Der am 11. November veröffentlichte "McCarrick-Report" sorgte weltweit für Aufsehen. In Polen, der Heimat des heiligen Papstes Johannes Paul II. wurde die Frage gestellt, wie er "McCarrick, der ihn in einem Brief vom 6. August 2000 über seinen aktiv homosexuellen Lebenswandel anlog, nur glauben und ihn zum Kardinal machen" konnte. Der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Stanislaw Gadecki, gab seine Antwort dazu: Johannes Paul II. sei von McCarrick "getäuscht" worden.

Kritische Leser des McCarrick-Reports mögen dessen Autoren im Staatssekretariat vorwerfen, Papst Franziskus und andere Beschuldigte "reinwaschen" zu wollen – ein Vorwurf, der verhindert hätte werden können, wenn der Vatikan eben nicht seine eigene Überprüfung geschrieben hätte.

Dass Täuschungen und Lügen, begangen von Priestern, sogar Bischöfen und Kardinälen, für die meisten Glieder der heiligen Mutter Kirche unvorstellbar waren, davon ist der Schreiber dieser Zeilen überzeugt.

Es kann und darf nicht sein, dass Priester – von Gott berufen und mit heiligen Weihen ausgestattet, damit sie an jedem Tag Sein heiliges Opfer auf dem Altar darbringen –  täuschen, lügen und ja, das wissen wir heute, noch viel schlimmere Taten und Verbrechen begehen.

Transparenz durch unabhängige Prüfung und Berichterstattung über ihren Umgang mit Missbrauch und Vertuschung zu gewinnen: Darum bemühen sich mehrere deutsche Bistümer derzeit. 

Im Jahr 2014 hat Doris Wagner (jetzt Reisinger) ihr Buch "Nicht mehr ich" veröffentlicht. Bald darauf erschien mit "Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche" ihr zweites Buch zu dem Thema Missbrauch. Insbesondere berichtete sie von "missbräuchlicher Abhängigkeit" in einer geistlichen Gemeinschaft, der sie selbst angehörte.

Unabhängig von der Frage, wie damit umzugehen ist, und welche Vorwürfe hier redlich im Raum stehen: Die hohe Resonanz bestätigt, wie sensibilisiert die Öffentlichkeit wie die Kirche mittlerweile für die Thematik ist. Das hat auch eine Tagung der Bischofskonferenz gezeigt, bei der Vorwürfe gegen eine weitere Gemeinschaft angesprochen wurden – ebenso wie der prominente Fall der  nun aufgelösten "Integrierten Gemeinde". 

Eine Archivdokumentation

Der Pallottinerpater Josef Kentenich gründete zwischen den beiden Weltkriegen die heute weltweit verbreitete und verzweigte Schönstattbewegung. Zu ihr gehört auch das "Säkularinstitut der Frauen von Schönstatt", die "Schönstätter Marienschwestern". Ihnen war Pater Kentenich Oberer und vor allem selbsternannter "Vater". Als solcher kümmerte er sich um die Formung dieser geistlichen Frauen, seiner "Kinder". Dazu gehörte für ihn allerdings scheinbar mehr als die sakramentale Beichte und das geistliche Gespräch.

Die Erkenntnisse, welche die Historikerin Dr. Alexandra von Teuffenbach bei ihren Studien in den Vatikanarchiven über den Priester Josef Kentenich gewonnen hat, sind erschütternd und ernüchternd. Sie waren für sie so entsetzlich, dass sie vor einigen Wochen öffentlich davon berichtet hat. Daraufhin wurde sie in Kommentaren heftig angegriffen. Auch das Generalpräsidium des Schönstattwerkes distanzierte sich von ihren Aussagen und verbreitete, die Autorin würde Informationen ans Licht zerren, die längst geklärt seien. Hier muss man wissen, dass das Schönstattwerk ihren Gründer in das Buch der Heiligen eintragen lassen möchte und dazu in Rom einen Seligsprechungsprozess angestrengt hat.

Inzwischen hat Teuffenbach in Buchform eine Archivdokumentation vorgelegt, in der es zwar auch um Kentenich geht, insbesondere aber um "Sr. M. Georgina Wagner und andere missbrauchte Schönstätter Marienschwestern". Der Titel des Buches lautet: "Vater darf das!"

Dieser Titel beruft sich auf handschriftliche Aufzeichnungen des Pallottinerpaters Ferdinand Schmidt aus dem Jahr 1975. Er war Beichtvater der Schwestern und somit an das Beichtgeheimnis gebunden. Von dem, was außerhalb des Beichtstuhls gesprochen wurde, notierte er: "Sie beichteten auf seinem [Kentenichs] Zimmer, sich neben dem Stuhl kniend, auf dem er saß. Dabei zog er einmal eine Schwester näher an sich, die sagte 'Vater, ist das nicht gegen die Unberührtheit?'. Er erwiderte 'Mein Kind, Vater darf das alles tun!'"

Wer und was "der Vater" für die Schwestern zu sein hat, erfährt man in einem Brief einer Schwester, die aus einem Vortrag von P. Kentenich berichtet. "In einem Vortrag sagte er etwa so: Der Vater (damit meinte er sich selber) hat dem Kind weh getan. Das Herz hat geblutet. Aber der 'Vater' darf das tun. Der 'Vater' ist alles. Das Kind ist nichts. Der 'Vater' ist der liebe Gott fürs Kind. Der 'Vater' weiß alles. Der 'Vater' darf und muss alles wissen. Wehe, wenn Sie dem 'Vater' etwas verschweigen. Von der Himmelstür schicke ich Sie zurück." 

Die Stärke dieser Dokumentationssammlung ist es - dadurch unterscheidet sich dieses Buch von jenen von Wagner –, dass viele Personen zu Wort kommen und Aussagen machen können.

Sünde – Missbrauch

Diese wenigen Notizen deuten auf die subtilen Formen hin, mit denen Kentenich die Schwestern beeinflusste und unter Druck setzte. Hier haben wir es mit einer Form des Umgangs mit Untergebenen und Schutzbefohlenen zu tun, was man heute landläufig auch als "Mobbing" oder Manipulation bezeichnen mag: Menschen werden wiederholt und regelmäßig seelisch schikaniert, gequält und verletzt. Es ist mindestens eine Vorstufe dessen, was man dann "geistigen" oder "spirituellen" Missbrauch nennt.

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Solche Formen der Machtausübung begegnen uns heute in allen gesellschaftlichen Bereichen. Dies zu betonen ist wichtig, damit sie nicht zum Alleinstellungsmerkmal der Kirchenkrise hochstilisiert werden. Erscheinungsformen des Missbrauchs sind etwa Gewalt gegen Schutzbefohlene, insbesondere gegen Kinder. Missbrauch meint auch jene Ausübung von körperlicher Gewalt, die durch verbotene sexuelle Handlungen durch Priester begangen wurde und begangen wird. Hinzu kommt noch jene Form von Missbrauch, der im Zusammenhang einer Unterordnung und Abhängigkeit anzusiedeln ist. 

Freilich war zu Zeiten Kentenichs der Begriff "Missbrauch" in der Kirche nicht gebräuchlich. Man sprach von "Sünde", die öffentlich nicht näher bezeichnet wurde. Heutzutage gibt es keine Geheimnisse mehr. Alles kommt ans Licht. Dass dabei auch falsche Verdächtigungen vorkommen können, steht außer Frage. Allerdings haben wir gelernt, dass sehr häufig, insbesondere wenn es dafür dokumentierte Beweise gibt, kein Weg an den Tatsachen vorbeiführt.

Konsequenzen?

Die Kirche spricht heute oft von "Aufarbeitung". Fast wöchentlich berichten Medien von unsäglichen Taten, die von katholischen Priestern und sogar hohen Würdenträgern begangen wurden und begangen werden. 

Der "Fall McCarrick" ist in aller Munde. Ein Bischof und Kardinal hat sich über Jahrzehnte hinweg an jungen Männern vergriffen. Es gibt dazu Dokumente und Zeugenaussagen. Doch noch mehr gibt es dazu "Unterschätzungen, Schweigen und Komplizenschaften, die zur Diskreditierung der Kirche beigetragen haben" (Armin Schwibach). 

Am 12. November wurde das Gutachten "Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker im Bereich des Bistums Aachen im Zeitraum 1965 bis 2019" veröffentlicht – CNA Deutsch berichtete.

Bereits im Vorfeld dieser Veröffentlichung sagte der ehemalige Bischof von Aachen Dr. Heinrich Mussinghoff gegenüber "Kirche+Leben" entschuldigend: "Ich fühlte mich überfordert – vor allem mit Opfergesprächen." Und weiter: "Ich hätte mir nicht zugetraut, sachgemäß mit ihnen zu sprechen. Ich würde das auch keinem Bischof raten." Die Nachrichtenagentur KNA vom 11. November schreibt: "Bei einem direkten Austausch mit Kindern oder Jugendlichen aber hätte er die Sorge gehabt, den rechten Ton zu treffen. Solche Opfergespräche hätten ihn überfordert." 

Solche Aussagen eines Bischofs kann man aus heutiger Sicht nicht gelten lassen. "Betroffenheit" allein hilft niemandem weiter. Auch die knappe Aussage von Papst Franziskus zum "McCarrick-Report" – "Ich erneuere meine Nähe zu den Opfern sexuellen Missbrauchs" – ist für viele völlig unzureichend, nicht nur für Opfer und Angehörige. 

Bischof Helmut Dieser von Aachen fordert nun für sein Bistum einen "grundlegenden Perspektivwechsel", ja einen "Kulturwandel". Der gutachterlichen Beurteilung waren 175 Fälle "einschlägiger Übergriffe" zugrunde gelegt worden. Dem Bischof ist klar, dass die Dunkelziffer dieser Straftaten höher sein wird und "reduziert" werden müsse, was bedeutet, dass die Aufdeckung und Aufklärungsquoten erhöht werden sollen. Denn jetzt müssten die "schwer verletzten Biographien der Betroffenen" ins Auge gefasst werden. Alles jedoch müsse damit beginnen, dass die "vielfältigen Formen von Klerikalismus" erkannt und überwunden würden. 

Zwar wird nicht weiter beschrieben, was unter "Klerikalismus" zu verstehen ist. Doch jetzt sei die Zeit dafür, dass  "alles ans Licht kommen" müsse. "Wir wollen Betroffene bestmöglich unterstützen, dafür brauchen wir Ihre Rückmeldung!" Die Bistumsleitung erwartet, dass sich Betroffene, Zeugen oder Mitwisser melden. Ob die Verantwortlichen wissen, dass solch eine Aufforderung auch jene herausfordert, die andere Menschen denunzieren möchten? 

Verantwortungsträger im Sinne des gutachterlichen Berichtes sind die Bischöfe und Generalvikare. Jetzt möchte man sich "nicht mehr den Priestern enger verbunden fühlen als den Betroffenen".  Betroffene sind, das haben die Gutachter bescheinigt, überwiegend  Personen männlichen Geschlechts, also Jungen und junge Männer. Demnach handelt es sich, das wird von Verantwortungsträgern oft peinlich verschwiegen, in der überwiegenden Mehrzahl des hier bezeugten Missbrauchs um homosexuelle Übergriffe und Verbrechen.

Die Kirche Christi weiß, dass sie als "ecclesia semper reformanda" zwar immer heilig, aber gleichzeitig auch der Erneuerung bedürftig ist. Doch wissen dies auch alle Verantwortungsträger? 

Und die vorstehenden Beschreibungen sollen nicht übersehen lassen, dass es nicht nur Opfer und Verbrecher gibt. Auf beiden Seiten geht es um Menschen, und zwar um Menschen der Kirche Gottes.

Darum ist es notwendig, dass jeder zuerst auf sich selbst blicken sollte, bevor er ein Urteil abgibt. Gefährdet sind wir alle. Wir alle können durch bestimmte Umstände in Gefahr geraten, mehr und intensiver als andere zu sündigen. Darum stellt sich unbedingt die Frage nach der eigenen Schuld, nach unserem persönlichen Verhalten gegenüber anderen Menschen; auch gegenüber Untergebenen, Schutzbefohlenen, sogar Vorgesetzten.

Wir Katholiken sollen die Sünde hassen, aber den Sünder lieben. Hier haben die meisten Menschen, noch viel mehr die Christen, stets Nachholbedarf. Täglich müssen wir uns bemühen, zu verzeihen; allen Menschen. Auch wenn dies manchmal über unsere menschlichen Kräfte zu gehen scheint. 

Resümee

Die Archivdokumentation "Vater darf das!" ist kein Erbauungsbuch. Die Autorin Dr. Alexandra von Teuffenbach weist in ihrer Buchwidmung auf ein kleines Wunder hin. Und dieses kleine Wunder möge den Lesern, und womöglich den Opfern und Tätern, auch von anderen Verbrechen, einen Weg aufzeigen, der zur Umkehr, zur Vergebung und zu einem fruchtbaren Leben führt.

"Dass sie dabei ihren Glauben an Gott und an die eigene Berufung nicht aufgegeben haben, dass sie trotz aller zum Teil unüberwindbar erscheinenden Hindernisse nicht in Hoffnungslosigkeit resigniert haben, und vor allem, dass ihr Leben am Ende ein Zeugnis der Liebe […] hinterlassen hat, erfüllt mich mit großer Bewunderung und Hochachtung."

Wer behauptet, dass ein "Vater das darf" – und sich dabei als "Vater" an Gottes Stelle setzt – überschätzt sich maßlos und missbraucht jene, die er als seine Kinder ansieht. Ebenso, wie ein guter Vater den hungrigen Kindern keine Steine zum Essen gibt (vgl. Lk 11,10), so missbraucht und demütigt er auch nicht seine Schutzbefohlenen. Denn natürlich darf ein Vater so etwas nicht. 

Was also können wir tun? Beten, die Sakramente empfangen, vertrauen und hoffen auf Gottes unendliche Barmherzigkeit. Aber auch offenlegen, Recht anwenden, und für die Zukunft vorbeugen.

 

Alexandra von Teuffenbach, "Vater darf das!" - Eine Archivdokumentation. Sr. M. Georgina Wagner und andere missbrauchte Schönstätter Marienschwestern" ist im Bautz-Verlag erschienen und hat 252 Seiten. 

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