Prophetische Haltung statt zurückgedrehte Uhren: Stephan Kampowski über die Familiensynode

CNA-Interview über einen neuen Ansatz zu Familie, Ehe, Sexualität – und den menschlichen Körper aus christlicher Sicht

"Die Familie ist die Urzelle des gesellschaftlichen Lebens. Sie ist die natürliche Gemeinschaft, in der Mann und Frau zur Hingabe der Liebe und zur Weitergabe des Lebens berufen sind. Die Autorität, die Beständigkeit und das Gemeinschaftsleben innerhalb der Familie bilden die Grundlage von Freiheit, Sicherheit und Brüderlichkeit innerhalb der Gesellschaft". (Katechismus der Katholischen Kirche, 2207)
"Die Familie ist die Urzelle des gesellschaftlichen Lebens. Sie ist die natürliche Gemeinschaft, in der Mann und Frau zur Hingabe der Liebe und zur Weitergabe des Lebens berufen sind. Die Autorität, die Beständigkeit und das Gemeinschaftsleben innerhalb der Familie bilden die Grundlage von Freiheit, Sicherheit und Brüderlichkeit innerhalb der Gesellschaft". (Katechismus der Katholischen Kirche, 2207)
Pixabay/Public Domain
Dr. Stephan Kampowski ist ordentlicher Professor für philosophische Anthropologie am Päpstlichen Institut "Johannes Paul II." für Studien über Ehe und Familie in Rom.
Dr. Stephan Kampowski ist ordentlicher Professor für philosophische Anthropologie am Päpstlichen Institut "Johannes Paul II." für Studien über Ehe und Familie in Rom.
privat

"Man hat die Uhr gut 40 Jahre zurückgedreht": So das scharfe Urteil über den Abschlussbericht der Familiensynode von Stephan Kampwoski. Der Theologe und Autor ist Professor für philosophische Anthropologie am Päpstlichen Institut "Johannes Paul II." für Studien über Ehe und Familie in Rom. Bereits vor der Synode hat er Aufsehen erregt mit seinem Buch "Das wahre Evangelium der Familie: Die Unauflöslichkeit der Ehe: Gerechtigkeit und Barmherzigkeit", das er mit Professor Juan Perez-Soba schrieb.

Mit seinem neuen Buch "Familienmodelle in der Diskussion: Unvollkommene Ausdrücke desselben Ideals?" plädiert er für einen "prophetischen" Ansatz. Im CNA-Interview antwortet er auf Kritiker und plädiert für eine fortschrittliche Haltung im Sinne Jesu Christi.

CNA: Herr Professor Kampowski, nach dem Abschlussbericht der Familiensynode gehen nicht nur die Interpretationen weit auseinander; auch das Ringen um die Deutungshoheit ist in vollem Schwunge. Wie beobachten Sie die Debatten?

KAMPOWSKI: Man hat den Eindruck, dass sich die der Veröffentlichung folgende Debatte hauptsächlich auf das bezieht, was das Abschlussdokument nicht sagt, auf das, was es nicht ausdrücklich erlaubt, aber auch nicht ausdrücklich verbietet. Und in der Tat muss man feststellen, dass der Bericht wenig Neues sagt. Es ist am Ende ein Kompromissdokument, aus dem die brisantesten Themen entfernt worden sind.

CNA: Wie soll man es dann interpretieren können?

KAMPOWSKI: Zur Interpretation mag es helfen, auch auf die Dynamik zu schauen. Wo das ursprüngliche Arbeitspapier über Gemeinplätze hinausging, war dies manchmal in Spannung oder im Gegensatz zur kirchlichen Überlieferung. Es gab sogar eine Stelle – Paragraph 137 –, die nahelegte, eine moralische Norm könne im Gegensatz zum Willen Gottes für mein Leben stehen, so als ob Gott von mir wollen könnte, dass ich das Sittengesetz übertrete. Dies wurde zum Glück korrigiert. Die grundsätzliche Bewegung vom Arbeitspapier zum Abschlussbericht ist eine Bewegung in Richtung Kontinuität mit der kirchlichen Überlieferung, so dass es im endgültigen Dokument keine Stelle gibt, die einen Bruch mit der gegebenen kirchlichen Lehre und Praxis darstellt. Außerdem ist natürlich immer zu bedenken, dass hier von einem Synodendokument und nicht von einem Konzilstext die Rede ist. Im Gegensatz zu einem Konzil hat eine Synode allein beratende Funktion. Sie berät den Papst in seiner Entscheidungssuche. Ihr Abschlussbericht hat keinerlei lehramtliche Autorität – er bindet weder den Papst noch die Gläubigen. Er ist einfach eine Art Brief der Bischöfe und Kardinäle an den Papst.

CNA: Ein Hauptthema war, ist und bleibt die Frage, ob zivil geschiedene Wiederverheiratete zur Kommunion zugelassen werden sollen. Der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff hat zum Umgang gesagt, "das, was sich bisher vielerorts als bewährte Praxis gezeigt hat, kann gestärkt weitergehen. (...) Und zwar mit gutem Gewissen und voller Überzeugung." Stimmen Sie zu?

KAMPOWSKI: Die in Deutschland angeblich „bewährte“ Praxis ist doch, dass zivilrechtlich wiederverheiratete Geschiedene in Deutschland vielerorts eingeladen werden, zur Kommunion zu kommen. Angesichts des zum Teil dramatischen Schwunds an Glaubenssubstanz in vielen deutschen Bistümern und Gemeinden hätte man sich doch vielleicht eher eine Neuerung wünschen sollen, etwas Anderes, das man noch nicht ausprobiert hat.

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CNA: Es geht eben um die Frage, ob und wie und was sich ändert.

KAMPOWSKI: Natürlich. Wissen Sie, es ist schon ironisch. Auf der einen Seiten drängen die Repräsentanten der deutschen Bischofskonferenz bei der Synode darauf, dass es angesichts der dramatischen Situation in den deutschen Ortsgemeinden an der Zeit für etwas Neues sei, dass die Universalkirche etwas an ihrer Praxis ändere. Auf der anderen Seite freut sich ein der Bischofskonferenz nahestehender Theologe darüber, dass nach seiner, zumindest zweifelhaften Lesart, nun alles beim Alten bleibe. Dabei meine ich, dass die deutschen Bischöfe schon Recht haben, wenn sie auf Veränderung in der Familienpastoral drängen. Die Frage ist nur eben wo: in den Ländern, wo es noch gläubige, junge und kinderreiche Familien gibt oder in Ländern wie Deutschland, wo diese Familien doch immer mehr wegbrechen.

CNA: Kritiker sagten schon vor der Synode: In Deutschland scheinen nicht nur die Bischöfe, sondern vor allem auch die Medien sich auf ein absolutes Rand-Thema eingeschossen zu haben, dass Schätzungen zufolge nicht einmal 1 Prozent der Katholiken überhaupt betrifft. 

KAMPOWSKI: Von der Familienpastoral her gesehen, ist die Frage nach der Kommunion für zivilrechtlich wiederverheiratete Geschiedene durchaus ein Randthema: es betrifft nur Wenige. Gleichzeitig geht es bei dem Thema um ganz viel, nämlich um nichts weniger als die sakramentale Struktur der Kirche selbst, die besonders in der Eucharistiefeier zum Ausdruck kommt. In der Eucharistie gibt sich Christus leibhaftig seiner Kirche hin. Ja, die Grundwahrheit des christlichen Glaubens ist doch: das Wort ist Fleisch geworden. Wenn das wirklich stimmt, dann ist auch das, was wir im Leib tun, wirklich bedeutsam. Dann ist es bedeutsam, wenn Menschen gewohnheitsmäßig geschlechtlich miteinander verkehren – sich einander leiblich hingeben –, obwohl sie mit jemand anderem verheiratet sind. Dann ist dies ein objektiver Stand, über den die Kirche richten kann, unabhängig von jeder Beurteilung des Gewissens des Einzelnen und der Frage, wie dieser nun wirklich vor Gott steht. Die Kirche kann dann sagen, dass dies ein Stand ist, der objektiv dem widerspricht, was in der Eucharistie gefeiert wird: die immerwährende Treue und leibliche Hingabe Jesu an seine Braut, die Kirche. Es ist eben nicht nur wichtig, was jemand sozusagen desinkarniert meint, „aus Liebe“ zu tun. Die Wahrheit der Liebe misst sich auch an dem, was er im Leibe tut, weil das Wort eben Fleisch geworden ist. Es geht bei der Frage der Zulassung der zivilrechtlich wiederverheirateten Geschiedenen also durchaus um sehr viel: um das Eheverständnis, das Sakramentenverständnis, das Kirchenverständnis.

CNA: In Ihrem Buch "Familienmodelle in der Diskussion: Unvollkommene Ausdrücke desselben Ideals?" plädieren Sie für einen "prophetischen Ansatz", statt eines pragmatischen, wie ihn mehrere deutsche Bischöfe und prominente Theologen wie Eberhard Schockenhoff etwa fordern nach dem Motto: "Das kirchliche Ideal von Ehe und Familie ist lebensfern, wir müssen an die Menschen in ihrer 'wirklichen' Situation herankommen". Was meinen Sie mit "prophetisch"?

KAMPOWSKI: Ein Kommentar, den ich zu meinem Text gelesen hatte, drückte ein gewisses Unverständnis dafür aus, dass ich angeblich unbedingt die Zukunft vorhersagen wolle. Mit „prophetisch“ meine ich nichts dergleichen. Es geht nicht um eine Vorhersage des Kommenden, sondern um eine mutige Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Natürlich hatten die alttestamentlichen Propheten Träume und Visionen über die Zukunft. Aber diese hatten fast immer ganz konkreten Bezug auf die gegenwärtige Situation. Die Hauptaufgabe des Propheten bestand darin, die Menschen mit der Wahrheit zu konfrontieren, ob sie es wollten oder nicht. Der Prophet ist ein Diener der göttlichen Barmherzigkeit. Er übt sich in den geistlichen Werken der Barmherzigkeit, indem er die Unwissenden lehrt und die Sünder zur Umkehr ruft. Das größte Problem der Menschen ist weder die Wirtschaft noch das Klima. Es ist die Sünde. Am Ende wissen wir das auch alle im Tiefsten unseres Herzens.

CNA: Wir wissen es, aber handeln nicht danach?

KAMPOWSKI: Wir wissen nicht, wie wir damit umgehen sollen. Wir fühlen uns oft machtlos und neigen daher dazu zu sagen: so bin ich eben, da kann ich nichts machen, ich muss mich so annehmen. Aber so wollen wir doch gar nicht sein. Wenn nun jemand kommt, dessen Name Jesus ist, das heißt ja „bei Gott ist Rettung“, und sagt: „Das Reich Gottes ist nahe, kehrt um und glaubt an das Evangelium“ [Mk 1, 15], dann ist das eine gute Nachricht. Er sagt: „Du kannst anders sein! Du braucht dich nicht mit deiner Sünde zu arrangieren.“

CNA: Wir sind alle dazu persönlich berufen, Heilige zu werden.

KAMPOWSKI: Genau. Mit Gottes Gnade ist es möglich, sich zu bekehren und gottgefällig zu leben, ja, die Heiligkeit ist eine wahre Möglichkeit für den Gläubigen geworden. Jesus, der neue Moses, gibt nicht nur ein neues Gesetz, das noch mehr fordert als das des Mose, sondern er gibt auch ein neues Herz, das es seinen Jüngern – allen Christgläubigen – ermöglicht, danach zu leben und somit frei zu sein, nämlich das zu tun, was sie wirklich wollen: in Wahrheit zu lieben. Eine solche Verkündigung nenne ich prophetisch. Sie ignoriert die gesellschaftlichen Umstände nicht, nimmt ihre Maßstäbe aber nicht diesen, sondern misst sie am Maßstab Jesu. Sie appelliert an etwas, von dem sie glaubt, dass es sich im Herzen eines jeden Menschen wiederfindet: ein Sehnen nach Gemeinschaft mit Gott und mit anderen Menschen, ein Wunsch nach Versöhnung, eine Hoffnung, dass sich die Liebe noch offenbart. Eine solche Verkündigung, die die Aufgabe der Kirche ist, hat etwas für die Menschen sehr Anziehendes. Dies gilt auch für den Bereich von Ehe und Familie, wo sich ja das konkrete Leben der Menschen auch heute noch größtenteils abspielt.

CNA: Dann gehen Sie aber offensichtlich davon aus, dass das "traditionelle" christliche Bild von Ehe und Familie alternativlos ist? 

KAMPOWSKI: Vieles, für das die traditionelle oder bürgerliche Familie kritisiert wird, ist ja wirklich kritikwürdig: von ungesunden Machtstrukturen über Besitzstreben bis hin zum Familienegoismus. Unsere postmoderne Gesellschaft schlägt als Lösung vor, den Begriff der Familie unter Beibehaltung des Namens einfach aufzulösen. Man fängt an, jede auch nur denkbare Lebenskonstellation mit dem Namen „Familie“ zu bezeichnen. Somit verliert der Name jeglichen Inhalt. Was ich in meinem Buch als alternativlos darstelle ist die christliche Familie, die durchaus revolutionär war und ist.

CNA: Wie meinen Sie das?

KAMPOWSKI: Die Ehefrau ist gehalten, ihren Ehemann zu achten, der Mann soll sogar bereit sein, für seine Frau zu sterben. Beide sind berufen, in der Welt die Liebe darzustellen, mit der Christus seine Kirche geliebt hat. Sie nehmen freudig die Kinder an, die Gott ihnen schenken mag, erziehen diese aber nicht in erster Linie für sich selbst – als Altersversicherung oder Betriebsnachfolger – sondern für das Reich Gottes, als Bürger der Kirche. Sie praktizieren Gastfreundschaft. Der Mann verlässt seine Frau nicht, wenn sie ein paar Falten hat; die Frau verlässt ihren Mann nicht, wenn sie sich nicht ganz von ihm verstanden fühlt. Sie gehen durch dick und dünn und sind einander treu, bis dass der Tod sie scheidet. Nun wird gesagt, dies sei ein unerreichbares Ideal. Aber jeder Kritiker muss zumindest zugeben, dass dieses Bild sogar als Ideal ganz neu ist und im Widerspruch steht sowohl zum antiken als auch zum modernen, postmodernen oder bürgerlichen Familienverständnis. Es handelt sich um eine Revolution, etwas ganz Neues  und etwas, das wir im Herzen wirklich wollen. Die gute Nachricht ist, das dies in Wirklichkeit mehr ist als nur ein Ideal: es ist eine reale Möglichkeit, und zwar weil Gott seine Gnade verheißen hat und sie auch wirklich gibt wenn wir uns danach ausstrecken.

CNA: Wie wichtig ist die Theologie des Leibes des heiligen Papstes Johannes Paul II. hierbei?

KAMPOWSKI: Die Theologie des Leibes des heiligen Johannes Pauls II. ist ein großer Reichtum für die christlichen Familien und die ganze Kirche. Sie hilft uns, die personalistische Bedeutung unserer Leiblichkeit wiederzuentdecken. Dies ist gerade in einer Zeit sehr wichtig, in der der Leib oftmals einfach wie ein unbeseelter Körper unter anderen angesehen wird. Für Johannes Paul II. ist die Bedeutung des Leibes das Geschenk. Der Leib „spricht“ zu uns davon, dass wir unsere Existenz empfangen haben und  dass wir berufen sind, uns selbst in der ehelichen Liebe zum Geschenk zu machen und gemeinsam im Leben fruchtbar zu sein. Der heilige Papst ist sich dabei durchaus der durch den Sündenfall entstandenen Schwierigkeiten bewusst. Die Begehrlichkeit, Konsequenz der Ursünde, kann unsere Liebe verzerren und verwunden. Zugleich gibt es wirksame, uns durch die Gnade zur Verfügung gestellte Mittel, durch die wir schon heute in Christus leben können, ganz konkret in unserem Leib.  

CNA: Wir warten alle auf den Abschlusstext von Papst Franziskus. Was erwarten Sie sich davon, und was würden Sie sich wünschen, auch persönlich als katholischer Laie?

KAMPOWSKI: Die göttliche Vorsehung hat der Kirche gerade durch das Pontifikat von Johannes Paul II. einen unglaublichen Schatz anvertraut. Der „Papst der Familie“, wie Papst Franziskus ihn nennt, hat die kirchliche Reflexion über Ehe und Familie auf immense Weise vertieft. Die katholischen Laien haben ihn dafür geliebt – ganz besonders die jüngeren, wie man am Zuspruch, den er bei den Weltjugendtagen erfahren hat, sehen kann. Da war es für mich traurig zu verfolgen, wie sich fast die gesamte synodale Diskussion in Begriffen und Problemstellungen abspielte, die aus dem Anfang der 1970iger Jahre stammten, fast so, als ob es das Pontifikat von Johannes Paul II. nie gegeben hätte. Es hieß einmal während der Synode, man wolle nicht einfach nur das wiederholen, was Familiaris Consortio gesagt habe. Mit anderen Worten, man wolle nach vorne schauen und nicht zurück. Das war die Absicht.

CNA: Ist man das denn nicht?

KAMPOWSKI: In Wirklichkeit ist man noch viel weiter zurückgegangen, zurück in die Zeit der Diskussionen nach Humanae vitae und vor Johannes Paul II. Man hat die Uhr gut 40 Jahre zurückgedreht. Das ist kein Fortschritt. Meine Hoffnung ist, dass Papst Franziskus die Uhr wieder nach vorne stellt, zurück in eine Zeit, in der Johannes Paul II. grundlegende und tiefgreifende Beiträge zum christlichen Verständnis von Ehe und Familie gegeben hat, über die die Kirche noch über Jahrzehnte mit größtem Gewinn reflektieren kann.

 

Das Buch "Familienmodelle in der Diskussion: Unvollkommene Ausdrücke desselben Ideals?" ist kürzlich erschienen im Grignion Verlag und hat 110 Seiten Umfang. "Das wahre Evangelium der Familie: Die Unauflöslichkeit der Ehe: Gerechtigkeit und Barmherzigkeit" ist 2014 im Media Maria Verlag erschienen und widmet diesem Thema 240 Seiten.