingesetzten Untersuchungskommission mit richterlichen Befugnissen zum Fall "Lawyer X". Als "Kommission Ihrer Majestät" genießt diese Royal Commission weitreichende juristische Vollmachten – auch der Oberste Polizeichef eines Bundesstaates, zu dem mittlerweile Gavin Ashton befördert worden ist, muss sich deren Fragen stellen.
Die Einzelheiten werden erst nach und nach bekannt, doch "Lawyer X" liest sich jetzt schon wie ein schier unglaublicher Krimi, der vor der blutigen Kulisse der "Melbourne Ganglands Killings" spielt, die selbst bereits verfilmt worden sind.
Im Kern geht es dabei um die Juristin Nicola Gobbo, die als Rechtsanwältin führende Mafia-Bosse vor Gericht vertrat – und gleichzeitig jahrelang offenbar gegen Millionen Dollar der Polizei Victorias als Informantin und "Top-Spitzel" diente, im Kampf gegen zwei Gruppen der Ndrangheta und andere Banden organisierter Kriminalität.
Nach eigenen Angaben hat Nicola Gobbo von 1995 bis 2009 als Spitzel der Polizei geholfen, in 386 Strafverfahren Verurteilungen vor Gericht zu erzielen – Urteile, von denen nun einige erneut vor Gericht kommen könnten, denn Gobbo brach offenbar wiederholt das Anwaltsgeheimnis und weitere Pflichten und Vorschriften.
Kalabrische Mafia seit 100 Jahren in Australien aktiv
Gleichzeitig war Gobbo vor allem Anwältin von Mitgliedern der einflussreichen Ndrangheta: Die kalabrische Mafia ist seit über 100 Jahren in Australien aktiv, nach wie vor in enger Verbindung zum "Mutterland", und Berichten zufolge in Drogenkriminalität, Geldwäsche, Erpressung sowie Bestechungsfälle verwickelt.
Die E-mail-Korrespondenz über "Lawyer X" und Kardinal Pell zwischen den Polizeibeamten Morton und Ashton im Jahr 2014 hatten einen konkreten Anlass: Ein Radio-Sender in Melbourne war kurz davor, Nicola Gobbo öffentlich und namentlich zu identifizieren. Angekündigt war die Enthüllung eines der "größten Skandale überhaupt in der Geschichte Victorias", der dazu führen könnte, "dass Killer wieder auf freien Fuß kommen". Die Identifizierung wurde in letzter Minute verhindert. Eine Verfügung des Obersten Gerichtshofes verbot die Veröffentlichung: Auftakt jahrelanger juristischer Anstrengungen der Polizei, den Fall nicht öffentlich werden zu lassen. Insgesamt soll die Polizei rund 4,5 Millionen australische Dollar an Kosten dafür aufgebracht haben – das sind rund drei Millionen Euro.
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Was genau die "Ankündigungen" über Pell sein sollten, ist aus den E-mails der beiden ranghohen Polizisten nicht klar ersichtlich. Zu diesem Zeitpunkt hatte Pell lediglich als Zeuge vor der damaligen Royal Commission über Missbrauch ausgesagt. Fest steht auch, dass Pell im April 2014 erst seit einigen Wochen im Vatikan als Präfekt des Wirtschaftssekretariats diente. In diese Rolle hatte ihn Papst Franziskus berufen, um im Vatikan finanzielle Korruption und Misswirtschaft zu bekämpfen sowie Transparenz und Rechenschaft einzuführen.
Ohne konkreten Tatverdacht gegen Pell ermittelt
Fest steht inzwischen auch, dass im Jahr 2013 die Polizei von Victoria die "Operation Tethering" startete: Beamte begannen, offenbar ohne konkreten Tatverdacht, gegen Kardinal Pell zu ermitteln – zumindest war weder Anzeige gegen Pell erstattet worden, noch gab es etwa Vorwürfe mutmaßlicher Opfer. Mehr noch: Nachdem die Ermittlungen zwei Jahre lang nichts ergaben, wurde "Operation Tethering" im Jahr 2015 nach Recherchen der "Catholic News Agency" (CNA) formal bestätigt und ausgeweitet. Weitere zwei Jahre später dann wurde gegen Pell Anklage erhoben wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauchs zweier Minderjähriger. Im Jahr 2018 wurde der Kardinal verurteilt – auf Grundlage der Aussage eines einzelnen Zeugen, ohne weitere Indizien und trotz gegenteiliger Aussagen mehrerer Augenzeugen. Das andere mutmaßliche Opfer, inzwischen verstorben, hat den Tatvorwurf vor seinem Tod ebenfalls mehrfach deutlich bestritten.
Für die meisten Medien ist George Pell der "ranghöchste katholische Geistliche, der bisher wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt wurde". Kritische Beobachter – etwa George Weigel – ziehen einen Vergleich mit der Dreyfus-Affäre: Der berühmte Justizirrtum um den jüdischen Artillerie-Offizier erregte damals weltweit Aufsehen und verhandelte brennende gesellschaftliche Themen.
Vergleich mit der Dreyfus-Affäre
Wie es nun in der Affäre für die eigentliche Person Pell weitergeht, ist unklar: Nachdem das Berufungsgericht in Melbourne mit einer Zweidrittelmehrheit den Schuldspruch bestätigt hat, soll das Verfahren nun im Jahr 2020 mit Blick auf ein Berufungsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof in Canberra gehört werden. Bis dahin sitzt der 78-Jährige weiterhin hinter Gittern – Berichten zufolge in Einzelhaft. Die Behörden erlauben ihm auch nicht, die heilige Messe zu feiern.
An Heiligabend sang eine Gruppe australischer Katholiken vor dem Gefängnis Weihnachtslieder für den ehemaligen Erzbischof von Melbourne und Sydney. "Wir wollen dem Kardinal so mitteilen, dass er geliebt und an Weihnachten nicht vergessen wird", so einer der Sänger gegenüber CNA am 24. Dezember 2019. Das "Konzert" sei spontan zustande gekommen, nachdem eine Person mit dem Pseudonym "Albert Dreyfus" dies in den sozialen Netzwerken vorgeschlagen hatte.
Zuerst veröffentlicht in der Wochenzeitung "Die Tagespost".
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