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Warum ich kein Traditionalist bin

Friedrich Nietzsche, portraitiert von Edvard Munch (1906)
Begegnung im Jahr 2004: Jürgen Habermas (links) und der damalige Kurienkardinal Joseph Ratzinger.
Max Horkheimer (links) im Gespräch mit Theodor Adorno, rechts im Bild Jürgen Habermas: Begegnungen beim Max Weber-Soziologentag 1964.
Die Verkündigung in einer Darstellung von Henry Ossawa Tanner aus dem Jahr 1898.

Sorgfältige, geduldige Lektüre ist lohnend. Wer etwa die reichhaltigen Werke des emeritierten Papstes Benedikt XVI. studiert, erkennt ein profundes, ebenso weit- wie weltläufiges Wissen – etwa über Literatur und Philosophie. Staunend hat manch ein Leser entdeckt, dass Professor Ratzinger, aber auch der spätere Kardinalpräfekt und Papst ohne Scheu Friedrich Nietzsche zitiert oder Denker der "Kritischen Theorie" berücksichtigt. Aufsehen erregte sein philosophisch-theologisches Gespräch mit Jürgen Habermas. Philosophen und Theologen – sogar Päpste – werden gern etikettiert: als konservativ, als traditionalistisch oder als "vorkonziliar". Besonders der letzte Begriff könnte für Schmunzeln sorgen: Vielleicht sind wir alle "vorkonziliar", denn wer von uns weiß, ob eines Tages – ob zu unseren Lebzeiten oder später – nicht doch ein "Drittes Vatikanisches Konzil" einberufen wird? Darüber wollen wir nicht spekulieren.

Viele Katholiken freuen sich am Brauchtum. Es hebt die gläubigen Herzen, wird gehegt und gepflegt. Wer ein leuchtendes Beispiel sich anschauen möchte, der mache sich virtuell mit den "Jahreskrippen" vertraut – im Bistum Regensburg. Mit Krippen als Wegbegleitern durch das Kirchenjahr und das Neue Testament wird ein geistliches Erbe sichtbar, zu dem – wie wahrscheinlich die meisten von uns wissen – persönliche Beziehungen verbunden sind. Die Weihnachtskrippe aus dem Elternhaus gehört dazu, das Kreuz auf dem Schreibtisch, der Rosenkranz, der uns als Kind in die Hand gelegt und damit anvertraut wurde – oder sind alles nur Devotionalien? Gehört das einem bloß traditionalistischen Katholizismus zu, der den Bezug zur Gegenwart verloren hat? Ein christlicher Glaube also, der gar nicht mehr danach sucht, neue Wege der Verkündigung zu suchen? Wer etwa Krippen wertschätzt, achtet die lebendige Tradition, die auf Christus verweist, der die Mitte des Glaubens und das Herz der Kirche ist. Die Pflege des Brauchtums ist ein Akt der Fürsorge, um diesen Schatz zu bewahren, der in der Geschichte präsent ist und in die Gegenwart hineinspricht. Traditionen zu pflegen bedeutet aber nicht: Traditionalist zu sein. 

Zurück zur Moderne und ihrem Schubladendenken. Meine größte Sorge ist, dass viele Bestrebungen, die sich mit dem "Synodalen Weg" verbinden, nicht zu einer Stärkung der Einheit in der Kirche und einer elanvollen und positiven, wahrhaft vom Geist des Herrn bewegten Evangelisierung führen, sondern bestehende Spaltungen in der Kirche vertiefen und neue Entzweiungen mit sich bringen. Die Kirche ist doch eine Hoffnungsbewegung, zukunftsorientiert und zuversichtlich, weil die Gläubigen darauf vertrauen, dass der Herr der Kirche treu ist. Seine Zusage gilt. Ein Katholik, so glaube ich, der traditionalistisch gesinnt ist, hat Angst vor der Welt, vor der Moderne und vor der Postmoderne. Auch unter den Modernisten und Progressisten gibt es Traditionalisten. Ich finde es zumindest bemerkenswert, dass eine historische Reformagenda aus der Nachkonzilszeit immer wieder als neueste Neuheit vorgestellt wird. Mir scheint das eher traditionalistisch zu sein, aber ich mag mich irren. Konservativ wie progressiv gesinnte Christenmenschen könnten von Benedikt XVI. lernen – und vielleicht einmal Max Horkheimer lesen, von dem auch ich sehr viel lernen durfte. Er legt 1952 in "Zum Begriff der Vernunft" (Gesammelte Schriften Bd. 7, Frankfurt/Main 1985, 31) dar, dass es problematisch sei, "Zuflucht bei der Tradition" zu nehmen – und hat er nicht vollkommen recht? Wenn ich die Identität des Katholischen als traditionalistisch bestimme, dann ist die Kirche nicht mehr als ein Museum für abendländische Kulturgeschichte oder ein Fall für das UNESCO-Weltkulturerbe. Wenn ich die Zukunft des Katholischen in einer Apologie vergangener Epochen sehe – ganz gleich, ob ich die Ideen aus den 1970er-Jahren als heutig anpreise oder die sogenannte "Vorkonzilszeit", welche auch immer, verkläre –, dann beherzige ich nicht den Aufruf der Päpste zur Evangelisierung. Horkheimer schreibt weiter: "Sobald jedoch eine Tradition oder ein Wert auf sich selber … berufen muß, weil sie nichts anderes für sich anführen kann, hat sie schon ihre Kraft verloren." Die Kirche ist eine dynamische Bewegung, und sie beruft sich nicht auf sich selbst, ihre Strukturen, ihre Ideen, ihre gloriose Vergangenheit und ihre modernistischen Pläne, sondern auf Christus. In jeglichem Traditionalismus kann der Glaube erstarren und verkümmern. In der Predigt zur Amtseinführung hat Benedikt XVI. treffende Worte für den lebendigen Glauben gefunden, die auch 15 Jahre später noch uns berühren können: "Wir Menschen leben entfremdet, in den salzigen Wassern des Leidens und des Todes; in einem Meer des Dunkels ohne Licht. Das Netz des Evangeliums zieht uns aus den Wassern des Todes heraus und bringt uns ans helle Licht Gottes, zum wirklichen Leben. In der Tat – darum geht es beim Auftrag des Menschenfischers in der Nachfolge Christi, die Menschen aus dem Salzmeer all unserer Entfremdungen ans Land des Lebens, zum Licht Gottes zu bringen. In der Tat: Dazu sind wir da, den Menschen Gott zu zeigen."

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