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EXKLUSIV: Am Scheideweg. Erzbischof Gänswein über das Alpha und Omega der Menschenwürde

Erzbischof Gänswein auf dem Vatikan-Hügel
Das Nordportal der Kathedrale von Chartres: "Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich! (Gen 1,26)".
Die brennende Kathedrale Notre Dame von Paris am 15. April 2019
Erzbischof Georg Gänswein
Erzbischof Georg Gänswein ist Präfekt des Päpstlichen Hauses und langähriger Sekretär von Papst Benedikt.
Die Kathedrale von Chartres

Auch die Bundesrepublik Deutschland braucht als Staat und Gesellschaft die katholische Antwort auf die Frage nach der Würde des Menschen: Das hat Erzbischof Georg Gänswein postuliert.

Der Präfekt des Päpstlichen Hauses und Privatsekretär von Papst emeritus Benedikt XVI. rief beim gestrigen Vortrag zum Jahresempfang des Foyers "Kirche und Recht" die Christen auf, "wieder stärker und mutiger Position zu beziehen". Auf dem Spiel stehe nichts Geringeres als ein rechtes Verständnis der Menschenwürde als Ebenbildlichkeit Gottes, betonte Gänswein.

Der Mensch ist als Abbild Gottes letztlich nicht identifizierbar über "akzidentielle" Fragen wie etwa seine sexuelle Neigung oder seinen Beruf, unterstrich der Erzbischof: Fragen, mit denen sich das Bundesverfassungesgericht jedoch in letzter Zeit beschäftigt habe, etwa der Homo-"Ehe". 

"Die homosexuellen Partner sind - Ehe hin, Ehe her - auch einmal alt und stehen vor dem letzten Schritt des Lebens - und dann kommt es auf die sexuelle Orientierung nicht mehr an. Krankenschwester oder homosexuell sein ist akzidentiell, es gehört nicht wesentlich zum Menschsein. Alle Homosexuellen, Geschiedenen, Atheisten und so weiter werden einmal vor Gott stehen und vor seinem Gericht", so Gänswein.

Mit Blick auf den 70. Jahrestag des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland unterstrich der Erzbischof dabei, dass das Grundgesetz "von seinem Ursprung offen für das Naturrecht" sei, "das der Schöpfer in sein Geschöpf und in seine Schöpfung eingeprägt hat". 

Daran müsse heute - mit Papst Benedikt XVI. und dessen Rede im Bundestag im Jahr 2011 - wieder dringend erinnert werden, so Gänswein am 4. Juni 2019 beim Jahresempfang des Foyers "Kirche und Recht". 

"Was Not tut in einer Gesellschaft, in der der Relativismus und die Ablehnung religiöser Wahrheiten zum guten Ton gehören, ist ein Beitrag für eine andere Wahrheit, für einen anderen Blickwinkel, für ein alternatives Konzept vom Wesen des Menschen."

CNA Deutsch dokumentiert EXKLUSIV den vollen Wortlaut der Ansprache mit freundlicher Genehmigung.

Sehr geehrte Damen und Herren!

Dieser Ort und diese Stunde laden auf besondere Weise ein, nicht immer neue Themen ausfindig zu machen, sondern eher dazu, im geduldigen Dialog und in immer neuen Variationen darüber nachzusinnen, was unser Gemeinwesen in seinem Innersten zusammenhält. Eine ungefähre Skizze der Überlegungen, die ich Ihnen nun vortragen möchte, hatte ich bei meiner Zusage, die mir Erzbischof Stephan Burger, mein Heimatbischof, vor etwa einem halben Jahr abgerungen hatte, fast schon spontan im Kopf.

Nach einem Blick auf die Beiträge meiner Vorredner kann ich mich jetzt auch bestätigt fühlen, angefangen von den profunden Ausführungen Kardinal Lehmanns "Zum schiedlich-friedlichen Verhältnis von Staat und Kirche heute", mit denen er die Reihe des Karlsruher Foyers "Kirche und Recht" am 19. Juni 2007 begonnen hat, bis hin zu dem Vortrag im letzten Jahr von Professor Peter Dabrock, dem Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates, zum Thema: "Die Würde des Menschen ist granularisierbar. Muss die Grundlage unseres Gemeinwesens neu gedacht werden?"

So komme auch ich als Deutscher und katholischer Priester, der an der römischen Kurie seinen Dienst tut, an dem Begriff der Menschenwürde nicht vorbei. Denn in diesem aus zwei Worten zusammengesetzten Begriff geben sich Religion und Recht gewissermaßen den Friedenskuss. Und wie könnte ich diesen wundersamsten Begriff unserer deutschen Verfassung gerade in dem Jahr übergehen, in dem das Grundgesetz seinen 70. Geburtstag feiert.

Da schockte mich dann auch nicht, dass es hier letztes Jahr hieß: "Die Würde des Menschen ist granularisierbar", als Professor Dabrock seine brillante Analyse mit dem genannten Ausdruck des Soziologen Christoph Kucklick an dieser Stelle zuspitzte! Wörtlich genommen heißt das: Die Würde des Menschen ist nicht nur antastbar, sie lässt sich de facto auch zwischen unseren Fingern zu Granulat zerbröseln wie ein bröckeliges Stück trockener Erde. Warum schockt mich das nicht? Nun, aus der Geschichte wissen wir, dass der menschliche Leib quasi pulverisierbar ist, wie die Welt es vor 80 Jahren in den Vernichtungslagern der Nazis und den Gulags der Sowjets und ihren Schlachtfeldern exemplarisch erfahren musste – bis hin zu den Nuklearblitzen von Hiroshima und Nagasaki. Schließlich erfahren wir alle, dass der menschliche Körper irgendwann auch nach dem schönsten, friedlichsten und glücklichsten Leben zu Staub zerfallen wird. Wir erfahren es an unseren Verwandten, Freunden und an uns selbst. "Bedenke Mensch, dass du Staub bist, und wieder zum Staube zurückkehren wirst" (vgl. Gen 3,19). Das ist die jährliche Mahnung des Aschermittwochs, in der die Liturgie der Kirche uns an unser irdisches Ende erinnert. Diese Mahnung ist eine Einladung zum Innehalten und zum Nachsinnen.

Der Mensch zerfällt. Er wird zu Erde oder Asche. Sein Körper ist pulverisierbar. Ist es dann auch seine Würde? – Was ist die Menschenwürde? Unser Grundgesetz scheint mit einem frommen Wunsch zu beginnen, einem nur ästhetisch verständlichen Satz, ja strenggenommen mit einer Falschaussage: "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Was bedeutet dieser Satz? Was folgt aus ihm? Und was, wenn die Würde angetastet wird? Und was macht man als Jurist unter diesen Umständen?

Ich möchte Ihnen jetzt keine rechtsphilosophische oder rechtsgeschichtliche Vorlesung halten – worüber Sie mir sicherlich nicht gram sein werden -, sondern lassen Sie mich deshalb gleich zum Kern der Sache kommen.

Ich bin Priester, Bischof der katholischen Kirche. Wir haben das Ius divinum und das Ius mere ecclesiasticum, göttliches und rein kirchliches Recht, weshalb mir mein oberster Gesetzgeber sozusagen "die Hölle heiß machen" würde, wenn ich Ihnen jetzt etwas Anderes vortrage als das, was durch das Naturrecht und die Offenbarung gedeckt ist. Die anwesenden Rechtsgelehrten, Richter, Rechtsanwälte und Beamten vertreten den Staat der Bundesrepublik Deutschland. Vielleicht macht Ihnen Ihr oberster Dienstherr etwas weniger die Hölle heiß, wenn sie mir in diesem Dialog etwas Anderes als Staatsraison und Staatsdoktrin der Bundesrepublik erzählen sollten – aber sicher würde Ihnen die öffentliche Meinung dafür umso ordentlicher einheizen. –  Da wir aber sozusagen unter uns sind, schauen wir jetzt einmal, ob und wie wir zusammenfinden bei dem Begriff der Menschenwürde.

(Die Geschichte geht unten weiter)

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Die katholische Antwort zur Frage nach der Würde des Menschen ist diese: Menschenwürde hat man nicht so, wie man ein Bein oder ein Hirn hat. Der Mensch erwirbt seine Würde nicht. Er kann sie deshalb auch nicht verlieren. Sie ist jedem einzelnen Menschen schon vor Beginn der Schöpfung gegeben und liegt in dem Willen Gottes, den Menschen nach seinem Abbild, nach dem Abbild Gottes zu schaffen. Diese Würde ist darum allen Menschen zuteil und eigen, gleich woher sie stammen, welche Sprache sie sprechen, welche Hautfarbe sie haben, ob sie politisch uninteressiert oder besonders radikal sind, ob gesetzestreu oder Gesetzesbrecher. Sie steht – obwohl wir es alle wissen, sei es an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betont – natürlich auch allen Nicht-Christen zu. Alle Menschen sind nach dem Abbild Gottes geschaffen.

Die Würde des Menschen hängt also nicht ab von dem, was er tut, was er denkt oder sagt, sondern an dem, was er ist. Was also ist der Mensch? Was bedeutet es, dass er Abbild Gottes ist?

Eine besonders schöne Antwort darauf habe ich vor Jahren in Chartres gefunden, wo unbekannte Bildhauer den biblischen Bericht der Genesis über die Erschaffung der Welt mit einem Halbkreis von Skulpturen über dem Nordportal der Kathedrale aus dem 13. Jahrhundert in Szene gesetzt haben, an denen wir gleichsam ablesen können, wie Gott am fünften Schöpfungstag –  in dem Moment, als er  gerade die Vögel erschaffen hat und als er ihnen liebevoll nachschaut, wie sie seinem Blick enteilen und frei weg in den Himmel fliegen! –  erstmals auf den Gedanken verfällt: "Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich! (Gen 1,26)".  Ausgerechnet beim Anblick der Freiheit der Vögel verfällt Gott hier also auf den Gedanken, als Krönung der Schöpfung auch den Menschen zu erschaffen, als freies Wesen, auch ihm selbst gegenüber. Gott sieht hier aus wie sein Sohn, wie Jesus, dem just im Moment dieses Einfalls, bei seiner ersten Idee und Vorstellung des Menschen, der junge Adam – als Gedanke, doch leibhaftig – über die rechte Schulter schaut, ihm ähnlich wie ein Zwilling, mit seinen Gesichtszügen, nur ohne Bart.

Der Ort dieser Darstellung an der Kathedrale "Unserer Lieben Frau von Chartres" zeigt auch, dass dieses Menschenbild ein Sondergut ist, das nicht einfach der Natur entstammt und auf Bäumen gewachsen ist. Und so ist es auch mit der Menschenwürde. Sie ist ein Kulturgut. Sie entstammt auf genuine Weise unserer Kultur; sie kommt nicht aus China oder Japan, nicht aus Indien, auch nicht aus dem "Haus des Islam". Sie entstammt allein unserer Geschichte, und hier ganz besonders der Selbstoffenbarung Gottes, und zwar so, wie sie in den Heiligen Schriften des Judentums und des Christentums auf uns gekommen ist.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich  in den letzten Jahren vor allem in Deutschland die Erkenntnis durchgesetzt hat – in  Äußerungen solch nüchterner Denker wie Jürgen Habermas und Ludger Honnefelder – dass vor allem vor dem Hintergrund jüdisch-christlicher Überlieferung die  Gottesebenbildlichkeit des Menschen zur Matrix des Begriffs der "Menschenwürde" wurde,  wo das schöne Wort nicht nur Verfassungsrang bekam, sondern wo es seit dem 8. Mai 1949 eben den zentralen Platz des neuen deutschen Grundgesetzes einnimmt, wo es im allerersten Satz des ersten Artikels lakonisch heißt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."

Der Satz ist quasi die Seele unserer Verfassung geworden, zu dem die gesetzgeberische Elite der neuen Bundesrepublik nur vier Jahre nach Weltkriegsende und der unfassbaren Katastrophe der Deutschen unter den Nationalsozialisten gottlob zurückgefunden hatte. Das war nicht zufällig. Denn es war ja auch ein beispielloser Zivilisationsbruch der Justiz durch die willkürliche Rechtsetzung, die Europa unter den Nazis in Deutschland erlebt und erlitten hat. Mit diesem Schritt und diesem Satz ist Deutschland vor 70 Jahren wieder in die Zivilisation Europas und zu ihrem jüdisch-christlichen Erbe zurückgekehrt. Es war ein Glücksfall, fast ein Wunder. Und es war eine Heimkehr.

Und hier gelangen wir im Kern an jenen Punkt, den der Staatsrechtler und Verfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde schon im Jahr 1964 in sein berühmtes und viel zitiertes Diktum gegossen hat: "Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist."

Wenn nun also der Staat die notwendigen, lebenspendenden Voraussetzungen nicht garantieren kann, sind andere aufgerufen, sie so gut wie möglich zu gewährleisten und zu schützen oder zumindest immer wieder an sie zu erinnern. Das können in diesem Land aber nicht zuerst die Parlamente und andere Kammern des souveränen Volkes sein. Das ist vorrangig Sache der Kirchen und Synagogen, auch und gerade in einer radikal pluralisierten Welt. Darauf machte auch Papst Benedikt XVI. am 22. September 2011 aufmerksam, als er vor dem deutschen Parlament im Berliner Reichstag Folgendes ausführte: "Von der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt worden. Diese Erkenntnisse der Vernunft bilden unser kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren oder als bloße Vergangenheit zu betrachten, wäre eine Amputation unserer Kultur insgesamt und würde sie ihrer Ganzheit berauben."

Ich kehre zur Ausgangsfrage zurück: Ist die Würde des Menschen pulverisierbar, wie der Körper des Menschen? Die Antwort lautet klipp und klar: nein. Der Mensch als Abbild Gottes ist nicht eine nach einem bestimmten Muster bewirkte Ansammlung von Materie oder ein verklumpter Zellhaufen, der für eine bestimmte Lebensdauer funktioniert und dann nicht mehr. Als Abbild Gottes ist der Mensch berufen, mit seiner Seele sein Urbild, den wahren und ewigen Gott, zu suchen und zu erkennen, über seinen Tod hinaus – auch wenn sein Körper schon zerfallen ist und nicht mehr existiert. Seine Würde liegt in dieser Freiheit, Gott zu suchen und Gott zu erkennen, gleich wo und wie sich der einzelne Mensch gerade befindet, welche materiellen Zwänge ihn bedrängen oder welche körperlichen Gebrechen ihn behindern und belasten. Seine Seele ist frei geschaffen und sie bleibt es in alle Ewigkeit.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich hoffe, dass Sie mir hierin größtenteils zustimmen können und dass weder Sie noch ich wegen dieser Übereinstimmung nun mit unseren jeweiligen Dienstherren Probleme bekommen.

Denn wo Sie mir in meiner bisherigen Reflexion über die Menschenwürde zustimmen konnten, zeigt dies doch, wie nah sich katholische Morallehre und Überzeugungen des Verfassungsgesetzgebers einmal gewesen sein müssen. Freilich, deckungsgleich waren sie nie. Doch das Grundgesetz ist von seinem Ursprung offen für das Naturrecht, das der Schöpfer in sein Geschöpf und in seine Schöpfung eingeprägt hat. Das zeigt der Begriff der Menschenwürde auf eindeutige Weise. Ist das auch heute noch in der Allgemeinheit, im Alltag der Bundesrepublik so? Ist die gezeichnete Auffassung alltagstauglich?

Natürlich kann nicht übersehen werden, dass Sie, sehr geehrte Damen und Herren im vornehmen Forum des Verfassungsgerichts, mit Ihrer Rechtsprechung so etwas wie ein Gesetzesnavigator für ganz Deutschland sind, der in den letzten Jahren bemerkenswerte Entwicklungen durchgemacht hat. Sie haben beispielsweise gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zwischen Männern oder Frauen den Weg geöffnet, ihre Verbindung eine "Ehe" zu nennen, – und hinsichtlich der Rechtsprechung in Bezug auf das kirchliche Arbeitsrecht haben die Damen und Herren Richter vom Bundesarbeitsgericht ja mächtig zugelangt.

Täusche ich mich mit der Feststellung, dass die Rechtsprechung in Deutschland fast immer und überall bejubelt wird, wenn sie Entscheidungen trifft, die eine Rücksichtnahme auf christliche Werte und christliche Moralvorstellungen minimalisiert, beseitigt oder ablehnt. Und ich kann das sehr gut nachvollziehen.

In den unmittelbaren materiellen Belangen einer nach bürgerlichem Recht geschiedenen und wiederverheirateten Krankenschwester mag es wichtig sein, den Beruf weiter ausüben zu können. Für zwei Männer oder zwei Frauen, die sich körperlich lieben, mag es eine große Erleichterung sein, wenn die Gesellschaft behaglichere Umstände für das gemeinsame Leben schafft. Da ist der Jubel für die Gesetzgebung und Rechtsprechung, die solche Veränderungen einführt, fast vorprogrammiert, und auch die Schmähung für die Kirche, die nicht in diesen Jubel einfällt, sich sogar dagegen sperrt.

Reden Kirche und Staat in Deutschland vielleicht nicht mehr von demselben Begriff, wenn sie sich auf die Würde des Menschen berufen? Stehen Kirche und Staat inzwischen auf verschiedenen Seiten, die durch einen tiefen Graben getrennt sind? Bestenfalls haben wir denselben Standpunkt, blicken aber in entgegengesetzte Richtungen. Die Kirche möchte und darf nicht nur die diesseitigen materiellen Bedürfnisse des Menschen befriedigen. Sie ist nicht nur Caritas, auch wenn diese und viele weitere hervorragende katholische Einrichtungen im Sozial- und Gesundheitswesen selbstverständlich zur Kirche gehören. Die Kirche an sich, als Ganzes, ist aber für mehr verantwortlich, zuerst und zuletzt für die Seelen und deren Frieden mit sich und Gott. Die materiellen Belange sind dagegen relativ und ändern sich beständig. Die eben genannte Krankenschwester ist in ihrer Freizeit, in ihrer Rente nicht mehr Krankenschwester, sondern Mensch. Die homosexuellen Partner sind – Ehe hin, Ehe her – auch einmal alt und stehen vor dem letzten Schritt des Lebens – und dann kommt es auf die sexuelle Orientierung nicht mehr an. Krankenschwester oder homosexuell sein ist akzidentiell, es gehört nicht wesentlich zum Menschsein. Alle Homosexuellen, Geschiedenen, Atheisten und so weiter werden einmal vor Gott stehen und vor seinem Gericht.

Im Letzten Gericht kommt es auf ihr Menschsein an, nicht auf Akzidenzien wie sexuelle Orientierung, Dauer einer Partnerschaft, Weltanschauung et cetera. Die von mir soeben ins Visier genommene Gesetzgebung und Rechtsprechung in Deutschland beschäftigt sich aber lediglich – darf ich das einmal so ungeschützt vor Ihnen aussprechen? –  mit diesen Akzidenzien, die freilich einer notwendigen Regelung bedürfen, um das Gemeinwohl aufrecht zu erhalten.

Lassen Sie mich weiter deutlich bleiben: Die Bundesrepublik ist dabei, sich auf ihrem Weg durch die Geschichte, siebzig Jahre nach ihrer Gründung, von der Grundierung ihres ursprünglichen christlich-humanistischen Weltbildes und vom Naturrecht zu verabschieden. An dieser Weggabelung gehen Kirche und Staat nunmehr getrennte und eigene Wege. Es ist ein Scheideweg. Das hat die katholische Kirche verstanden. Dass sie dabei nicht anders kann, als am Naturrecht und an ihrer christlichen Sicht auf den Menschen festzuhalten, liegt auf der Hand. Wir dürfen und können die Differenzen nicht schönreden. Doch sollte ich nun vielleicht den Finger in diese Wunde legen und von katholischer Seite eine alternative, naturrechtlich begründete Auffassung von Rechtsprechung und Rechtsschöpfung vorstellen, um noch einmal um Verständnis zu werben und Augen, Ohren, Herz und Verstand zu öffnen für klassische katholische Positionen, die doch wesentlich im Fundament auch der modernen und grosso modo glücklichen Bundesrepublik ruhen, die nach den apokalyptischen Jahren des "Dritten Reiches" und den von Hitler angezettelten Kriegen und seinem Vernichtungsfeldzug gegen das Jüdische Volk einen Rechtsfrieden erlebt hat, der beispiellos ist in der Geschichte Europas?

Vor dieser Versöhnung kann keiner die Augen verschließen. Wer hätte dieses Wunder vor 80 oder 70 Jahren erahnen können? Gestatten Sie mir deshalb dennoch im Folgenden weniger als Kanonist, sondern vor allem als katholischer Priester das Wort an Sie zu richten, der aber auch das unverdiente Glück hatte, in den letzten Jahren Tag für Tag neben Papst Benedikt am Altar stehen zu dürfen. Und bitten möchte ich Sie deshalb nun auch, mir zu gestatten, aus seiner epochalen Rede vor dem Deutschen Bundestag im September 2011 noch einmal eine längere Passage im Wortlaut in Erinnerung zu rufen:

"In einem Großteil der rechtlich zu regelnden Materien kann die Mehrheit ein genügendes Kriterium sein. Aber dass in den Grundfragen des Rechts, in denen es um die Würde des Menschen und der Menschheit geht, das Mehrheitsprinzip nicht ausreicht, ist offenkundig: Jeder Verantwortliche muss sich bei der Rechtsbildung die Kriterien seiner Orientierung suchen…

Von dieser Überzeugung her haben die Widerstandskämpfer gegen das Naziregime und gegen andere totalitäre Regime gehandelt und so dem Recht und der Menschheit als ganzer einen Dienst erwiesen. Für diese Menschen war es unbestreitbar evident, dass geltendes Recht in Wirklichkeit Unrecht war. Aber bei den Entscheidungen eines demokratischen Politikers ist die Frage, was nun dem Gesetz der Wahrheit entspreche, was wahrhaft recht sei und Gesetz werden könne, nicht ebenso evident. Was in bezug auf die grundlegenden anthropologischen Fragen das Rechte ist und geltendes Recht werden kann, liegt heute keineswegs einfach zutage. Die Frage, wie man das wahrhaft Rechte erkennen und so der Gerechtigkeit in der Gesetzgebung dienen kann, war nie einfach zu beantworten, und sie ist heute in der Fülle unseres Wissens und unseres Könnens noch sehr viel schwieriger geworden.

Wie erkennt man, was recht ist? In der Geschichte sind Rechtsordnungen fast durchgehend religiös begründet worden: Vom Blick auf die Gottheit her wird entschieden, was unter Menschen rechtens ist. Im Gegensatz zu anderen großen Religionen hat das Christentum dem Staat und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, nie eine Rechtsordnung aus Offenbarung vorgegeben. Es hat stattdessen auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen – auf den Zusammenklang von objektiver und subjektiver Vernunft, der freilich das Gegründetsein beider Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes voraussetzt...

Für die Entwicklung des Rechts und für die Entwicklung der Humanität war es entscheidend, dass sich die christlichen Theologen gegen das vom Götterglauben geforderte religiöse Recht auf die Seite der Philosophie gestellt, Vernunft und Natur in ihrem Zueinander als die für alle gültige Rechtsquelle anerkannt haben. Diesen Entscheid hatte schon Paulus im Brief an die Römer vollzogen, wenn er sagt: "Wenn Heiden, die das Gesetz (die Tora Israels) nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie … sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab…(Röm 2,14)". Hier erscheinen die beiden Grundbegriffe Natur und Gewissen, wobei Gewissen nichts anderes ist als das hörende Herz Salomons, als die der Sprache des Seins geöffnete Vernunft. Wenn damit bis in die Zeit der Aufklärung, der Menschenrechtserklärung nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Gestaltung unseres Grundgesetzes die Frage nach den Grundlagen der Gesetzgebung geklärt schien, so hat sich im letzten Jahrhundert eine dramatische Veränderung der Situation zugetragen. Der Gedanke des Naturrechts gilt heute als eine katholische Sonderlehre, über die außerhalb des katholischen Raums zu diskutieren nicht lohnen würde, sodass man sich schon beinahe schämt, das Wort überhaupt zu erwähnen."

Nach diesen Worten verstehen Sie gewiss, warum ich Benedikt XVI. so ausführlich zitiert habe. Es ist auch ein Aufruf an die Christen in unserer Gesellschaft, wieder stärker und mutiger Position zu beziehen.

Wir haben gesehen, dass sich Gesetzgebung und Rechtsprechung, von einem vorübergehenden materialistischen Mainstream in der öffentlichen Meinung gedrängt, vor allem mit den akzidentellen Problemen des Menschseins beschäftigen. Wir müssen aber beim Wesentlichen bleiben und wir hoffen auf diese Weise als Christen unserem Vaterland hilfreich zu sein, in dem wir nur dann mit der Mehrheit sprechen, wenn es die Wahrheit ist, und ansonsten die Wahrheit auch im Widerspruch bekennen. Denn das deckt ja unsere Verfassung ab, in der man sich als Katholik und als Atheist wohlfühlen können sollte. Was Not tut in einer Gesellschaft, in der der Relativismus und die Ablehnung religiöser Wahrheiten zum guten Ton gehören, ist ein Beitrag für eine andere Wahrheit, für einen anderen Blickwinkel, für ein alternatives Konzept vom Wesen des Menschen. Das hat die Kirche über die Jahrhunderte immer geboten.

Deswegen ermutigt mich der Blick auf die Würde des Menschen und auf die Garantien unserer weitsichtigen Verfassung auch zu dem Aufruf an meine christlichen Brüder und Schwestern hier in Deutschland: Christlich werden müssen vor allem wieder die Christen. Die Kirche muss – auch zum Gemeinwohl aller und der gesamten säkularen Gesellschaft – zu sich selbst zurückfinden und zu ihrem originären Heilsauftrag – und zwar auf einem Weg, auf dem sie sich zuletzt oft verloren hat in einem innerkirchlichen Streit, aus dem selbst viele Bischöfe offenkundig nicht mehr herausfinden und sich vor einem verwirrten Kirchenvolk verhalten, als wären sie Politiker verschiedener Parteien, die die nächste Wahl gewinnen wollen, und keine Hirten jener Herde mehr, die Christus ihnen anvertraut hat.

Auch hier stehen wir vor einem Scheideweg.

Erlauben Sie mir deshalb noch eine weitere Überlegung mit ihnen zu teilen und damit den Kreis der Adressaten über sie hinaus, meine Damen und Herren, zu meinen Mitbrüdern zu weiten und vielen anderen, die in diesen Echo-Raum hineinlauschen.

Wenn wir im Anfang unserer Geschichte in der biblischen Selbstmitteilung des Schöpfers von unserer Ebenbildlichkeit mit ihm den Ursprung von unserem Verständnis der Menschenwürde erkennen, dann müssen wir danach, das heißt, nach diesem ALPHA heute auch einmal nach dem OMEGA der Menschenwürde fragen. Das heißt, dann müssen wir nach dem Ende und Ziel unseres kulturellen Sonderguts fragen, das wir ja nur als Geschenk des Himmels begreifen können. Dann müssen wir nach dem Ziel unserer Seelsorge fragen.

Zu diesem Omega zählt zunächst – als genuin christliches Bekenntnis –der Glaube an die Menschwerdung Gottes. Das heißt, wir glauben, dass wir als Menschen nicht nur nach dem Bild Gottes geschaffen sind, sondern dass er sich uns schließlich auch noch selbst gezeigt hat. Das ist in sich schon unglaublich und aufreizend für jede andere Religion und Kultur. Denn das heißt ja, dass wir nicht nur glauben, dass wir nach dem Ebenbild Gottes modelliert und gebildet wurden, sondern dass Gott sich in Jesus Christus auch leibhaftig als das göttliche und von Gott gewünschte Modell und Urbild aller geoffenbart hat, aus dessen Mund wir erfahren haben, wo und wie wir ihn und seinen Vater heute suchen und finden können.

Deshalb geht das Gleichnis vom Weltgericht im Evangelium nach Matthäus (vgl. Mt 25,31-46) für alle Zeit durch Mark und Bein, wo wir lesen, wie "der Menschensohn in seiner Herrlichkeit" die Güter seines Reiches als Erbe an die verteilt, der er als "gottgefällig" erkannt hat.  Er begründet dies hier so: "Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen."

Die aber fragen ihn: "Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?"  Darauf sagt der König ihnen – und auch uns – nur dies: "Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan."

Am Ziel der Gottesebenbildlichkeit identifiziert und zeigt sich Gott selbst nicht nur mit den Menschen im Allgemeinen, sondern unter uns vorrangig mit den Ausgestoßenen, mit den Hungrigen und Durstigen, mit den Fremden, den Nackten, den Armen, Kranken und Gefangenen, kurzum: mit den Geringsten. Darum wurde Europa Jahrhunderte lang übersät mit Wegekreuzen, vor denen die Menschen zu Gott als einem Gefolterten und Gemarterten aufschauten. Unter den Menschen, die nach Gottes Bild geschaffen waren, identifizierte sich Jesus mit den geringsten unter ihnen, mit den Opfern – bevor er sich selbst als ultimatives Opfer ans Kreuz schlagen ließ. Das sind nun alles keine Neuigkeiten, die ich Ihnen hier vortrage, wahrlich nicht.

Dennoch lässt sich das nicht begreifen. Das lässt sich nur bestaunen. Schon bei Jesu Geburt haben wir ja zum ersten Mal erfahren, was es heißt, dass wir nach seinem Ebenbild geschaffen sind. Denn im Anfang sahen wir diese Ebenbildlichkeit ebenfalls schon in aller Radikalität vor uns: in einem hilflosen Neugeborenen, unterwegs in der Fremde, ohne Herberge, dessen Eltern schon bald vor der staatlichen Willkür des Tyrannen Herodes mit dem Säugling fliehen mussten. Warum Menschen heute nach Europa fliehen und wer verstehen will, wofür das "C" ihrer christlichen Parteien steht, muss deshalb in die Krippe schauen, wo das Wimmern des Neugeborenen uns schon in Bethlehem ins Ohr flüstert: "Gott ist der Kleinste!" Diese unfassbare Demut des Größten ist aber auf kostbare Weise als Signatur jener Welt eingeschrieben, wo die Menschenwürde nach einer Serie von Menschheitskatastrophen als unantastbar erklärt werden konnte.

Wer begreifen will, warum sich unzählige Menschen aufmachen und in ihrer Not nach Europa flüchten und nicht nach China oder in die Arabischen Emirate, muss auf dieses Kind blicken, dem wir die wichtigste Grundierung unserer christlichen Welt verdanken, die so anders gestaltet wurde mit ihren Sozialsystemen, ihrem Freiheitswillen und dem Anspruch der unantastbaren Menschenwürde.

Dass dies eine Welt in ständiger Bedrohung ist und immer war und bleiben wird, muss nicht extra betont werden. Bedrohlicher als alle Gefahren der Datenüberwachung und künstlichen Intelligenz empfinde ich deshalb die Nachricht, dass das schlimmste Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen mittlerweile "Du Opfer!" heißen soll – auch wenn es nicht überraschend ist, sondern eher natürlich, wenn sich eine korrodierende Welt gleichsam wie von selbst wieder ihrem sozialdarwinistischen Urzustand anverwandeln will. Gesetzgeberisch oder vor den Schranken der Gerichte lässt sich diesen Gesetzen der Schwerkraft nur wenig entgegensetzen.

Das bringt mich schließlich zum letzten Punkt meiner Überlegungen.

Es liegt wesentlich an der Kirche selbst, ihr Innerstes neu zum Leuchten zu bringen, und zwar nicht nur sich selbst, sondern auch wesentlich dem Gemeinwohl zuliebe. Die katholische Kirche leistet mit ihren evangelischen Schwestern und Brüdern in vorbildlicher Ökumene Großes auf dem weiten Feld der Caritas. Darin wird sie auch nicht nachlassen, und das ist gut und richtig so. Ihre letzte nötige Reform aber kann nicht gelingen, indem sie noch sozialer wird, noch karitativer oder gar noch angepasster an den Zeitgeist, auch nicht in einer Generalüberholung ihrer Struktur mit verschiedenen Gemeindemodellen, sondern allein darin, dass die Kirche sich und ihre Gläubigen wieder mit all ihrer Erfahrung aus 2000 Jahren und aller Kraft und Phantasie zum Ernstfall ihrer Existenz hinführt.

Das aber ist das ewige Leben, zu dem der gekreuzigte Gottessohn mit seiner Auferstehung von den Toten in Jerusalem für uns alle und ein für alle Mal das Tor aufgestoßen hat.

Denen, die das für illusionär, weltfremd oder weltflüchtig oder für Opium oder eine andere Droge halten mögen, möchte ich in diesem Zusammenhang den Brand der Kathedrale "Notre-Dame" in Paris in Erinnerung rufen, der vor wenigen Wochen nicht nur Frankreich, sondern uns alle, ja die ganze Welt erschüttert hat wie ein Menetekel. Tausende waren vor diesen Bildern zutiefst erschrocken, weil sie spürten oder ahnten, dass hier nicht nur ein schönes altes Gebäude, sondern auch ein Teil von uns selbst und dem Besten unserer Geschichte in Flammen stand.

Dabei rief dieses Feuer aber auch neu die Faszination in Erinnerung, mit der die Menschen darauf geschaut haben müssen, als sie diese filigranen Kathedralen in Paris wie in Chartres und so vielen anderen Städten in ihrer Mitte errichteten mit ihren kostbaren Fensterrosen, die farbig waren wie himmlische Kaleidoskope, während die Bauleute dieser Weltwunderwerke wie die meisten Bewohner von Paris und aller anderen Städte Frankreichs noch in dunklen Hütten und Häusern aus engem Fachwerk lebten, in die sie abends heimkehrten. Ein größerer Kontrast als der zwischen der Lebenswirklichkeit dieser Menschen und den Raumwundern dieser Gotteshäuser war kaum denkbar. Dazu muss man auch dies noch zu wissen: Die beiden Westtürme in der Architektur der Kathedrale Unserer Lieben Frau von Paris sind wie in Chartres und fast allen gotischen Kathedralen markante Glockentürme. Vor allem aber haben sie seit der ersten gotischen Kathedrale in Saint Denis bei Paris insgesamt die Architektur einer Torhalle. Diese neuen Gotteshäuser wurden gleichsam als Tore zum Himmlischen Jerusalem errichtet! Das heißt: Hinter ihren Schwellen begann für die Gläubigen jeweils das Paradies schon auf Erden. Diese Kathedralen waren nicht nur kostbare Instrumente zur Feier des himmlischen Hochzeitsmahls der Eucharistie und zum Hinhören auf das Wort Gottes. Sie waren auch materielle Schnittmengen zwischen Himmel und Erde, in denen sich die Christen im Volk Gottes schon hier mit all ihren Sinnen zur Ewigkeit ausstreckten. Deshalb gingen mir beim Brand der Kathedrale auch unwillkürlich noch die Worte des badischen Landmannes Karl Rahner durch den Kopf, mit denen der wortgewaltige Jesuit schon vor über fünfzig Jahren visionär erklärte, der Christ der Zukunft werde ein "Mystiker" sein oder er werde "nicht mehr sein."

Diese Zukunft ist jetzt. Wenn diese Ahnung  Rahners aber heute in den Kirchen fast völlig verloren geht in unserem kirchenpolitischen und theologischen Hickhack, in Prozessoptimierungsbemühungen und heißblütigen Debatten zu allerlei Streitthemen, oder in den immer neuen Wortfindungsversuchen, die bei der Lösung turmhoher Probleme helfen sollen, darf keiner sich mehr wundern, dass sich unsere Gotteshäuser so radikal entleeren, wie wir es in unserer Zeit erleben, nicht zum Vorteil, sondern zum Nachteil der ganzen Gesellschaft, oder wie es der Erzbischof von Köln, Kardinal Rainer Woelki, im vergangenen März ausdrückte: "Die Alternative, vor der wir stehen, lautet zugespitzt: Entweltlichung der Kirche oder Entchristianisierung der Welt – jedenfalls des Weltteils, in dem wir Deutschen leben." Dabei gehe es in dieser Krise nicht um "unreflektierten Traditionalismus" oder Sehnsucht nach Vergangenheit.  Der Weg der Kirche könne immer nur in die Zukunft führen und nicht in die Vergangenheit, aber diese Zukunft gebe es nur, wenn die Kirche "sich neu auf Christus besinnt, wenn sie zu ihm zurückkehrt, wo sie ihn aus den Augen verloren hat."

Katholische und evangelische Christen werden heute wohl kaum mehr neue Kathedralen bauen. Wesentlicher als die Kathedralen aus Stein aber sind diejenigen aus lebendigen Steinen, sind die Gläubigen, die in ihrem alltäglichen Leben Zeugnis abgeben. Sie müssen sich mit ihren Hirten wieder radikal zum Himmel und zur Ewigkeit ausstrecken, der Wiederkunft Christi entgegen, die sie in ihrem gemeinsamen Credo bekennen, damit die Kirche wieder neu strahlt und fasziniert, nicht um Proselyten zu machen, sondern um Salz der Erde zu sein für die ganze Gesellschaft, als großes Faszinosum und Kontrast zum Rest der Welt. Und eben nicht in einer noch stärkeren Angleichung an den Rest der Welt.

Denn es geht ja mehr als nur die Kirche zugrunde, wenn sie sich und ihre Gläubigen nicht auf diese letzte Dimension hin ausrichtet. Natürlich wird die Kirche nie zugrunde gehen, Gott sei Dank. Deshalb gehen aber auch unser bleibendes Ziel und der Auftrag nie zugrunde, Gott, dem wir unsere Würde und Antlitz verdanken, endlich "von Angesicht zu Angesicht" zu begegnen, wie Paulus sagt.

Auch "zum schiedlich-friedlichen Verhältnis von Staat und Kirche heute", das Karl Kardinal Lehmann hier im Juni 2007 analysierte, kann die Kirche und können die Kirchen deshalb heute nicht mehr und nichts Besseres beitragen als dies: dass sie christlicher und kirchlicher werden.

Das ist natürlich einfacher gesagt als getan.

Dennoch gibt es zum Wohl aller und zum Wohl des ganzen Gemeinwesens für diesen Weg keine Alternative. "Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv", hat der im April verstorbene Satiriker Wiglaf Droste seine Skepsis der Zukunft gegenüber einmal ebenso hintersinnig wie trocken formuliert. Das klang witzig und war doch bitter. Im Ernst antworten wir ihm und allen anderen Skeptikern der Menschenwürde zum Schluss aber doch noch einmal klar und deutlich: Nein, die Würde des Menschen ist kein Konjunktiv, sie ist keine Möglichkeitsform. Die Würde des Menschen ist ein Indikativ, eine Wirklichkeitsform! Mehr noch: ein Imperativ! Und sie ist unantastbar.

Die Mütter und Väter des deutschen Grundgesetzes hatten Recht und großes Glück, als sie diese Formel als Herzstück unserer Verfassung fanden. Und wir wissen dabei: Zur Vollendung kommt diese Würde erst am Ende der Tage, wie es auch Papst Franziskus immer wieder unterstreicht, für den die letzte Kategorie des Lebens das Leben mit Gott in der Ewigkeit ist.

Denn das Alpha und den Urgrund der Menschenwürde können wir nur in unserer Gottesebenbildlichkeit suchen und finden.

Das Omega und Ziel der Würde des Menschen aber ist die Heiligung des Menschen – und sein Ruhen bei Gott in Ewigkeit.

Dies ist der letzte Horizont, vor dem allein unser Leben gelingen kann und die Kirchen sich erneuern können und erneuern müssen und um sie herum noch einmal die ganze Welt.

Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit.

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