Dschihadisten des Islamischen Staats (IS) ermordeten im Jahr 2015 am libyschen Mittelmeerstrand 20 mutige koptische Christen aus Ägypten und ihren ghanaischen Arbeitskollegen. Die muslimischen Täter handelten aus Hass gegen den christlichen Glauben. Papst Franziskus ließ die 21 Namen der geehrten Blutzeugen auch in das Römische Martyrologium aufnehmen, und am heutigen 15. Februar ist ihr Gedenktag. 

CNA Deutsch veröffentlicht dazu die Besprechung des Buches, das für viele Katholiken entscheidend war im Entdecken des Lebens — und Sterbens — dieser Brüder im Glauben. Ein Interview mit Martin Mosebach und seinen Zugang zum Thema lesen Sie hier.

Ein Buch wie „Die 21“ von Martin Mosebach hat es in der Bundesrepublik oder überhaupt in Europa noch nicht gegeben und auch nicht davor, etwa in den Nachkriegsjahren, oder im Dritten Reich, oder in der Weimarer Republik. Doch halt, damals – im Jahr 1933 – erschienen „Die 40 Tage des Mussa Dagh“. Es war ein Roman, in dem Franz Werfel erstmals das Volk und die Religion und die Tragödie der Armenier unter den Türken der Weltöffentlichkeit vorstellte. Er hatte ihr Drama im Jahr 1929 in Damaskus kennengelernt. Berühmt wurde drei Jahre nach Erscheinen des Romans die Predigt eines Priesters der armenischen Kirche in New York, der den Dichter dort mit den Worten rühmte. „Wir waren eine Nation, aber erst Franz Werfel hat uns eine Seele gegeben.“ Das mochte irgendwie stimmen, doch Werfel war ein böhmischer Jude aus Prag und Wien, und selbst kein Armenier.

Das aber ist jetzt ganz anders mit Martin Mosebach. Er ist ein Romancier aus dem Frankfurter Westend und einer der prominentesten katholischen Intellektuellen Deutschlands, der hier nicht mit einem funkelnden neuen Roman, sondern in einer großen Reportage den Spuren und dem Geheimnis der koptischen Märtyrer vom Februar 2015 folgt und dabei einen lebendigen Quellfluss der Christenheit freilegt, der immer noch von Blut gespeist wird – und dem Herzen Jesu selbst entspringt.

Und bei dieser Recherche übersteigt Mosebach das Werk Werfels unversehens um Lichtjahre, und das von Thomas Mann im Handumdrehen gleich mit. Hier erzählt und erläutert er uns nicht nur mit aller gebotenen Spannung von einer fernen fremden Kultur und Religion. Hier klärt er uns plötzlich über uns selbst auf und über unsere Wurzeln – und zwar im Spiegel der koptischen Kultur Ägyptens, wobei ihm seine intime Kenntnis der lateinischen Liturgie zur Kunst der Unterscheidung so zu Hilfe kommt, wie der „Stein von Rosette“ Jean-François Champollion im Jahr 1822 bei der Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen half. Es ist atemberaubend.

Mosebach ist ausgebildeter Richter. Seit 1983 aber hat er elf Romane, zahllose Erzählungen und Essays zu einem breiten Spektrum religiöser, historischer und politischer Themen verfasst, für die er mit etlichen der prominentesten Preise Deutschlands ausgezeichnet wurde – und die nun doch allesamt vor der überwältigenden Kraft der „21“ wie Schreibübungen wirken. Es ist das Opus Magnum des 66-Jährigen, zu dem er sich vor drei Jahren gleichwohl von einem Titelbild auf dem Vatican-magazin hat herausfordern lassen, genauer, von einem winzigen Hauch.

Und da können wir plötzlich persönlich mitreden. Als wir im Mai 2015 für das Sommerheft eine Titelgeschichte über die libyschen Märtyrer vorbereiteten, konnten wir im weltweiten Netz nicht einmal ihre Namen in Erfahrung bringen. Was sind Heilige aber ohne Namen? Ist es da nicht fast, als existierten sie kaum? In dieser Situation kam uns damals in aller Hast nur noch die Zeichensprache zur Hilfe und die Gesichter der Märtyrer in dem Video der Mörder, das auch nur anzuschauen damals im katholischen Milieu als fast so verboten und anstößig galt wie der zweifelhafte Genuss eines Pornos. Wir mussten es aber, wenn wir das Video für unsere Zwecke in so genannte Screenshots zerlegen wollten, um zu bebildern, was wir nicht benennen konnten. So kamen wir zu dem Porträt des gerade ermordeten Mannes, dessen Namen wir erst jetzt von Martin Mosebach erfahren. Uns kam er damals so vor, als würde er nach seinem letzten Hauch mit seinem offenen Mund in dieser Sekunde ein erstes „Abba“ flüstern – wie das Bild Christi im Schweißtuch des Gekreuzigten – und wir erfahren erst jetzt, dass es wohl ein „Jarap Jesoa!“ (Herr Jesus!) gewesen sein muss, das da noch auf seinen Lippen ruhte. Mit diesen Worten starben fast alle 21 Märtyrer, wie das Video der Mörder dokumentiert.

„Einer von uns“ schrieben wir damals etwas großspurig auf den Titel dazu. Für einen wie ihn und seine zwanzig Freunde müssten wir uns allerdings noch ganz schön auf die Hinterbeine stellen. Und so erzählt Martin Mosebach nun selbst von seiner Begegnung mit ihm:
„Der Kopf auf dem Titelblatt ließ mich nicht los. Viele Leser hatten sich darüber empört. Aber ich wollte es bei mir haben – ich schnitt es aus und habe es viele Male lange betrachtet: Es zeigt den Kopf eines jungen Mannes, eines Südländers offensichtlich. Ein magerer Junge mit bräunlicher Haut, und nicht sehr dichtem Schnurrbart, die Augen halb geschlossen; die schmalen Lippen sind leicht geöffnet und lassen ein bisschen von den Zähnen sehen. Das ist kein Lächeln, eher ein Zeichen tiefer Entspannung, in der sich der Mund unwillkürlich öffnet zu einem Atemzug oder einem Seufzer. Wenn sich das Gesicht während der Enthauptung verkrampft haben sollte, wenn Schmerz und Angst darauf sichtbar geworden waren, dann hatten sich diese Zustände unmittelbar nach dem Tod schon wieder verflüchtigt. Das Bild zeigt den Augenblick kurz nach dem Verbrechen, in einem Video, das von den Mördern selbst aufgenommen worden war, um ein Dokument von ihrer Tat zu schaffen und damit in der ganzen Welt Schrecken zu verbreiten. Nur ist das Bild, aus der Folge herausgelöst, zunächst nicht schreckenerregend. Nach der Enthauptung schien es bei ihm noch ein winziges Verweilen von Bewusstsein und Wärme gegeben zu haben, einen Ewigkeitsmoment aus Traum und Schlaf, in dem die Endgültigkeit des soeben Geschehenen vielleicht schon gar nicht mehr wichtig war. Die Zerschneidung der Lebensbahnen in ihrer Grausamkeit hatte schon einen neuen Zustand erzeugt, in dem alles Vergangene zurücktrat. Die ganze Existenz des jungen Mannes war jetzt in seinem Kopf versammelt, sehr bald schon würde sie daraus entwichen sein, aber in der im Bild festgehaltenen Sekunde schien dieses abgeschlossene Leben noch einmal greifbar. Inzwischen kenne ich seinen Namen. Er hieß Kiryollos Boushra Fawzy, geboren am 11. November 1991 in dem oberägyptischen Dorf El-Or in der Diözese Samalout. Und dann schwenkt die Kamera zurück auf das Meer, das leise schwappt wie bei Beginn, aber jetzt ist das Wasser nicht mehr graublau, sondern rot, nachdem hundert Liter Blut hineingelaufen sind. Das Rot verteilt sich nicht so schnell, es bildet eine Wolke in der Bläue, ein rotes Meer ist entstanden. Dies ist nur der Strand von Sirte, aber wir verstehen: So soll das Meer an vielen Stränden aussehen, wenn es nach dem Willen der Henker zugeht. Dass aus Strömen von Blut eine neue Welt und eine neue Gerechtigkeit hervorgehen würden, haben viele politische Gewalttäter der letzten hundert Jahre erhofft, aber nur wenige haben das reine Blutvergießen so gefeiert wie die Männer vom Strand von Wilayat Tarabulus.“

Muss ich danach noch sagen, dass dieses Buch aufregender ist als fast alles, was wir in den letzten Jahrzehnten gelesen haben? Der Namenspatron unseres Kiryollos „war der heilige Cyrill von Alexandrien," lesen wir danach weiter, „der im fünften Jahrhundert auf dem Konzil von Ephesus erheblich Anteil daran hatte, der Mutter Jesu das Prädikat ,Theótokos’, das heißt Gottesmutter, zu erwirken. Aber anders als Cyrill von Alexandrien hat Kiryollos zu Lebzeiten in der Öffentlichkeit Ägyptens nicht die bescheidenste Rolle gespielt. In dem Video vom 15. Februar 2015, das seine Hinrichtung und die seiner zwanzig Gefährten zeigt, habe ich ihn dann lebendig gesehen. Er kniet in aufrechter Haltung vor seinem Henker. Er wirkt gelassen; sein Blick scheint in einer eigentümlichen Unbeteiligtheit auf den vor ihm liegenden Strand gerichtet, als wolle er ihn in allen Einzelheiten noch einmal in sich aufnehmen.

Die Geschichte des Christentums verzeichnet viele Enthauptungen. Der abgeschlagene Kopf Johannes’ des Täufers, des Vorläufers Jesu, erscheint auf vielen alten Gemälden und Mosaiken, die ein Gegenstand der Kunstbetrachtung geworden sind. Der Täufer wurde noch vor der Kreuzigung Jesu enthauptet; sein Kopf fiel durch die Laune einer erzürnten Königin. Ihm folgte der Apostel Paulus, der seine Enthauptung als Privileg eines römischen Bürgers fordern durfte. Danach sind viele Köpfe für den Glauben an Jesus Christus abgeschlagen worden, auch in Ländern der Christenheit – man denke nur an Thomas Morus in England unter König Heinrich VIII. oder an den von der russischen Orthodoxie heiliggesprochenen Alexander Schmorell als Mitglied der Weißen Rose im Zweiten Weltkrieg. – Und doch sind diese Gestalten sehr weit von uns weggerückt, sie gehören zu einer anderen, uns kaum mehr verständlichen Zeit. Die grausame Art ihres Todes und die Festigkeit, ja Sturheit im Bekenntnis ihres Glaubens scheinen einander zu entsprechen und sind uns gleichermaßen unheimlich. Hat die westliche Welt mit ihrer Bereitschaft zu Diskussion und Dialog solche lebensfeindlichen Gegensätze nicht längst überwunden? Wir leben in einer Zeit strikter Privatisierung der Religion und wollen sie der säkularen Gesetzlichkeit unterworfen sehen. Es gibt einen gesellschaftlichen Konsensus der Ablehnung von Missionierung und Glaubenseifer. Hat all das den erbarmungslosen Alternativen von Glauben und Tod, Verrat des Glaubens und Leben nicht ein Ende bereitet? Aber das Photo des abgeschnittenen Kopfes von Kiryollos und das Video, das die abgeschnittenen Köpfe seiner Gefährten zeigt, sind erst wenige Jahr alt. Sollte er ein Zeichen dafür sein, dass unsere Vorstellung von historischer Entwicklung eine Täuschung war? Dass Martyrium und Christentum in jeder Epoche der Geschichte zusammengehören und dass es Märtyrer so lange geben wird, wie es Christen gibt? Kiryollos war der erste der Getöteten, der für mich aus der Anonymität heraustrat.“

Was fasziniert den Frankfurter Autor aber selbst an den Märtyrern, wird der Fremde am Nil an einer Stelle von einem Ägypter gefragt und gibt danach einen erschütternden Einblick in seine Seele frei: „Hätten wir uns länger gekannt, hätte ich vielleicht gewagt, ihm zu gestehen, was mich da wirklich fesselte: die Möglichkeit, ein Leben voller Fehler und Peinlichkeiten, Halbheit und Unaufrichtigkeit in einem einzigen Moment zu einem guten zu machen – und zwar durch ein Bekenntnis, das man vorher oft verraten hatte und, lebte man weiter, wieder verriete, das aber durch den Tod zum letzten und einzig wichtigen wurde. Alles, was man gewesen war, schmolz in diesem letzten Punkt zusammen, der gegenüber der Vergangenheit dann allein zählte. Viele Jahre verfehltes Leben erhielten durch das Martyrium jenes positive Vorzeichen, das alles in Heiligkeit verwandelte. Schwieg ich, um die Schlauheit, die in diesem Kalkül lag, nicht auszuplaudern?“

„Aber wenn immer noch zutreffen sollte," sagt er an anderer Stelle, „was man in der jungen Kirche Nordafrikas sagte – ,Die Martyrer sind der Samen des Christentums’ – , dann gehören die 21 vielleicht doch nicht zu den letzten, sondern immer noch zu den ersten Christen.“

Ähnlich gewiss ist Martin Mosebach mit diesem Buch ein deutscher Nobelpreiskandidat geworden. Kein Mörder wird den Geist, den er hier über die uralte Kirche der Kopten für die ganze Welt und Christenheit freisetzt, jemals wieder in die Flasche zurückbekommen.

Es ist kein flammendes Manifest gegen die Mörder, sondern ein ansteckendes Zeugnis für die Heiligen und für Christus, für den sie gestorben sind. Wenn es mit rechten Dingen zugehen würde, müssten „Die 21“ die Welt des Westens erschüttern wie ein Meteor, der vom Himmel her in die Erde einschlägt. Doch wie wir wissen, geht es in diesen Dingen zwischen Himmel und Erde nur selten mit rechten Dingen zu.

Dennoch ist und bleibt dieses Buch eine Offenbarung, wo dem offenen Mund des Kyriollos und den Händen Mosebachs nicht weniger als die Auferstehung der koptischen Kirche im Bewusstsein der ganzen Welt entströmt, als ein Mirakel, das noch viele in der Welt erfreuen – und die Kirche und unseren Blick auf die Mitchristen nachhaltig verändern wird. Es ist unfassbar. Dieses Buch bestärkt und beglückt, Christen wie Nichtchristen, als würden die ägyptischen Märtyrer vom Strand von Wilayat Tarabulus das Glück ihrer Begegnung mit Gott hier mit den Lesern teilen wollen. 

Kurzum, es gibt viele wunderbare Bücher. „Die 21“ von Martin Mosebach aber sind ein wahres Buchwunder vor unseren Augen.

Martin Mosebach, „Die 21: Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer“ erscheint am 20. Februar 2018 bei Rowohlt und hat 272 Seiten.

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Vatican Magazin. Erstveröffentlichung am 15. Februar 2018.

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