09 April, 2022 / 7:00 AM
Ehe die Enzyklika „Lumen fidei“ in den Blickpunkt rückt, das Lehrschreiben, das die Kontinuität der Pontifikate von Benedikt XVI. und Franziskus auf besondere Weise bezeugt, erfolgt ein vorläufig letzter Ausblick auf „Caritas in veritate“.
Benedikt XVI. denkt über die Entwicklung des Menschen und der Völker nach. Er kann dies nicht tun, ohne die Dimensionen des christlichen Menschenbildes darzulegen. Damit korrigiert er auch ein virulentes falsches Verständnis von Autonomie. Er schreibt: „Wir können über andere Menschen und auch über uns selbst nicht verfügen. Die Entwicklung des Menschen verkommt, wenn er sich anmaßt, sein eigener und einziger Hervorbringer zu sein.“ Der Mensch müsse die „Grundnormen des natürlichen Sittengesetzes erkennen, das Gott ihm ins Herz geschrieben hat“.
Dazu gehöre, auch den „Bund zwischen Mensch und Umwelt zu stärken, der Spiegel der schöpferischen Liebe Gottes sein soll“. Benedikt mahnt, die Grenzen der Technik anzuerkennen: „Da sie aus der menschlichen Kreativität als dem Werkzeug der Freiheit der Person hervorgegangen ist, kann die Technik als Element absoluter Freiheit verstanden werden, jener Freiheit, die von den Grenzen absehen will, die die Dinge in sich tragen.“
Die „technizistische Mentalität“ habe sich ausgebreitet: „Wenn aber die Effizienz und der Nutzen das einzige Kriterium der Wahrheit sind, wird automatisch die Entwicklung geleugnet. Denn die echte Entwicklung besteht nicht in erster Linie im Tun. Schlüssel der Entwicklung ist ein Verstand, der in der Lage ist, die Technik zu durchdenken und den zutiefst menschlichen Sinn des Tuns des Menschen im Sinnhorizont der in der Gesamtheit ihres Seins genommenen Person zu erfassen. Auch wenn der Mensch durch einen Satelliten oder einen ferngesteuerten elektronischen Impuls tätig ist, bleibt sein Tun immer menschlich, Ausdruck verantwortlicher Freiheit. Die Technik wirkt auf den Menschen sehr anziehend, weil sie ihn den physischen Beschränkungen entreißt und seinen Horizont erweitert. Aber die menschliche Freiheit ist nur dann im eigentlichen Sinn sie selbst, wenn sie auf den Zauber der Technik mit Entscheidungen antwortet, die Frucht moralischer Verantwortung sind. Daraus ergibt sich die Dringlichkeit einer Erziehung zur sittlichen Verantwortung im Umgang mit der Technik.“
Der „wahre Sinn der Freiheit“ liege ab er nicht in der „Trunkenheit einer totalen Autonomie“, sondern in der Besinnung darauf, Geschöpf Gottes zu sein. In der Bioethik stehe die „ganzheitliche menschliche Entwicklung“ auf dem Spiel, ein Bereich, „in dem mit dramatischer Kraft die fundamentale Frage auftaucht, ob sich der Mensch selbst hervorgebracht hat oder ob er von Gott abhängt“: „In der heutigen Kultur der totalen Ernüchterung, die glaubt, alle Geheimnisse aufgedeckt zu haben, weil man bereits an die Wurzel des Lebens gelangt ist, kommt es zur Entwicklung und Förderung von In-vitro-Fertilisation, Embryonenforschung, Möglichkeiten des Klonens und der Hybridisierung des Menschen. Hier findet der Absolutheitsanspruch der Technik seinen massivsten Ausdruck. In dieser Art von Kultur ist das Gewissen nur dazu berufen, eine rein technische Möglichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Man kann jedoch nicht die beunruhigenden Szenarien für die Zukunft des Menschen und die neuen mächtigen Instrumente, die der »Kultur des Todes« zur Verfügung stehen, bagatellisieren. Zur verbreiteten tragischen Plage der Abtreibung könnte in Zukunft – aber insgeheim bereits jetzt schon in nuce vorhanden – eine systematische eugenische Geburtenplanung hinzukommen. Auf der entgegengesetzten Seite wird einer mens euthanasica der Weg bereitet, einem nicht weniger mißbräuchlichen Ausdruck der Herrschaft über das Leben, das unter bestimmten Bedingungen als nicht mehr lebenswert betrachtet wird. Hinter diesen Szenarien stehen kulturelle Auffassungen, welche die menschliche Würde leugnen.“
An das, was Benedikt XVI. hier darlegt, kann und muss auch gerade heute in Deutschland nachdrücklich erinnert werden. Die Wahrheit des Glaubens könnte verkündet werden: „Gott enthüllt dem Menschen den Menschen; die Vernunft und der Glaube arbeiten zusammen, ihm das Gute zu zeigen, wenn er es nur sehen wollte; das Naturrecht, in dem die schöpferische Vernunft aufscheint, zeigt die Größe des Menschen auf, aber auch sein Elend, wenn er den Ruf der moralischen Wahrheit nicht annimmt.“
Auf dem „Synodalen Weg“ scheinen diese Themen in Deutschland gänzlich vergessen zu sein. Benedikt ruft die schöpferische Liebe Gottes ins Gedächtnis und schreibt: „Der Mensch entwickelt sich, wenn er im Geist wächst, wenn seine Seele sich selbst und die Wahrheiten erkennt, die Gott ihr keimhaft eingeprägt hat, wenn er mit sich selbst und mit seinem Schöpfer redet. Fern von Gott ist der Mensch unstet und krank.“
Die Gottesfrage wird in der Kirche dieser Zeit – zumindest in der Kirchenprovinz Deutschland – oft als randständig oder unerheblich behandelt und mitunter gar nicht mehr gestellt. Dabei sind auch so viele Suchende immer noch sehnsüchtig nach Gott. Sie möchten glauben, hoffen und lieben. Wir alle wünschen uns doch das Brot des Lebens und nicht die Steine aus dem Gemischtwarenladen der postmodernen Lebenswirklichkeit. Benedikt XVI. schreibt darum: „Ohne Gott weiß der Mensch nicht, wohin er gehen soll, und vermag nicht einmal zu begreifen, wer er ist. … Die Verfügbarkeit gegenüber Gott öffnet uns zur Verfügbarkeit gegenüber den Brüdern und gegenüber einem Leben, das als solidarische und frohe Aufgabe verstanden wird. Umgekehrt stellen die ideologische Verschlossenheit gegenüber Gott und der Atheismus der Gleichgültigkeit, die den Schöpfer vergessen und Gefahr laufen, auch die menschlichen Werte zu vergessen, heute die größten Hindernisse für die Entwicklung dar. Der Humanismus, der Gott ausschließt, ist ein unmenschlicher Humanismus. Nur ein für das Absolute offener Humanismus kann uns bei der Förderung und Verwirklichung von sozialen und zivilen Lebensformen – im Bereich der Strukturen, der Einrichtungen, der Kultur, des Ethos – leiten, indem er uns vor der Gefahr bewahrt, zu Gefangenen von Moden des Augenblicks zu werden.“
Nur in einer „von Wahrheit erfüllten Liebe“ geht „echte Entwicklung“ aus, die „nicht unser Werk“ sei, sondern uns geschenkt werde. Sind wir aber als unwürdige Mägde und Diener des Herrn, uns neu zu Christus zu bekehren, in Glaube, Hoffnung und Liebe zu wachsen und dieses Geschenk der „echten Entwicklung“ zu empfangen?
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