01 September, 2020 / 7:30 AM
Im universalen Entspannungsmodus der spätliberalen Gesellschaft von heute darf auch in philosophischen und theologischen Debatten ein verständiges, fast reflexartiges Kopfnicken erwartet werden, wenn jemand freimütig bekennt: Man dürfe dieses oder jenes heute nicht mehr so dogmatisch sehen, sondern müsse eher pastoral und lebensweltlich orientiert denken.
Die verbindlich geforderte Unverbindlichkeit basiert auf einem anscheinend kollektiv vorherrschenden Wohlfühlkonsens. Wenn etwa die Gottesmutter Maria nicht länger als "Jungfrau", sondern als "junge Frau" verstanden wird, beruht der Glaube an die "Jungfrauengeburt" auf einem Übersetzungsfehler? Gottes "schöpferische Macht", so schreibt Joseph Ratzinger - Benedikt XVI. in "Jesus von Nazareth - Prolog: Die Kindheitsgeschichten", umfange das "ganze Sein". Die "Jungfrauengeburt" sei ein "Prüfstein des Glaubens": "Wenn Gott nicht auch Macht über die Materie hat, dann ist er eben nicht Gott. Aber er hat diese Macht, und er hat mit Empfängnis und Auferstehung Jesu Christi eine neue Schöpfung eröffnet. So ist er als Schöpfer auch unser Erlöser. Deswegen ist die Empfängnis und Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria ein grundlegendes Element unseres Glaubens und ein Leuchtzeichen der Hoffnung."
Im Übrigen: Keine Sorge, der zugehörige griechische Begriff lautet "Παρθένος / Parthénos" und heißt: "Jungfrau". Der Begriff "Dogma" scheint dennoch beiseite geräumt, die "dogmatische" Denkweise überhaupt nicht mehr als ein Relikt einer traditionalistischen, erneuerungsbedürftigen Theologie zu sein. Dürfen wir heute, theologisch wie philosophisch, noch den Begriff "Dogma" verwenden? Darf Theologie dogmatisch sein? Oder darf jeder Einzelne ungeniert und frei entscheiden, was er gläubig annehmen kann und was nicht?
Die Abweisung dogmatischen Denkens und mit diesem einhergehender absoluter Geltungsansprüche erfolgte im 20. Jahrhundert systematisch und rigoros. In der analytischen Philosophie wurde der Begriff Dogma gleichgesetzt mit Absolutheitsansprüchen jeglicher Art. Zu einflussreichen Denkern, die sich hierzu äußerten, gehörten Friedrich August von Hayek, der in "Die Anmaßung von Wissen" den absoluten Anspruch kritisierte.
In gleicher Weise artikulierte sich der kritische Rationalist Karl R. Popper, der in Opposition zu den atheistischen Ideologien und Weltanschauungen die Systeme, die einen solchen Anspruch erhoben, also ein dezidiert totalitäres Denken beinhalteten, polemisch und energisch kritisierte. Negativ konnotiert, über diese sehr berechtigten Formen der Kritik hinausgehend, ist der Begriff "dogmatisch" im philosophischen Diskurs bis heute.
Auch in theologischen Disputen fällt mitunter eine zuweilen ironisch imprägnierte Wendung wie: "Sie argumentieren ja sehr dogmatisch!" Wie die Stigmatisierung eines anscheinend unbelehrbaren Zeitgenossen, der sich denkend ungeschmeidig, gestrig oder autoritätsgläubig zu verhalten scheint, mutet dies an. Wer etwa mit den Worten der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" des Zweiten Vatikanischen Konzils darauf verweist, dass es gelte, die "Zeichen der Zeit" im "Lichte des Evangeliums" zu deuten – und nicht umgekehrt das Evangelium und die Lehre der Kirche im Lichte der kontingenten Zeitsignaturen zu verstehen, wird paradoxerweise oft mit dem theologischen Kampfbegriff "vorkonziliar" bedacht. Vielleicht mit der ergänzenden Bemerkung: Man dürfe das heute doch alles nicht mehr so "dogmatisch" sehen. Schließlich solle man nicht dem Wortlaut der Konstitutionen, sondern vielmehr dem "Geist des Konzils" folgen und auch seine eigene, freie Meinung in der Kirche äußern (wer sich hierüber verlässlich informieren möchte, findet hier weitere Informationen).
Ja, die Meinungsfreiheit ist ein hohes, schützenswertes Gut. Doch wer eine Meinung kundtut, verfügt weder über einen Anspruch auf Zustimmung noch auf Zuhörer. Aus der Meinung erwächst auch kein Geltungsanspruch. So vermag auch ein sich zur römisch-katholischen Kirche bekennender Christ über ein Dogma eine dezidiert persönliche Meinung zu besitzen. Er kann die Ansicht vertreten und erklären, dieses oder jenes nicht so "dogmatisch", sondern modern, postmodern oder säkular-vernünftig zu beurteilen, beispielsweise die Enzyklika "Humanae vitae". Er hätte indes den Anspruch darauf, von den Lehrern des Glaubens in der Kirche – also von den Bischöfen –, aber auch von einfach gläubigen Christen, korrigiert und nicht auch noch darin bestätigt zu werden.
Andere, dazu gehörte etwa der jüngst verstorbene Philosoph Robert Spaemann, vertraten philosophisch begründet das Naturrecht und stimmten der von vielen Theologen angefochtenen Enzyklika ausdrücklich zu. Müsste aber heute das kirchliche Lehramt sich heute nicht neu erfinden und weniger oder anders dogmatisch sein? Sollte die Dogmatik nicht überarbeitet oder revidiert, vielleicht auch abgeschafft werden? Kann ein Dogma, kann eine Wahrheit des Glaubens nicht gestern als gültig angesehen, heute differenziert beurteilt werden und morgen ganz anders formuliert sein – vielleicht verbindlicher, zugänglicher, sympathischer und geschmeidiger?
Der Münsteraner Theologe Michael Seewald lädt in seinem 2018 erschienenen Buch "Dogma im Wandel" zum Nachdenken darüber ein, ob der in den Dogmen der Kirche formulierte "Wahrheitsanspruch des Christentums" berechtigt sei und ob das "Dogma das Evangelium adäquat zum Ausdruck" bringe. Seewald schreibt, allgemein formuliert, über den, ebenso also allgemein gedacht, aufgeklärten Menschen in der Welt von heute: "Der Mensch reagiert auf Autorität, die sich nicht durch Argumente ausweist, heute nicht mit Glauben, wie es sich diese Autorität durch den Einsatz ihrer selbst verspricht, sondern mit Skepsis. Er wendet sich einer Kirche, in der die Autorität das Argument zu ersetzen droht, nicht gläubig zu, sondern sich verstört von ihr ab. Das aber sollte die Kirche nicht kalt lassen."
Der kritisch reflektierende Leser fragt sich: Bin ich, ein römisch-katholischer Katholik, dieser "Mensch", von dem hier die Rede wird? Wer ist "die Kirche", die hier wie ein fremdes Gegenüber oder sogar eine Art Widerpart erscheint – und der ich mich doch durch die Taufe als Glied von innen her zugehörig weiß? Die Kirche, deren Nähe ich suche? Seewald spricht von "der Kirche", von der sich Einzelne "verstört" abwenden, weil eine Kluft zwischen "Argument" und "Autorität" zu bestehen scheint. Fühlt sich ein mündiger Mensch heute in seinem aufgeklärten, möglicherweise grundsätzlich undogmatischen Denken von "der Kirche" und den Dogmen empfindlich gestört? Vermögen Menschen, Sie und ich, nicht mehr die Glaubenswahrheiten nachzuvollziehen und anzunehmen? Möchten heute gläubige Katholiken etwa gegen die Autorität des kirchlichen Lehramtes opponieren, also fundamental meinungsfreudig protestieren, gemäß der alten Parole: "Jesus ja, Dogmen nein"? Unterliegen Dogmen einem notwendigen Transformationsprozess, damit die Kirche fortbestehen kann? Seewald fragt: "Bringt Wandel also der Kirche den Tod und sind dogmatische Entwicklungstheorien, die sich mit diesem Wandel beschäftigen, das Sterbeglöcklein dieser heiligen Institution?" Michael Seewald stellt wichtige Fragen, die über akademische Diskurse der Fakultäten hinausreichen. Seine Fragen sollten unbedingt diskutiert werden.
Bedenken wir zugleich: Noch immer begegnen uns gläubige Katholiken – auch Suchende, Zaghafte, Fragende und Unsichere –, sonntags und werktags in der heiligen Messe oder beim Rosenkranzgebet. Manche sitzen schweigend in der letzten Bank, einige beten mit. Andere lassen sich vom Gebet der Kirche tragen – und nicht wenige mögen still hadern mit Gott und Seiner Kirche. Aber nehmen sie Anstoß an den Dogmen? Scheuen sie die Begegnung mit einer Autorität? Mit einem "Episcopus", einem Bischof also, der "Aufseher" und wirklich Lehrer des Glaubens in seiner Diözese ist?
Ja, Seewald hat Recht in Bezug auf "Autorität" und "Argumente": Von einem säkular auftretenden Menschen, ob Professor oder Politiker, ob Nachbar, ob Vorgesetzter oder Mitarbeiter, ob Bischof oder Bettler, möchten wir nicht zurechtgewiesen, anmaßend und autoritär belehrt werden. Aber nach der glaubwürdigen Autorität der Kirche verlangen wir schon. Manchmal vermissen wir sogar ein klärendes, unterscheidendes Wort. Die Dogmen bieten Orientierung. Sie sind eine Hilfe auf dem Weg des Glaubens, mitnichten ein Hindernis. Die Dogmen sind vielmehr ein Kompass. Man mag sich dies auch am Beispiel kirchengeschichtlicher Geschehnisse vergegenwärtigen: Erschüttert waren viele treue Katholiken in der Nachkonzilszeit. Mir steht mein Großvater vor Augen. Er hat nicht verstanden, warum eine Liturgiereform stattfinden musste und warum auf einmal zuweilen der zelebrierende Priester im Mittelpunkt des Gottesdienstes stehen sollte. Er hat nicht verstanden, warum eine von kirchlichen Behörden gebilligte und geforderte Zerstörung der Hochaltäre einsetzen musste, eine Verwüstung an heiliger Stätte.
So viele Katholiken reagierten mit Unverständnis, Ratlosigkeit und Entsetzen – und trotzdem blieben sie der römisch-katholischen Kirche, der Kirche des Herrn, unverbrüchlich treu. Die Dogmen blieben unwandelbar gültig. Die Erschütterung wäre unvorstellbar, wenn heute gesagt würde, dass der Glaube an >et incarnatus est de Spiritu Sancto ex Maria Virgine< eine bloße Ermessenssache sei. Darf ein Katholik unserer Zeit heute noch erwarten, als Glied der Kirche ihr angehörend, durch Lehrer des Glaubens belehrt zu werden, wenn er Irrtümer äußert? Darf ein Christ darauf hoffen, korrigiert zu werden? Wir sind der Kirche treu, weil sie auf Christus erbaut, weil sie eine "göttliche Stiftung" (Michael Seewald) ist, und uns zur Wahrheit zu führen vermag – zu der Wahrheit, die dogmatisch gefestigt, objektiv und damit verbindlich ist. Wenn Christus nicht von der Jungfrau Maria geboren worden, nicht am Kreuz gestorben und nicht von den Toten auferstanden wäre: Dann wären unser Glaube und mit diesem alle Dogmen ausgedacht und darum wertlos, unser Leben sinnlos.
Doch die Kirche ist eine Gemeinschaft, die auf Wahrheit gegründet ist, der Wahrheit, der ich sakramental teilhaftig werden darf und die eschatologisch auf mich zukommt. Ich kann, als Bettler vor Gott, diese Wahrheit lieben, also Christus und mit Ihm Seine Kirche, in der Er lebt und wirkt. Ich darf gläubig darauf hoffen, dass das letzte Amen am Ende meines Lebens und – nichts hoffe ich mehr – nicht ich selbst sprechen werde. Ich darf vielmehr darauf vertrauen, dass der Herr selbst dieses Amen mir zuspricht, um mich ganz zu sich zu ziehen und für immer nach Hause zu führen.
Als Glied der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche sehe ich mich begabt und berufen, meine Schwestern und Brüder im Glauben immer mehr in Christus zu lieben, dieses stets neu zu versuchen, als Glied des Volkes, der Familie Gottes, und mich dankbar zu freuen, Teil des mystischen Leibes Christi zu sein. Davon erzählen die Dogmen, und sie geben uns Halt und Orientierung, weil sie aus der Wahrheit des Evangeliums geschöpft sind. Der Glaube an die Dogmen der Kirche trägt uns, im Leben und im Sterben.
Joseph Ratzinger schildert in seinen Erinnerungen – "Aus meinem Leben", erschienen im Jahr 1997 –lebhafte theologische Debatten über die bevorstehende Dogmatisierung der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel. Theologieprofessoren artikulierten deutliche Einsprüche. Ratzinger schreibt rückblickend: "Wenn man Überlieferung aber als den lebendigen Prozess begreift, in dem der Heilige Geist uns einführt in die ganze Wahrheit und uns verstehen lehrt, was wir vorher noch nicht zu fassen vermochten (vgl. Joh 16,12 f.), dann kann das spätere »Erinnern« (vgl. z. B. Joh 16,4) erkennen, was vorher nicht ansichtig geworden und doch schon im ursprünglichen Wort übergeben war."
(Die Geschichte geht unten weiter)
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Die theologische Einsicht, eingebettet in den Glauben der Kirche aller Zeiten und Orte, wächst und reift, entfaltet sich, aber sie fügt nichts Neues zu dem hinzu, was im Evangelium offenbar geworden ist.
Theologie kann sich nicht neu erfinden, und auch der Papst, der Stellvertreter Christi, verfügt nicht über die Autorität, nach eigenem Ermessen die Lehre zu verändern. Ratzingers Lehrer Gottlieb Söhngen protestierte 1949 leidenschaftlich gegen die Möglichkeit des Dogmas. Sein evangelischer Kollege Edmund Schlink fragte ihn: "Was werden Sie aber tun, wenn das Dogma doch kommt? Müssen Sie dann nicht der Kirche den Rücken kehren?" Söhngen antwortete: "Wenn das Dogma kommt, dann werde ich mich daran erinnern, dass die Kirche weiser ist als ich, und ihr mehr vertrauen als meiner eigenen Gelehrtheit."
Der römisch-katholische Christ ordnet sich nicht einer beliebigen säkularen Autorität oder einer herrschenden Meinung unter. Er steht demütig im "Wir", in der Pilgergemeinschaft des Glaubens, die gewiss auch Meinungsverschiedenheiten untereinander austragen kann und muss – und auf ein verbindliches Wort der Klärung hoffen darf. Die bleibend gültigen, unwandelbaren Dogmen der Kirche aber festigen uns im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe. Michael Seewald schreibt am Ende seines Buches: "Ein gesunder Konservativismus erlaubt es der Kirche, auch durch die Jahrtausende hindurch sie selbst zu bleiben. Ein gesunder Evolutionismus erlaubt es ihr, stets jung zu bleiben." Die Kirche taugt indessen weder zu einem Museum noch zu einer Stätte für "heilige" Experimente.
Ihre sichtbare Jugendfrische verdankt sie dem Glauben der Pilger des Herrn an die Wahrheit, die in den Dogmen ausgesagt ist, die in der Wahrheit des Evangelium wurzeln, somit in Christus, der Seine Kirche durch Seine sakramentale Gegenwart jung erhält. Wünschenswert wäre, dass die theologische Erkenntnis und Einsicht wachsen möge, auch heute. Wünschenswert wäre, dass eine große Gestalt wie Gottlieb Söhngen, in dessen Denken sich Vernunft und Glaube, Theologie und Philosophie verbinden, ein Vorbild sein könnte. Er wusste von innen her, wie sehr wir alle als sündige Menschen, als Bettler vor Gott, die Sicherheit und Verlässlichkeit der Dogmen brauchen, die uns Schutz gewähren und ein Obdach schenken in den Stürmen der Zeit.
Am 18. April 2005 sagte Kardinaldekan Joseph Ratzinger in der Homilie vor dem Beginn des Konklaves: "Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in diesen letzten Jahrzehnten kennengelernt, wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen… Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden … Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich »vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-lassen«, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt."
Erklärungsbedürftig sind die Dogmen nicht, aber sie helfen zu klären. Jeder Einzelne vermag die Dogmen zu deuten – richtig oder falsch. Die Dogmen der Kirche bewahren uns vor säkularen Konfusionen. Darauf dürfen wir gläubig vertrauen, dem Beispiel von Philosophen wie Robert Spaemann und Theologen wie Gottlieb Söhngen folgend. Glaubenszeugnisse dieser Art, in der Treue zu Christus und Seiner Kirche, sind eine vortreffliche Katechese für uns und unsere Zeit.
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Hinweis: Meinungsbeiträge spiegeln die Ansichten der Autoren wider, nicht unbedingt die der Redaktion von CNA Deutsch. Erstveröffentlichung 7. Januar 2018.
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