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Um eine Philosophie des Guten: 35. Das Faktum der Vernunft

Immanuel Kant (Gemälde von Johann Gottlieb Becker)

Bei Kant finden wir folgende Aussagen über das Faktum der Vernunft:

„Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der auf keiner, weder reinen noch empirischen Anschauung gegründet ist, ob er gleich analytisch sein würde, wenn man die Freiheit des Willens voraussetzte, wozu aber, als positivem Begriffe, eine intellektuelle Anschauung erfordert werden würde, die man hier gar nicht annehmen darf. Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als gegeben anzusehen, wohl bemerken: daß es kein empirisches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (sic volo, sic jubeo,) ankündigt.“ (KpV V 31)

„Auch ist das moralische Gesetz gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind, und welches apodiktisch gewiß ist, gegeben“ (KpV V 47).

Im Vergleich dieser beiden Zitate fällt auf, dass Kant das eine Mal das Bewusstsein des moralischen Gesetzes, das andere Mal das moralische Gesetz selbst als ein „Faktum der Vernunft“ bezeichnet. Das eröffnet beiden konkurrierenden Deutungen des Faktums die Möglichkeit, sich auf Kant zu berufen. Der nonkognitivistischen Deutung kommt die Formel des „Bewusstseins des Gesetzes“ entgegen, zumal das Faktum hier als ein „synthetischer Satz a priori“ bezeichnet wird, der sich seinerseits auf keine Anschauung gründet. Synthesis ist bei Kant eine Handlung unseres Erkenntnisvermögens, ein Fall der „Spontaneität unseres Denkens“. Durch dieses Faktum, so Kant weiter, kündigt sich die reine Vernunft als gesetzgebend an. Das stützt die Interpretation Willascheks, gemäß welcher das Faktum der Vernunft ein Produkt der Spontaneität der Vernunft ist, nämlich ihrer Gesetzgebung.

Dem steht die kognitivistische Deutung gegenüber, zu deren exponiertesten Vertretern Dieter Henrich gehört. Er deutet das Faktum nicht wie Willaschek als Tat, sondern ausdrücklich als „‚Tatsache‘ der Vernunft“ (Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, 249), und als solche ist sie „Gegenstand der sittlichen Einsicht“ (ebd.). Das Faktum der Vernunft besteht für ihn im Anspruch des Guten bzw. in der Verbindlichkeit dieses Anspruchs, die „nur in der sittlichen Einsicht gegenwärtig“ (247) ist. „Sittliche Einsicht“ ist ein anderer Name für die „intellektuelle Anschauung“, von der Fichte spricht (vgl. letzte Folge). Allerdings: Während Fichte mit diesem – von Kant abgelehnten – Ausdruck eine Korrektur Kants anzeigen will, glaubt Henrich, die Intention Kants wiederzugeben: Die kantische Moralphilosophie habe von der rationalen Ethik „die Lehre vom Erkenntnischarakter der sittlichen Einsicht übernommen“ (234).

Um den Widerspruch zwischen diesen beiden Deutungen aufzulösen, ist ein Blick auf die „Folgerung“ hilfreich, die Kant der erstgenannten Aussage anfügt: „Reine Vernunft ist für sich allein praktisch und gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen“ (KpV V 31). Hier fällt auf, dass es einen Geber und einen Empfänger des Sittengesetzes gibt. Der Geber ist die reine Vernunft, der Empfänger der Mensch. „Reine Vernunft“ bedeutet bei Kant eine Vernunft, die unabhängig von der Empirie ist. Das bedeutet zunächst einmal, dass sie erfahrungsunabhängig erkennt, sie ist „das Vermögen, überhaupt a priori etwas zu erkennen“ (Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik AA 20). Das gilt für die theoretische Vernunft. Das Geschäft der praktischen Vernunft dagegen ist nicht das Erkennen, sondern die Bestimmung des Willens. Die reine praktische Vernunft bestimmt den Willen, ohne auf empirische, also sinnliche Beweggründe zurückzugreifen. Aber wie ist der Gedanke, dass die praktische Vernunft den Willen bestimmt, vereinbar mit der Idee der Selbstbestimmung des Willens? Er ist es, wenn man die reine praktische Vernunft mit dem reinen Willen identifiziert. Genau dies tut Kant. Der reine Wille ist nichts anderes als die für sich selbst praktisch werdende Vernunft. Die Differenz zwischen beiden tritt erst auf, wenn der Wille nicht mehr rein ist, d. h. wenn er sich vom Gesetz der Natur, d. h. von sinnlichen Neigungen, bestimmen lässt. Von der Vernunft wird der Wille dann bestimmt, wenn er sich von ihr das Gesetz geben lässt, d. h., von sich selbst. Aber ein Gesetz ist in jedem Falle (d. h. sowohl im Falle der Selbstbestimmung als auch in dem der Fremdbestimmung) notwendig. Warum? Wille ist für Kant eine Art von Kausalität: „Der Wille ist eine Art von Causalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Causalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann: so wie Naturnothwendigkeit die Eigenschaft der Causalität aller vernunftlosen Wesen, durch den Einfluß fremder Ursachen zur Thätigkeit bestimmt zu werden.“ (GMS IV, 446). Die Vernunft, als praktische, erzeugt Handlungen (das Wort „erzeugen“ in diesem Zusammenhang benutzt Kant in KrV B 578). Kausalität aber impliziert immer eine strenge Regel, also ein Gesetz, gemäß welchem auf die Ursache die Wirkung folgt. Denn Kant ist überzeugt, dass der Begriff der Ursache „den Begriff einer Notwendigkeit der Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der Regel“ enthält (KrV B 5). Was macht in diesem Punkt den Unterschied zwischen Natur- und Sittengesetz aus? Das Naturgesetz regelt die Verknüpfung mit Wirkungen, die geschehen, das Sittengesetz mit Wirkungen, die geschehen sollen. Es ist also das Sittengesetz, kraft dessen die Vernunft fähig wird, praktisch zu werden, und zwar für sich selbst, d. h. ohne auf sinnliche Antriebe angewiesen zu sein. Darin besteht ihre Autonomie, ihre Selbstgesetzlichkeit. Kraft seiner Vernunft ist der Mensch imstande, sich von seinen sinnlichen Antrieben zu emanzipieren. Diese wirken nach Art der Naturkausalität. Die Naturgesetze regeln, was geschieht. Der Mensch aber handelt nicht nach Gesetzen, sondern nach der Vorstellung von Gesetzen. Das Sittengesetz wirkt nicht mechanisch wie ein Naturgesetz, sondern so, dass der Mensch es erkennt (sich vorstellt), und sich kraft dieser Erkenntnis zum Handeln bestimmt: „Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen“ (GMS IV, 427).

Der einzelne Mensch ist also tatsächlich der Empfänger des Sittengesetzes. Er muss es erkennen, um zu wissen, wie er handeln soll. Das entspricht unserer alltäglichen Erfahrung. Es gibt immer wieder Situationen, in denen wir nicht von vorneherein wissen, wie wir handeln sollen. Noch weniger erfahren wir uns als solche, die einfach souverän entscheiden könnten, was hier und jetzt das moralisch Richtige ist. Der Einzelne kann nicht von sich aus bestimmen, was seine Pflicht ist, sondern muss es herausfinden. Er ist nicht der Erfinder des Sittengesetzes, sondern sein Adressat. Wenn Kant also behauptet, dass die Vernunft „mit völliger Spontaneität“ bestimme, was zu tun sei, dann meint er damit gerade nicht das kontingente Vernunftvermögen des Einzelnen.

Je nach Situation kann die Erkenntnis dessen, was das Sittengesetz von uns verlangt, schwer oder leicht fallen. In einer komplexen Situation bedarf es gereifter Urteilskraft, um das Sittengesetz auf sie anzuwenden. Doch je einfacher die Situation ist, umso klarer spricht das Sittengesetz. Je mehr wir ins Prinzipielle zurücksteigen, um so gewisser wird der moralische Imperativ. Und dass ich überhaupt moralisch handeln soll, ist mir unzweifelhaft gewiss. In diesem obersten moralischen Prinzip besteht das Faktum der Vernunft. Es „ist unleugbar“ (KpV V 32), „apodiktisch gewiss“ (KpV V 47). Dies entspricht exakt der Synderesis der Scholastiker.

Die Synderesis, das Faktum der Vernunft, ist das, was mich zu einem moralischen Wesen macht. Otfried Höffe hat es schön ausgedrückt: Das Faktum der Vernunft ist „etwas, worin sich der Mensch als moralisches Subjekt konstituiert und zugleich wiedererkennt“ (In der Reihe „Klassiker auslegen“: Kritik der praktischen Vernunft, Einführung, 15). Diese Doppelung der Funktion des Faktums als Selbstkonstitution und Erkenntnis erlaubt es ihm, beide oben genannten Deutungen zu vereinen: Indem der Mensch kraft des Faktums der Vernunft seine Moralfähigkeit aktualisiert, geschieht ein zweifaches: „eine intelligible Tat, die zugleich eine Tatsache (matter of fact) ist“ (16).

Das Sittengesetz ist mit dem Bewusstsein des Sittengesetzes untrennbar verbunden. Das Gewusstwerden des moralischen Imperativs ist diesem Imperativ nicht akzidentell. Ein unbewusster Imperativ ist nicht denkbar. Er existiert ja nicht als ein Stück der Natur irgendwo „da draußen“. Und trotzdem ist er ein Faktum, das dem einzelnen Menschen so vorgegeben ist, dass er den moralischen Anruf erfährt, ob er will oder nicht. Er kann sein Gewissen nicht abschütteln.

Doch wie kann aus einem Faktum ein Sollen folgen? Wenn Kant das Sittengesetz in einem unleugbaren Faktum verankert, begeht er dann nicht den naturalistischen Fehlschluss? Auch solche Vorwürfe gibt es. Dem wollen wir in der nächsten Folge nachgehen.

Die bisherigen Folgen im Überblick:

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