Charkiw - Donnerstag, 17. März 2022, 8:41 Uhr.
Charkiw gehört zu den ukrainischen Städten, die besonders unter Beschuss stehen. Viele Gebäude und Wohnhäuser wurden dabei beschädigt oder sogar zerstört. Auch das Bischofshaus der römisch-katholischen Diözese von Charkiw-Saporischschja war vor einer Woche von einem Bombenprojektil getroffen worden.
Trotz der gefährlichen Lage bleibt Bischof Pavlo Honcharuk bei den Menschen. Das Hilfswerk „Kirche in Not“ (ACN) hat einen Notzuschuss für die Diözese geschickt, damit sie ihren täglichen Bedarf – Gas, Licht, Wasser, Brennstoff und Lebensmittel – decken und anderen Menschen helfen kann. In einem Telefonat sprach Magda Kaczmarek, Ukraine-Referentin des Hilfswerkes, mit Bischof Pavlo Honcharuk über die Lage in der Stadt und den Einsatz der Kirche in dieser dramatischen Situation.
Magda Kaczmarek: Sie sind in Charkiw, einer Stadt, die durch das Leiden der Menschen weltweit bekannt und jeden Tag in den Medien ist. Wie geht es Ihnen?
Bischof Pavlo Honcharuk: Wir haben die nächste Nacht überlebt, wir leben und sind gesund. Jeden Tag kommen Flüchtlinge, die eine Möglichkeit zur Evakuierung aus der Stadt suchen. Wir helfen dabei. Ja, es wird dauernd geschossen, das ist jetzt normal. Alles bebt, und es ist sehr laut. Die Fenster klirren, als würden die Scheiben gleich herausfallen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass es laut ist. Es ist sogar verdächtig, wenn es ruhig ist. Dann wissen wir nicht, was kommt. Es ist so, als würden die Eltern im Wohnzimmer plötzlich ihre Kinder aus dem Kinderzimmer nicht mehr hören; dann macht man sich Sorgen. Wir leben jetzt in einer ganz anderen traurigen Realität.
Wie geht es den Menschen in Charkiw?
Sie sitzen in Bunkern und Schutzkellern. Es ist sehr gefährlich. Wir besuchen die Menschen regelmäßig in der U-Bahn-Station, wo sie auf den Bahnsteigen und in den Waggons Schutz suchen und schlafen. Wir beten dort zusammen: Katholiken und Orthodoxe gemeinsam. Wir bekommen humanitäre Hilfe – Medikamente, Essen, Windeln usw. –, die uns aus der Westukraine erreicht. Alles kommt in kleinen Bussen oder Autos, die es besser schaffen durchzukommen. Große Lkws könnten die Straßen nicht passieren; und die Lkw-Fahrer haben Angst, in die Ostukraine zu fahren.
Sind die Krankhäuser offen?
Die Krankenhäuser arbeiten. Wir besuchen die Kranken regelmäßig. Wir konnten auch Windeln an das psychiatrische Krankenhaus liefern, wo Menschen mehrere Tage ohne Hygieneartikel auskommen mussten. Der Direktor hat uns mit Tränen in den Augen gedankt. Das ist jetzt unsere Mission. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Wir organisieren Hilfe, wie wir können. Aus der Westukraine treffen viele Hilfsgüter ein, die aus ganz Europa über die polnische Grenze kommen. Das ist ein schönes Zeichen der Solidarität.
Es gibt einen großen Exodus. Wir haben Bilder von großen Menschenmengen vor Augen, die die Stadt verlassen …
Ich habe den Bahnhof besucht. Dort spielten sich sehr ergreifende Szenen ab, die mich zutiefst bewegt haben. Da kein Mann zwischen 18 und 60 Jahren das Land verlassen darf, verabschieden sich die Väter von ihren Frauen und Kindern, nicht wissend, wann und ob sie sich überhaupt jemals wiedersehen werden.
Vor dem Krieg war es so, dass viele Eltern im Westen gearbeitet haben, ihre Kinder sind bei den Großeltern hiergeblieben. Gestern kam wieder eine Mutter aus Polen, und sie hat ihre beiden Kinder abgeholt. Sie kam mit einem Bus voller Hilfsgüter. Die Großeltern wollten nicht mitkommen. Der Abschied war schwer.
Ich sehe sehr viel Traumatisierung in den Menschen, in ihren Augen, ihren Gesichtern. Ganz besonders die Kinder werden später an den Folgen leiden. Die psychischen Krankheiten kommen bestimmt nach dem Krieg. Wir werden unsere Arbeit leisten müssen.
Wie sieht in der akuten schwierigen Lage die pastorale Seelsorge aus? Kann man überhaupt von Seelsorge sprechen?
Natürlich nicht in der Art, wie wir sie sonst kennen. Aber die Menschen wollen beichten; entweder kommen sie hierher, oder man trifft sich irgendwo zwischen den Häusern auf halbem Weg, denn wir leben in permanenter Gefahr.
Zurzeit ist es wichtig zu beten und zu überleben, beides, um den Menschen zu helfen, die auf sich allein angewiesen sind, die keine Hilfe bekommen. Es gibt so viel Bedarf nicht nur an materiellen Dingen, sondern auch an Güte und an Herzenswärme. Ein gutes Wort, eine Umarmung, ein Telefonat ... Wir bezeugen somit die Anwesenheit Gottes, Gott ist unter uns. Das ist eine Art, das Evangelium weiterzugeben. Das ist unsere Seelsorge heute. Es sind so viele Zeugnisse der Liebe. Hier passiert wirklich auch viel Schönes.
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