Immanuel Kant hat einen ganz und gar moralisch qualifizierten Begriff von Freiheit. Für ihn ist diese Freiheit nur im Zusammenhang mit dem Sittengesetz denkbar. Es ist ein doppelter Zusammenhang: einerseits Unterwerfung (ein Ausdruck, den Kant oft gebraucht), andererseits Selbstgesetzgebung. Schauen wir uns zunächst den ersten Aspekt an. Nach Kant macht uns erst die Unterwerfung unter das Sittengesetz frei. Als Sinnenwesen, d.h. als Teil der empirischen Welt, in der wir uns befinden, bedürfen wir dieser Befreiung. Wir sind nicht von Haus aus frei, weil wir als Sinnenwesen Neigungen und Interessen haben, durch welche wir der Kausalität der Natur unterworfen sind; “durch die Idee der Freiheit [trennen wir uns] von allem empirischen Interesse” (GMS AA IV, 450). Die Freiheit besteht also nicht darin, alle möglichen Interessen zu verfolgen. Das würde bedeuten, Freiheit als Eintrittsbillett in die Heteronomie und damit in ihre Selbstaufhebung zu betrachten. Warum besteht die Freiheit in der Trennung von allem empirischen Interesse? Weil “Wollen aus Pflicht” “die Lossagung von allem Interesse” bedeutet (GMS AA IV, 431). “Aus Pflicht” bedeutet “aus Achtung vor dem Sittengesetz”. Wenn diese Achtung die alleinige Triebfeder unseres Wollens und Handelns wird, setzt sie die Motivation der außermoralischen Antriebe, also der Neigungen und Interessen, außer Kraft. Freiheit besteht für Kant deshalb in der “Unabhängigkeit ihrer [sc. der Willkür] Bestimmung durch sinnliche Antriebe” (MS AA VI 213), in der “Hintansetzung aller Begierden und sinnlichen Anreizungen” (GMS AA IV, 457).

Natürlich kennt Kant auch einen außermoralischen Begriff der Freiheit. Auch der heteronom bestimmte Wille des Menschen ist insofern frei, als er von den “Bewegursachen der Sinnlichkeit” bloß affiziert, nicht aber, wie bei Tieren, “pathologisch nezessitiert” (KrV A 534) wird. Für diese außermoralische Willensfreiheit benutzt Kant das Wort “Willkür”. “Willkür” hat bei Kant nicht die heute übliche pejorative Konnotation der Grundlosigkeit und Ungerechtigkeit, etwa wenn man sich darüber beklagt, dass die Entscheidung eines Polizisten oder Richters die reine Willkür sei. Vielmehr meint er damit ganz wertneutral die Willensfreiheit bzw. den freien Willen selber, das liberum arbitrium. Den hehren Begriff der “Freiheit” verwendet Kant aber nur, wenn diese Willkür sich von sinnlichen Antrieben unabhängig gemacht hat und sich ausschließlich vom Sittengesetz bestimmen lässt. Erst dadurch wird der Mensch autonom. Autonomie bedeutet Selbstgesetzgebung. Die Unabhängigkeit von den sinnlichen Antrieben ist der negative, Selbstgesetzgebung der positive Begriff der Freiheit. Beides gehört für Kant zusammen wie zwei Seiten derselben Medaille. Für Kant steht der Mensch vor der Wahl, sich entweder dem Naturgesetz der Neigungen zu unterwerfen - dann ist er fremdbestimmt, heteronom - oder dem Gesetz seiner eigenen Vernunft, d.i. dem Sittengesetz. “Autonomie” bedeutet also, dass sich der Mensch kraft des Sittengesetzes aus der Abhängigkeit von seinen Neigungen und Interessen befreit. Eine eudämonistische oder gar hedonistische Ethik ist für Kant deshalb nichts weiter als ein System der Heteronomie.

Jetzt verstehen wir, warum Kant - wie wir in der letzten Folge gesehen haben - sagen konnte, dass der Mensch desto freier sei, je mehr er moralisch gezwungen werden könne. Damit meint er: Je mehr sich der Mensch ausschließlich durch das Bewusstsein seiner Pflicht bestimmen lässt, desto mehr befreit er sich aus der Gefangenschaft seiner Sinnlichkeit, unter derem Gesetz er zu einer “Sache”, nämlich zu einem “Spiel bloßer Neigungen” wird (MS A VI, 420).

Wenn wir das verstanden haben, sind wir gerüstet, die Thesen jener Theologen auf den Prüfstand zu stellen, die den Kantischen Autonomiebegriff in Anspruch nehmen, um gegen die katholische Lehre vom Sittengesetz zu polemisieren. Nehmen wir als Beispiel den Moraltheologen Stephan Goertz, der in Münster promoviert und habilitiert wurde und nun in Mainz lehrt. Zu dem von ihm und Magnus Striet herausgegebenen Band Nach dem Gesetz Gottes. Autonomie als christliches Prinzip (Freiburg i. Br. 2014) hat er den Aufsatz Autonomie kontrovers. Die katholische Kirche und das Moralprinzip der freien Selbstbestimmung beigesteuert (S. 151-197). Er feiert darin Kants Autonomie mit einem Wort Geert Keils als “Jahrtausendidee”, um sie gegen die katholische Moralauffassung auszuspielen. Doch wenn wir genauer hinschauen, entdecken wir, dass er Kants Autonomie teilweise ins Gegenteil verkehrt.

Er unterscheidet einen dreifachen Sinn von Autonomie. Keiner von ihnen deckt sich mit Kants Autonomiebegriff. Schauen wir uns das näher an. Die drei Weisen, wie Goertz Autonomie bestimmt, lassen sich so zusammenfassen:

  1. “Als autonom gilt, wer frei allgemeine Freiheit will” (S. 163).
  2. Die “Eigenständigkeit der ethischen Reflexion praktischer Vernunft über Gut und Böse gegenüber allen anderen Weisen menschlicher Erkenntnis” (165).
  3. Die “Autonomie einer individuellen Lebensführung” (167).

Die erste Bestimmung kommt dem Kantischen Begriff der Autonomie am nächsten. Hier führt Goertz aus, dass es die Freiheit sei, die die Würde der Person begründe. Das sieht auch Kant so: “Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur” (GMS AA IV, 436). Der entscheidende Unterschied ist, dass Goertz es versäumt, diese Freiheit moralisch zu qualifizieren. Das Sittengesetz spielt in seinen Überlegungen keine Rolle, es geht nicht in die Definition der Freiheit ein. Er unterscheidet nicht eine durch Moralität gewonnene Freiheit von der Willkür im Kantischen Sinne. Das Hauptthema des Kantischen Denkens, nämlich die beschriebene Etablierung eines durch das Sittengesetz ermöglichten Freiheitsbegriffs, der die menschliche Würde an die “Unabhängigkeit von der Macht der Neigungen” (RGV AA VI, 57) bindet, wird von ihm vollständig unterschlagen. Hannah Arendt z.B. hatte dagegen Kant noch richtig verstanden, wenn sie dessen Ansicht mit den Worten wiedergibt, dass “nur ein Wille, der frei von Neigung ist, gut und frei genannt werden” könne (Über das Böse, München 122017, S.57). Goertz ist dieser Kantische Freiheitsbegriff fremd.

Es ist letztlich ein außermoralischer Begriff von Freiheit, den er in seine Überlegungen einführt, um ihn zum einzigen maßgebenden Wert dessen zu machen, was im moralischen Handeln zu berücksichtigen sei: “Der Satz Freiheit soll sein wird zum Moralprinzip autonomer Moral” (164). Die Gegeninstanz zu dieser Freiheit ist bei ihm nicht die Heteronomie durch Neigung, sondern die Idee einer unveränderlichen Wesensnatur des Menschen. Damit verwandelt sich der Autonomiebegriff: Aus Kants Kampfbegriff gegen den Eudämonismus wird ein Kampfbegriff gegen das Naturrecht.

Das Naturrecht erscheint dann in dieser Optik als ein Hindernis für eine Freiheit, die als kreative Gestaltungskraft im Hinblick auf die menschliche Natur aufgefasst wird. Dem einzelnen Menschen wird die ihm eigene menschliche Natur im Verhältnis zur eigenen Freiheit ein Außen, etwas Fremdes und damit als normative Instanz eine Bedrohung seiner Autonomie. Das können wir schön an der Kritik erkennen, die Goertz an der Enzyklika Veritatis Splendor (VS) übt. Er wirft ihr vor, daran festzuhalten, “dass menschliche Freiheit sich selbst niemals Gesetz sein könne. Freiheit könne sich nicht durch sich selbst bestimmen (VS 46). Was nichts anderes bedeutet, als dass sie von außen bestimmt werden muss.”

Schauen wir uns an, was die Enzyklika wirklich sagt und was Goertz folglich unter dieser Bestimmung “von außen” versteht. Es heißt in VS 46:

“Im Gegensatz dazu behalten andere Moraltheologen, auf Werteerziehung bedacht, eine Sensibilität, die Freiheit in Ehren zu halten, verstehen sie aber oft in Widerspruch oder Gegensatz zur materiellen und biologischen Natur, der gegenüber sie sich Schritt für Schritt zu behaupten hätte. Dabei treffen sich verschiedene Auffassungen darin, daß sie die kreatürliche Dimension der Natur vergessen und in ihrer Integrität verkennen. Für einige ist die Natur nur noch zum Rohmaterial für das menschliche Handeln und Können verkürzt: Sie müßte von der Freiheit von Grund auf umgeformt, ja überwunden werden, da sie Begrenzung und Verneinung der Freiheit darstellte. Für andere entstünden im maßlosen Steigern der Macht des Menschen bzw. der Ausweitung seiner Freiheit die ökonomischen, gesellschaftlichen, kulturellen und auch sittlichen Werte: Natur würde all das bedeuten, was im Menschen und in der Welt außerhalb der Freiheit angesiedelt ist. Diese Natur enthielte an erster Stelle den menschlichen Leib, seine Verfassung und seine Triebkräfte: Im Gegensatz zu dieser physischen Gegebenheit stünde alles »Konstruierte«, also die »Kultur« als Werk und Produkt der Freiheit. Die so verstandene menschliche Natur könnte reduziert und wie ein dauernd zur Verfügung stehendes biologisches oder gesellschaftliches Material behandelt werden. Das bedeutet letzten Endes, die Freiheit durch sich selbst zu bestimmen und sie zu einer schöpferischen Instanz ihrer selbst und ihrer Werte zu machen. Auf diese Weise hätte der Mensch letztlich nicht einmal eine Natur; er wäre an und für sich sein eigenes Daseinsprojekt. Der Mensch wäre nichts weiter als seine Freiheit!”

Goertz stört sich also daran, dass die Enzyklika einen Freiheitsbegriff zurückweist, der die menschliche Natur als Begrenzung der Freiheit versteht und die Freiheit selber als eine Instanz, die unabhängig von der menschlichen Natur wertschöpferisch ist, also aus eigener Autorität bestimmt, was “gut” und “böse” sei.

Die Aussage, dass Freiheit sich durch sich selbst bestimme, ist zweideutig. Man könnte sie richtig verstehen, nämlich in dem Sinne, dass der freie Wille sich selbst zum Wollen und Handeln bestimmt, er also im thomistischen Sinne die Herrschaft über seine Akte hat: “Sola creatura rationalis habet dominium sui actus, libere se agens ad operandum” - “Allein das vernunftbegabte Geschöpf hat die Herrschaft über seine Akte, indem es sich selbst frei zum Handeln bewegt” (Thomas von Aquin, SG III, 111). Der Gegensatz dazu ist jedes Konzept eines Determiniertseins von außen, also z.B. das Getriebenwerden der Tiere durch ihre Instinkte, erst recht das passive Bewegtwerden lebloser Dinge, aber auch die naturalistische Auffassung unseres Handelns als physisch determiniert durch unsere Gehirnaktivitäten. Wenn z.B. Saskia Wendel diese Auffassung mit den Worten beschreibt: “Der Mensch wird nicht mehr als singuläres, autonomes Ich verstanden, sondern als ein durch neurobiologische Prozesse determiniertes Wesen” (Nicht naturalisierbar: Kants Freiheitsbegriff, in: Essen, Striet (Hg.), Kant und die Theologie, Darmstadt 2005, 14), dann verwendet sie einen Autonomiebegriff, der ganz und gar mit Thomas und mit Veritatis splendor kompatibel ist.

Bei Goertz ist es nicht so. Er stört sich daran, dass gemäß der Enzyklika die Freiheit keine “schöpferische[n] Instanz ihrer selbst und ihrer Werte” sein soll. Damit bekommt seine Auffassung, dass die Freiheit gesetzgeberisch sei, einen fatalen Sinn, der auch nicht mehr mit Kants Auffassung übereinstimmt. Wenn Kant von Selbstgesetzgebung spricht, dann meint er die Gesetzgebung der Vernunft. Die aber ist bei allen Menschen, ja bei allen Vernunftwesen dieselbe. Wenn Kant den Kategorischen Imperativ als ein Faktum der Vernunft bezeichnet, dann will er das moralische Gesetz gerade nicht zu einem Produkt individueller Freiheit machen. Es entspringt vielmehr der überindividuell gedachten Vernunft, der “Vernunft überhaupt” (Karl Jaspers, Die großen Philosophen, 486), der “Struktur der Vernunft” (Dieter Henrich, Ethik der Autonomie), “der Vernunft selbst”, an der wir, wie Herbert Schnädelbach es so schön ausgedrückt hat, “als vernunftbegabte Wesen teilhaben” (Schnädelbach, Kant. Eine Einführung, Reclam 2018, S. 108). Kant selber spricht - wenn auch in anderem, aber durchaus übertragbarem Zusammenhang - von einer “Natur der Vernunft”. So wie die Vernunft in ihrem Sosein dem Einzelnen vorgegeben ist, so auch das Sittengesetz. Deine Vernunft gibt dir kein anderes Gesetz als meine Vernunft mir. Für uns beide gelten die moralischen Imperative, nicht zu lügen, nicht zu morden, nicht zu stehlen usw. Freiheit besteht nicht darin, diese Gebote zur Disposition zu stellen, sondern den moralischen Standpunkt einzunehmen, der sich mit ihnen identifiziert und erkennt, dass diese Identifizierung nicht Fremdbestimmung, sondern Selbstbestimmung ist.

Die Rede von der sich selbst bestimmenden Freiheit ist also durchaus zweideutig, und Goertz bedient sich dieser Zweideutigkeit, wenn er einerseits die lehramtliche Kritik an einer selbstherrlichen Freiheit zurückweist, andererseits dort, wo es ihm passt, dann doch wieder “die unbedingte Geltung sittlicher Ansprüche” (194) behauptet. Das muss nicht unbedingt eine bewusste Strategie sein, sondern könnte auch auf mangelnde Reflexion zurückgehen. Der Ausfall der nötigen Reflexion auf die beschriebenen Differenzierungen im Gebrauch der Begriffe von Freiheit und Selbstgesetzgebung ist jedenfalls auffallend. Aber er ermöglicht auch die Situation, dass in seinem Text neben den geschilderten Fehlgriffen schöne Passagen mit wertvollen Einsichten zu finden sind, auf die wir das nächste Mal eingehen.

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