Eine der wichtigsten Weiterentwicklungen, die die Wertethik durch Dietrich von Hildebrand gegenüber der Position Max Schelers erfahren hat, besteht in der Unterscheidung der drei Bedeutsamkeitskategorien des in sich Bedeutsamen, des objektiven Guts für die Person und des subjektiv Befriedigenden (siehe Folge 10). Nur für die erste dieser Kategorien reservierte von Hildebrand den Begriff des Wertes. Bei Aristoteles finden wir eine Dreiteilung, die dieser Unterscheidung in etwa entspricht: “Es gibt drei Dinge, die wir erstreben, und drei, die wir meiden: das Werthafte, das Nützliche und das Angenehme, und als deren Gegenteil das Schändliche, das Schädliche und das Unangenehme” (EN 1104b 31-33, in der Übersetzung von Gernot Krapinger bei Reclam 2020). Das “Werthafte” ist die Übersetzung des kalón, das wir schon kennengelernt haben, das Angenehme die Übersetzung von hedys, wovon das Wort Hedonismus stammt. Der zweiten und dritten Kategorie ist gemeinsam, dass sie einen bloß relationalen Begriff des Guten etablieren: “gut für mich”. “Gut für mich” und “Wert” stehen für den Zieldualismus, wie ich ihn in der ersten Folge beschrieben habe.

Die Dreiteilung des Aristoteles wird für ihn wichtig in seiner Lehre über die Freundschaft, die Thomas von Aquin wiederum aufnimmt in seinen Ausführungen über die theologische Tugend der Gottesliebe. Spätestens hier ist Thomas zu einer Unterscheidung gezwungen, die seinen eudämonistischen Ansatz übersteigt: Wir lieben Gott um seiner selbst willen, und nicht aufgrund des Nutzens, den wir von ihm haben, oder des Glücks, das er uns schenkt. In der Summa theologiae (II II q 23, a 6) sagt Thomas, dass die Liebe vorzüglicher (excellentior) sei als die beiden anderen theologischen Tugenden der Hoffnung und des Glaubens, weil sie Gott mehr erreiche (“magis Deum attingit”), denn: Glauben und Hoffnung erreichen Gott, insofern uns von ihm etwas zukommt, nämlich die Kenntnis des Wahren (“cognitio veri”) und die Erlangung des Guten (“adeptio boni”). “Sed caritas attingit ipsum Deum ut in ipso sistat, non ut ex eo aliquid nobis proveniat” (“Die Liebe aber erreicht Gott selbst, um in ihm zu bleiben, und nicht, damit uns von ihm irgendetwas zukommt”).

Das heißt: Die Liebe durchbricht den Kreis der Selbstbezüglichkeit und befähigt zur Selbsttranszdendenz. So wie der Solipsist dem Bewusstsein unterstellt, nur Bewusstseinsabhängiges zu erkennen, so unterstellt der Eudämonist dem Willen, nur Eigennütziges wollen zu können. Verstand und Wille bleiben jeweils ganz in sich selbst gefangen. Die Befreiung aus dieser Gefangenschaft geschieht nicht durch einen Erkenntnisakt, sondern durch einen Willensakt. Die Wahrheit, die dieses Trugbild der Gefangenschaft durchbricht, kann nicht von außen bewiesen, sondern nur von innen durch Freiheit vollzogen werden. Indem ich liebe, was aufgrund eigenen Seins liebenswert ist, widerlege ich performativ Solipsismus und Eudämonismus.

Wir sollen Gott lieben, weil er in sich das höchste Gut und deshalb aller Liebe würdig ist. Er ist absolute Wertfülle. Gleichzeitig ist er aber auch das höchste Gut für uns. Die Hildebrandsche Unterscheidung zwischen Wert und objektivem Gut für die Person verteilt sich hier nicht auf zwei verschiedene Objekte, sondern reduziert sich auf zwei Aspekte ein und derselben Wirklichkeit. In der Scholastik ist man diesem Umstand durch die Unterscheidung zwischen Material- und Formalobjekt gerecht geworden. Die menschlichen Akte werden durch die Verschiedenheit der Formalobjekte spezifiziert, auch wenn sie sich der Sache nach auf dasselbe Materialobjekt beziehen. Die Hoffnung richtet sich auf Gott, insofern er das höchste Gut für uns ist: Er ist unser Heil, das wir in der Hoffnung ersehnen und erstreben. Die Liebe richtet sich auf Gott, insofern er in sich gut ist, so dass er unsere Liebe um seiner selbst willen verdient.

Es gab in der Geschichte der aszetischen und mystischen Theologie immer wieder Tendenzen, beides auseinanderzureißen und der Hoffnung zu unterstellen, die Reinheit und Vollkommenheit der Liebe zu beeinträchtigen. Wer Gott liebe, müsse aufhören, nach dem Himmel zu streben, da dieses Streben ein Moment der Eigennutzes darstelle, das mit der reinen Liebe unvereinbar sei. Vollkommene Liebe und Hoffnung könnten, so meinte man, nicht zusammen in der Seele bestehen, denn die vollkommen liebende Seele müsse aufhören, an ihrem Heil interessiert zu sein. Das ist das Ideal des sogenannten “amour desinteressé”, das von der Kirche zurückgewiesen wurde. Ob die Lehre Fénelons, der Spaemann übrigens seine Habilitationsschrift gewidmet hat, differenzierter zu beurteilen ist, braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Aber sicherlich kann man sagen, dass die Kirche eine Grenze wahrheitskompatiblens Spekulierens markieren wollte, als sie den ihm zugeschriebenen Satz verurteilte, dass es einen Zustand der reinen Liebe gäbe, der für die Sehnsucht nach der himmlischen Belohnung keinen Platz mehr lasse (“Neque desiderium remunerationum habent amplius in eo [i.e. statu amoris Dei] partem”, DS 2351).

Die Zurückweisung des Gedankens der Möglichkeit einer realen Trennung der Liebe von der Hoffnung bedeutet aber keine Verwischung des Unterschieds ihres jeweiligen Formalobjekts und damit auch keine Depotenzierung der Motivationskraft des der Liebe eigentümlichen Beweggrunds. Bei vielen Heiligen finden wir Beteuerungen, dass sich ihre Gottesliebe allein am Gedanken an die Güte Gottes, wie er in sich ist, entzündet, ohne Rücksicht auf die himmlische Belohnung. So finden wir beispielsweise in einem Gebet des hl. Franz Xaver die Formulierung: 

“O mein Gott, ich liebe Dich; und ich liebe Dich nicht, weil Du mich rettest (...)  Nicht wegen der Hoffnung auf irgendeine Belohnung, sondern wie Du mich geliebt hast, so liebe ich Dich und werde Dich lieben: nur weil Du mein König bist und nur weil Du mein Gott bist.” Der hl. Pfarrer von Ars betete: “Ich liebe Dich, o mein Gott, und ich sehne mich nach dem Himmel, nur um das Glück zu haben, Dich vollkommen zu lieben.”

Er liebt also nicht, weil er sich davon etwas erhofft, sondern er hofft, weil er liebt. Die Liebe wird zur alles beherrschenden und motivierenden Kraft. So wie man einem Egoisten gerne unterstellt, dass er das, was nach Liebe aussieht, in Wirklichkeit nur aus Egoismus tut, so tut der vollkommen Liebende das, was nach Eigenliebe aussieht, in Wirklichkeit aus Liebe zu Gott. Der Egoist stellt Taten der Nächstenliebe in den Dienst seines Egoismus, der vollkommen Liebende integriert auch die Verfolgung legitimer Eigeninteressen in seine Gottesliebe. Weder muss er diese Interessen verleugnen, noch muss er ihnen zuwiderhandeln, um die Reinheit seiner Motivation zu retten. Vielmehr befähigt die Gottesliebe, wenn sie vollkommen ist, dazu, selbst Handlungen im Dienste des Eigeninteresses in tugendhafte Akte der Gottesliebe zu verwandeln. Wenn die hl. Gertrud von Helfta schlief, aß oder ihrem Körper eine sonstige Erholung gewährte, “freute sie sich, dies ganz dem Herrn zu erweisen, indem sie ihn in sich und hinwiederum sich in ihm sah gemäß der Vorschrift des Herrn, der da spricht: ‘Was ihr einem aus meinen Geringsten getan, das habt ihr mir getan.’ Was sie auf sich verwendete, glaubte sie dem geringsten der Gottangehörigen zugeeignet zu haben” (Gesandter der göttlichen Liebe, I 11). In einer Vision bestätigte ihr der Herr, dass er diesen Dienst genau so annehme.

Die Serie "Um eine Philosophie des Guten" erscheint alle 14 Tage am Dienstag um 9 Uhr bei CNA Deutsch. 

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